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Martin Quill
Bach-Handschrift in der Staatsbibliothek

Die Feierstunde begann mit Choral, Rezitativ und Arie, mit Glückwünschen und der Beschwörung der Geschichte und endete mit einer bedrückenden Zustandsbeschreibung und Forderungen an die Politiker. Anlaß der Zusammenkunft im »Lessing- Saal« der Staatsbibliothek zu Berlin- Preußischer Kulturbesitz am 9. Oktober 1996 war die Übergabe der Originalpartitur der Kantate von Johann Sebastian Bach »Ach Gott, vom Himmel sieh darein« an die traditionsreiche Schriftensammlung und ihre Musikabteilung. Die Musik über einen Choral von Martin Luther, die Bach im Jahre 1724 für Soli, Chor, Posaunen, Oboen, Streicher und Continuo geschrieben hatte, war im Mai für 1,3 Millionen Mark nach heftigem Bietgefecht bei Sotheby's in London ersteigert worden. Trotz großer Sparzwänge und Streichung von Ankaufsmitteln habe sich die Schriftensammlung zu dem Wagnis entschlossen, den Kauf des auf dem freien Kunstmarkt angebotenen, hochrangigen Kulturobjekts vorzufinanzieren und sich anschließend um Sponsoren zu bemühen, sagte der Generaldirektor der Staatsbibliothek Antonius Jammers.

Mit sechsstelligen Beträgen seien das Bundesinnenministerium, die Kulturstiftung der Länder, die Siemensstiftung und die Firma Daimler- Benz eingesprungen. Da der Gesamtbetrag noch nicht beglichen ist, werden weitere Sponsoren gesucht.
     Die zwölfseitige Partitur war schon einmal, im Jahre 1917, der damaligen Königlichen Bibliothek zu Berlin zusammen mit weiteren Bach- Autographen angeboten worden. Doch entschied sich die damalige Leitung mit Blick auf die bereits zahlreich vorhandenen Noten von Johann Sebastian Bach und seinen Söhnen, auf den Ankauf zu verzichten und statt dessen Noten von Georg Friedrich Händel zu erwerben, der nur mit drei Handschriften an der Spree vertreten war.
     Der jetzige aufsehenerregende Ankauf setzt nach Worten des Leiters der Musikabteilung der Staatsbibliothek, Helmut Helt, Bachforscher in den Stand, den Kompositionsvorgang nachzuvollziehen. Da sich die Blätter in »keinem guten Zustand« befinden, werden nur ausgewählte Experten für kurze Zeit die Originale zu Gesicht bekommen. Jammers zufolge biete sich die Kantate nicht nur in der Endgestalt dar. In Skizzen, Entwürfen und Revisionen lasse sich das Werden eines größeren Vokalwerkes des Thomaskantors exakt verfolgen, eine große Seltenheit in der Quellenüberlieferung zu Bachs Werk.
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Der für das Thema »Beutekunst« im Bundesinnenministerium zuständige Ministerialdirigent Waldemar Ritter wies darauf hin, daß sich zur Zeit in der Jagiellonen- Bibliothek zu Krakau zwölf Autographen von Johann Sebastian Bach sowie zahlreiche weitere eigenhändige Partituren von Mozart, Beethoven, Mendelsssohn Bartholdy befinden, um deren Rückgabe sich die Bundesrepublik Deutschland bisher vergeblich bemüht hat. Das Auseinanderreißen der bedeutenden, über Jahrhunderte gewachsenen Musikalien- Sammlung sei von großem Nachteil für die Forschung. Die Aufbewahrung der Autographen in Krakau könne endgültig sein, die Ungeduld über die schleppend verlaufenden Verhandlungen mit der polnischen Regierung stoße zunehmend auf Unverständnis. Es gebe keinen moralischen und rechtlichen Grund dafür, so Ritter, auch die Handschriften von Luther, Goethe, Bach und anderen Personen wie »Handelsgegenstände« zurückzuhalten. Deutschland habe als Zeichen des guten Willens den Posener Goldschatz an Polen zurückgegeben, ohne daß sich Warschau davon beeindruckt zeigt und seinerseits initiativ wurde.
     Warschau hat es bisher abgelehnt, die Bestände zurückzuführen, und verweist auf die immensen Schäden, die die Deutschen im okkupierten Polen angerichtet haben. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz gibt die Hoffnung auf Rückgabe von der Staatsbibliothek gehörenden mittelalterlichen Handschriften und Autographen, der Sammlung Varnhagen von Ense sowie von Manuskripten der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm, der Dichter Jean Paul und Adelbert von Chamisso sowie des Weltreisenden Alexander von Humboldt nicht auf.
Die Verluste aufgrund von Auslagerungen in Schlesien schlugen tiefe Schneisen in den Bestand der Musikabteilung und beeinträchtigen den wissenschaftlichen Wert der Sammlung. Die im Kloster Grüssau ausgelagerten Handschriften und Noten, die sich jetzt in der Jagiellonen- Bibliothek zu Krakau befinden, sind katalogisiert, andere Bestände werden in Moskau und Sankt Petersburg vermutet.
     Der Berliner Sammlung »Johann Sebastian Bach und seine Familie« fehlen zwölf Signaturen, darunter acht Kantaten, das Klavierkonzert A-Dur BWV 1055, das Konzert für zwei Violinen in d-Moll. Nach Krakau gelangten 109 Mozart- Autographen und 22 Beethoven- Autographen, des weiteren Notenhandschriften aus den Nachlässen Cherubini, Meyerbeer, Loewe, Mendelssohn Bartholdy, Busoni und von anderen Komponisten. In der Jagiellonen- Bibliothek liegen ferner kostbare Musikdrucke des 15. bis 18. Jahrhunderts, Libretti aus dem 17. Jahrhundert sowie mittelalterliche Musikhandschriften. Von der berühmten Amalienbibliothek, der Musiksammlung einer Schwester König Friedrichs des Großen, fehlen Konzerte und Opernhandschriften der Gebrüder Graun.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 12/1996
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