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Singende, klingende Stadt

Ein Musikfest des Berliner Sängerbundes

Es waren rund 60.000 Besucher, die am 15. September 1996 der Einladung des Berliner Sängerbundes zu seinem Musikfest »Singende, klingende Stadt« folgten. An der Wiege Berlins, rund um das historische Nikolaiviertel, führten über 100 Chöre aus Berlin sowie Gastchöre aus Brandenburg und Polen Musik der unterschiedlichsten Genres auf. Der Berliner Sängerbund, Dachorganisation von 210 Chören mit mehr als 10000 Mitgliedern, wollte mit diesem anspruchsvollen Vorhaben den aktuellen Leistungsstand vermitteln und die Begeisterung der Sängerinnen und Sänger für das gemeinsame Musizieren unter Beweis stellen.
     Das Musikfest fand während der 46. Berliner Festwochen statt und stand unter der Schirmherrschaft des regierenden Bürgermeisters. Es war eine gute Idee des Berliner Sängerbundes, die Konzerte, ihrem Charakter entsprechend, an historischen Spielstätten anzusiedeln. In der Nikolaikirche, dem aus dem 13. Jahrhundert stammenden ältesten Gotteshaus Berlins, sangen die Chöre Alte Musik, also Literatur des Mittelalters und der Renaissance. Die Nikolaikirche ist ja ein besonders geschichtsträchtiger Ort, denn hier wirkten nicht nur die Kirchenliedautoren Paul Gerhardt (1607-1676) und Johannes Crüger (1598-1663), hier erfolgte auch 1809 die Amtseinführung des nach hundert Jahren erstmals gewählten Magistrats, und schließlich fand am 11. Januar 1991 an dieser Stelle die konstituierende Sitzung des Gesamtberliner Abgeordnetenhauses statt. Heute beherbergt das Gebäude ein Museum.
     Vor dem Portal der Nikolaikirche, zwischen Bärenbrunnen und Knoblauchhaus, befand sich die Bühne der Kinder- und Jugendchöre. Der Berliner Sängerbund widmet seinen jüngsten Mitgliedern

besondere Fürsorge, was unter anderem in differenzierten Maßnahmen der Anleitung, Fortbildung und finanziellen Unterstützung zum Ausdruck kommt.
     Im Kurfürstenhof, zwischen Poststraße und Spreeufer, erklangen deutsche und internationale Volkslieder. Er ist benannt nach Kurfürst Johann Sigismund (1572-1619), der hier, geflohen vor der »Weißen Frau« des Schlosses, in den Armen seines Kammerdieners Anton Freitag verstarb. Auch ein gewisser Giovanni Casanova (1725-1798) logierte hier im später eingerichteten Hotel »Zu den drei Lilien«.
     Geistliche Chormusik im Rahmen der »Singenden, klingenden Stadt« erwartete den Besucher in der Marienkirche. Sie ist die zweitälteste Kirche Berlins, 1292 erstmals urkundlich erwähnt, im Gegensatz zur Nikolaikirche noch heute als Gotteshaus genutzt. Ihre Akustik ist für Orgel- und Chormusik besonders geeignet. Erwähnenswert sind auch die zahlreichen Kunstschätze, so die Reste eines Totentanzes von 1884 und die 1702/03 aus weißem Marmor geschaffene Kanzel des Berliner Bildhauers und Baumeisters Andreas Schlüter (1660-1714).
     Chormusik des 20. Jahrhunderts stand in der Parochialkirche, in der Klosterstraße unweit der Ruine des Grauen Klosters gelegen, auf dem Programm. Es ist ein Verdienst der hier tätigen »Gesellschaft von Kultur an der Parochialkirche«, ein Forum für die zeitgenössische Kunst geschaffen zu haben, das allgemeine Anerkennung genießt.
     Das Gotteshaus wurde 1695-1702 erbaut und ist 1944 bei einem Bombenangriff bis auf die Umfassungsmauern ausgebrannt. Der Wiederaufbau ist noch immer nicht vollendet.
     Klassische und romantische Chormusik bot das Sängerfest in der Friedrichswerderschen Kirche.
     Sie entstand 1824-1831 nach Plänen von Friedrich Schinkel (1781-1841) und dient heute als Museum, diesem bedeutendsten Berliner Baumeister des

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19. Jahrhunderts gewidmet. Schinkel, zugleich auch Architekt, Stadtplaner, Landschaftsmaler, Bühnenbildner, Innenraumgestalter und Lehrer, leistete wahrhaft Großes. Wer durch Berlin geht, trifft an vielen Orten auf seine Werke: das Alte Museum am Lustgarten, die Neue Wache Unter den Linden, das Denkmal der Freiheitskriege auf dem Kreuzberg, das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, die Schloßbrücke und das Humboldt-Schloß in Tegel. Und wer sich anderenorts umsieht, der findet zum Beispiel das Schloß Charlottenhof in Potsdam, die Schauspielhäuser in Hamburg und Frankfurt/Main, den Leuchtturm in Kap Arkona und das Schloß Granitz auf Rügen, das Rathaus in Zittau und die Burg Stolzenfels am Rhein.
     Im Hof des Marstalls musizierten am 15. September anläßlich der »Singenden, klingenden Stadt« die Berliner Musikschulen. Das Gebäude wurde 1896-1902 erbaut und diente der Unterbringung der 300 Pferde sowie der Kaleschen, Kutschen und Schlitten des Kaiserlichen Hofes.
     Im Schlüterhof des Zeughauses, benannt nach dem bereits erwähnten Künstler, befand sich das Zentrum Deutsch-Polnisch-Französischer Chormusik. Das 1706 fertiggestellte Zeughaus war der erste barocke Großbau Berlins. Die Idee dazu stammte vom Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1640-1688). Schlüter schuf die 22 Masken sterbender Krieger, die als Schlußsteine über den Erdgeschoßfenstern im Innenhof dienen.
     Die Bühne der Seniorenchöre des Berliner Sängerbundes stand im Hof der Staatsbibliothek Unter den Linden. Das neobarocke Gebäude errichtete Hofarchitekt Ernst von Ihne 1903-1914. Seit 1992 ist es zusammen mit dem Haus II in der Potsdamer Straße Bestandteil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Zum heutigen Besitz gehören 8 Millionen Druckschriften, 133000 Handschriften, 56000 Autographe, 4200 Inkunabeln (Bücher aus der Zeit vor 1500), 560000 Musikdrucke, 840000 Karten, Atlanten und Globen, 1,5 Millionen Mikrofilme und
Mikrofiches sowie 9 Millionen Bilder. Somit ist sie die größte wissenschaftliche Bibliothek Deutschlands und eine der bedeutendsten der Welt. Besonders erwähnenswert ist die Musikabteilung, die auf Anregung des berühmten Chorleiters und Komponisten Carl Friedrich Zelter (1758-1832) eingerichtet wurde.
     Jazz, Pop und Gospelgesang präsentierte das Musikfest im studentischen Ambiente der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Gebäude wurde von Friedrich II. (17. 12. 1786) für seinen jüngeren Bruder Heinrich (1726-1802) als Stadtresidenz errichtet und war neben Hofoper, Hofbibliothek und Hedwigs-Kathedrale Bestandteil des »Forum Fridericianum«.
     Ein Höhepunkt des Festivals war das »Offene Singen«, also ein gemeinsames Musizieren von Chören und Publikum. Es fand auf dem Gendarmenmarkt statt. Bis 1688 war der Platz Ackerland vor den Toren Berlins. Um 1700 wurden der expandierenden lutherischen und der französisch-reformierten Gemeinde der Hugenotten je ein Grundstück zugewiesen, wo bis 1705 die Französische Friedrichstadtkirche und bis 1708 die Neue Kirche errichtet wurden. 1730 entstanden auf Befehl des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. Stallungen für ein Regiment »Gens d'armes«, daher später der Name »Gendarmenmarkt«. 1773 ließ Friedrich II.
     die Stallungen verlegen und ein »Französisches Comödienhaus« bauen. 1780-1785 entstanden die beiden aufeinander bezogenen Turmbauten. Fortan sagte man »Französischer Dom« und »Deutscher Dom«. 1801 ließ König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) von Carl Gotthard Langhans (1732-1808) zwischen den beiden Domen einen Neubau für das Nationaltheater errichten, der 1802 fertig wurde, aber bereits 1817 wieder abbrannte. An dessen Stelle entstand 1821 das Schinkelsche Schauspielhaus. Es wurde eröffnet mit Goethes »Iphigenie auf Tauris« und erlebte kurz darauf die Uraufführung der Oper »Der Freischütz« von Carl

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Maria von Weber unter Leitung des Komponisten.
     Das Musikfest »Singende, klingende Stadt« klang aus mit der Aufführung der Cäcilienmesse des französischen Komponisten Charles Gounod (1818-1893) unter Mitwirkung von fünf Berliner und drei polnischen Jugendchören.
     Horst Fliegel
Immerhin waren nicht weniger als 50 der inzwischen 220 Mitglieder des internationalen Vereins im Spessart zusammengeströmt, um ihr Wissen über den Satiriker zu erweitern oder kritisch zu hinterfragen und ihre Bindungen zur Gesellschaft und zueinander zu vertiefen.
     Den Bezug zum Spessart lieferte der Sachverhalt, daß der haßgeliebte Zeitkritiker und Schriftsteller an die 70 Jahre zuvor mit seinen Freunden Karlchen und Jakopp das landschaftliche Kleinod durchwandert hatte - allerdings, wie sich herausstellte, mehr punktuell, da die »möpselnden« Frankenweine die Schrittgeschwindigkeit und den ungetrübten Genuß der lieblichen Umgebung ernsthaft behinderten.
     Dennoch beeindruckte die urige Gegend den ansonsten notorischen Nörgler so, daß er resümierte: »Wenn eine Landschaft Musik macht - dies ist ein deutsches Streichquartett!«
Im Gegensatz zur Berliner Vorjahrestagung, die sich mit dem schwer zu bewältigenden Thema »Tucholsky und das Judentum« herumplagte, war diesmal alles überschaubarer. Das historische Wirkungsfeld im Spessart lag um die Tagungsteilnehmer geradezu herum, wer das Verlangen danach spürte, konnte die Wirkung des Bocksbeutels nachvollziehen, und zur Abminderung der Laufstrapazen war ein bequemer bayrischer Bus angemietet worden, der konsequent die denkwürdigen Stätten ansteuerte, die die drei befreundeten Wander- und Weingesellen einst eigenfüßig berührt hatten.
     So bewunderten die Teilnehmer denn auch das in die herbstlich-warmen Konturen der 5. Jahreszeit (Tucholsky erschien diese Kennzeichnung treffender als »Altweibersommer«) geschmiegte Spukschloß, speisten im nostalgischen Wirtshaus in Lichtenau, dessen Wirt der Dichter als streng und trotzdem nicht ganz gerecht geschildert hatte und der offensichtlich auch ein paar Jahrzehnte später auf die marktwirtschaftlichen Zeichen seiner
»Reisende, weshalb fahrt ihr noch nach Bayern?«

Bericht über die Jahrestagung der Internationalen Kurt-Tucholsky-Gesellschaft vom 27.-29. September 1996 im Spessart

Tucholskys heimtückische Fragestellung und seine dringende Empfehlung, die Bayern zu meiden und das Geld besser anderen in den Rachen zu werfen, hat offensichtlich ihre Aktualität verloren. Mehr noch, sie verkehrte sich im bayrisch-oberfränkischen Spessart geradezu in ihr Gegenteil: Der Vorsitzende der Gesellschaft, der Bayer Michael Hepp, begrüßte die im bajuwarischen Familienhotel »Brunnenhof« in Weibersbrunn zur Jahrestagung angereisten Mitglieder. Er informierte über die am Wochenende zuvor im Deutschen Theater Berlin stattgefundene zweite Verleihung des Tucholsky-Preises an den Bayrischen Journalisten und gewesenen Staatsanwalt Heribert Prantl, gleich Tucholsky also aufgehörter Jurist. Damit erntete wiederum ein Bayer die Meriten der Würdigung - die Erstauflage des Preises war ein Jahr zuvor dem Bayern Konstantin Wecker zuerkannt worden.
     Last not least dankte der Vorsitzende dem rührigen bayrischen KTG-Mitglied Oskar Rummel für die akribische Aufspürung regionaler Tucholsky-Nostalgika in Vorbereitung der Jahrestagung.


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In diesem Wirtshaus hat Kurt Tucholsky übernachtet.
Zeit zu reagieren verstand. Nachdem man sich noch in das enttäuschend bescheidene Zimmer gedrängt hatte, in dem Kurt, Karlchen und Jakopp ihren Rausch ausgeschlafen hatten (»Lichtenau, Sonntag: bei uns dreien möpselt es heute heftig nach«), vertraute man sich wieder dem fahrbaren Untersatz an, der in Kloster Bronnbach seinen nächsten Anker warf (»Der Herbst tönt, die Wälder brennen, das Gold des alten Barock knallt auf weißgetünchte Mauern«). Die von Tucholsky angedrohten Mönche samt Abt waren zwar aus Kostengründen nicht mehr vorhanden, aber sonst war fast alles wie beschrieben, was dem Berichterstatter ausführlichere Darlegungen erspart.
     Ein zwanzigminütiger Stolpermarsch durch urwüchsigen 750jährigen Eichenwald mit unterschiedlichen körperlichen Nachwehen schloß das kühne touristische Unternehmen ab.
     Bereits am Vortag hatten die originellen Vorträge der Dame Stoltenberg und der Herren Huonker und Vogel dazu beigetragen, auf die kulturhistorische
Exkursion in angemessener Weise einzustimmen. Der Züricher (hört! hört!) Gustav Huonker, der seinen Beitrag in übertriebener Bescheidenheit und unter Protest des Auditoriums zur »biographischen Hausmannskost« herabdegradierte, brachte, da gerade von Landschaften die Rede war, die attraktive Tucholsky-Freundin Aline Katzenstein und andere gelungene Panoramen ins Gespräch, und der Württemberger (hört! hört!) Harald Vogel wies nach, daß der sensible Spötter (und nicht nur im Spessart) wohl mehr sich selbst als seine Reisen inszenierte.
     Soweit, so gut. Doch wenn es um Tucholsky geht, gleich in welcher Bezugsetzung, geht es immer auch um Befindlichkeiten. »Heimbuchenthal; Dienstag«, vertraute der Mann mit den fünf PS seinem Wandertagebuch an, »wie arm die Menschen hier sind!
Alle Kinder sehen aus wie alte Leute: blaß, gelb, mit trüben Augen... Manchmal, wenn Männer untereinander und allein sind, kommt es vor, daß

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hie und da einer aufstößt. Es ist sehr befreiend ...« Die Mitgliederversammlung, in die Jahrestagung eingeordnet, konnte dem Gremium mitteilen, daß die ersten beiden der vorgesehenen 20 Bände der Tucholsky-Gesamtausgabe fertiggestellt sind. Neben der Genugtuung über dieses Resultat teilten die Mitglieder die Sorge der Herausgeber, daß bei dem vom Rowohlt Verlag veranschlagten Bandpreis von 72,- DM das Anliegen, der Verbreitung der Tucholsky-Texte einen neuen Schub zu verleihen und bisher Unbekanntes zu popularisieren, wohl kaum erreicht werden kann.
     Die Vermutung liegt nahe, daß bei der Veranschlagung der Kosten wohl »typisch deutsch« herangegangen und die Mitfinanzierung der preisattraktiven Rowohlt-Taschenbücher ins Kalkül gezogen wurde (K.T.: »Der Deutsche beginnt, wie alle Welt, mit wirtschaftlichen Erwägungen ...«).
     Kurt Tucholskys Satz »Soldaten sind Mörder« aus dem Jahre 1931 erhitzte im Tagungsjahr die Gemüter wie kaum je zuvor. Die ungeteilte Anerkennung der Mitgliederversammlung galt deshalb der von Michael Hepp und V. Otto besorgten gleichnamigen Dokumentation, die es sich zur Aufgabe stellt, die lebhafte und stark emotional getragene Auseinandersetzung zu versachlichen und eine nüchterne Urteilsbildung zu erleichtern.
     (»Soldaten sind Mörder«, Dokumentation einer Debatte 1931-1996, herausgegeben von Michael Hepp und V. Otto, Ch. Links Verlag, Berlin 1996.)
Der Vorstand informierte die Mitglieder über die sich im allgemeinen Trend bewegende finanzielle Situation der Gesellschaft. Der Erhöhung der Mitgliedsbeiträge ab dem Jahre 1997 wurde mehrheit- und einsichtlich zugestimmt.
     Die für die Jahrestagung traditionelle künstlerische Umrahmung bestritten diesmal Marlis und Wolfgang Helfritsch mit ihrem Pianisten Erhard Franz vom Zimmertheater Karlshorst. Ihr mit Beifall quittiertes Bemühen war darauf gerichtet, den Publizisten als Satiriker zu präsentieren, der
sich den »kleinen Dingen« des Alltags mit ebensolcher Intensität widmete wie den großen Fragen seiner (und unserer?) Zeit.
     Die Konzeption für die Jahrestagung im Oktober 1997 in Berlin sieht vor, »Kurt Tucholsky und die Justiz« in den Mittelpunkt der Beiträge und Debatten zu rücken.
     Ich würde auch wieder nach Bayern fahren.
     Wolfgang Helfritsch

Medaillen im Zeughaus

Das Deutsche Historische Museum (DHM) im Zeughaus an der Straße Unter den Linden in Berlin besitzt eine stattliche Anzahl numismatischer Dokumente. Rund 5 000 Medaillen und Plaketten vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart und dazu eine Anzahl Münzen und Geldscheine befinden sich in der Obhut von Michael Kunzel. Er vermittelt im Heft 17 des hauseigenen »DHM-Magazins« einen Überblick über den in DDR-Zeiten vom damaligen Museum für Deutsche Geschichte angelegten Bestand. Gelegentlich sind in Ausstellungen des DHM - das führende DDR-Geschichtsmuseum wurde von ihm übernommen - charakteristische Belegstücke zu sehen. Nach einem Streifzug durch die Geschichte der Medaillenkunst, ihrer Höhenflüge sowie Zeiten der Stagnation und des Niedergangs, befaßt sich Kunzel, der durch mehrere wichtige Publikationen zur mecklenburgischen Münz- und Geldgeschichte sowie jüngst auch zur Medaillenkunde dieser Region in Erscheinung getreten ist, mit der Geschichte der Museumssammlung. Im Museum für Deutsche Geschichte spielte analog zur offiziellen marxistisch-leninistischen Sichtweise die Geschichte der Arbeiterbewegung eine herausragende Rolle. Demzufolge standen auch deren numismatische Zeugnisse in der Sammel-,


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Ausstellungs-, Forschungs- und Publikationsarbeit obenan. Was das letztlich gebracht hat, müßte noch untersucht und gesondert dargestellt werden. Ganz bestimmt kamen bei dieser Recherche historische Details ans Tageslicht, die sonst unbekannt geblieben wären.
     Das Heft zitiert Überlegungen zur Sammeltätigkeit in damaliger Sicht. Danach standen Medaillen zur Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung und des antifaschistischen Widerstandskampfes obenan. Ferner sollten Belegstücke zur DDR-Geschichte, zur Erinnerung an revolutionäre Ereignisse und »progressive« Persönlichkeiten vornehmlich in Deutschland sowie mit Bezug auf das nationale und internationale Kulturerbe gesammelt werden. In der Entwicklungskonzeption heißt es ergänzend: »Weiterhin ist die Medaille als Propagandamittel und damit als Mittel zur Geschichtsklitterung und als Mittel zur Verherrlichung reaktionärer Herrscher und Politiker zu dokumentieren, sowie Stücke, die besonders dazu geeignet sind, den Feudalismus und den Kapitalismus als Ausbeutergesellschaftsordnungen zu entlarven, zu sammeln.« Kunzel kommentiert dies als »eindeutigen Wunsch«, am Museum für Deutsche Geschichte eine »nahezu thematisch unbeschränkte Kollektion deutscher Geschichtsmedaillen zusammenzubringen«.
     Helmut Caspar

Françoise Tillard
Die verkannte Schwester

Die späte Entdeckung der Komponistin Fanny Mendelssohn Bartholdy

Kindler Verlag, München 1994

Daß mancher Sohn im Schatten seines berühmten Vaters leben muß, daß so manche Ehegattin unbekannt hinter ihrem um so bekannteren Mann steht - das ist nicht selten und findet kaum Beachtung.
     Daß sich eine Frau jedoch gleich gegen drei Männer durchzusetzen hatte, wenn sie ein Stückchen eigener Persönlichkeit leben wollte, das ist schon beachtens- und erwähnenswert. Wenn sie etwas Kluges sagte, war sie die Enkelin des Philosophen Moses Mendelssohn; zeigte sie künstlerisches Interesse, war sie die Gattin des Malers Wilhelm Hensel; und schuf sie gar selber Musik, war sie die Schwester des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy.
     Damit sie in diesen Beziehungen ihre Rolle - besser wohl: Nebenrolle - ja nicht vergaß, hatte ihr Vater, der Bankier Abraham Mendelssohn Bartholdy, ihr frühzeitig eingeschärft, daß die Musik für sie - im Gegensatz zu ihrem Bruder Felix - »stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Thuns werden kann und soll«. (S. 65)
Die Biographie der Fanny Hensel, geborene Mendelssohn Bartholdy (1805-1847), ist daher nicht leicht zu schreiben. Die französische Musikwissenschaftlerin und Pianistin Françoise Tillard hat dafür den Weg gewählt, »von den Menschen zu sprechen, die ihr lieb und teuer waren«, und auf diese Weise die Welt der Fanny Hensel vor ihrem Hintergrund zu erfassen. »Die Mendelssohns sind vor allem ein Clan, ein Kreis, und Fanny wurde nach und nach zu dessen Herz und Mitte«, heißt es erklärend in der Einleitung. (S. 17)
Ganz im Sinne eines solchen Konzepts wird in


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   109   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
der Biographie Fanny Hensel in immer neuen Beziehungen gezeigt: im Kreise der Großfamilie, im Verhältnis zu ihrem Bruder, in der Ehe mit Wilhelm Hensel, in ihrer eigenen kleine Familie, innerhalb des geistigen Lebens Berlins. Auf diese Weise gelingt es, die innere Dynamik und Vielschichtigkeit, aber eben auch die Grenzen des Lebens der Fanny darzustellen.
     Fanny Hensel, geboren am 14. November 1805 in Hamburg und 1816 mit ihren drei Geschwistern Felix (1809-1847), Rebecka (1811-1858) und Paul (1812-1874) getauft, verbrachte den größten Teil ihres Lebens in Berlin. Nach einigen Wohnungswechseln bezog die Familie Mendelssohn Bartholdy das Haus Nr. 3 in der Leipziger Straße. Hier, im Gartenhaus, wohnte später auch die Familie Fanny und Wilhelm Hensel.
     Fanny erhielt eine gediegene Ausbildung, wurde mit ihrem Bruder Mitglied der von Karl Friedrich Zelter geleiteten Singakademie und hatte im Rahmen des Freundeskreises der Familie Umgang mit den Brüdern Humboldt, mit Heinrich Heine, dem Historiker Johann Gustav Droysen, dem Dichter Ludwig Robert, einem Bruder von Rahel Varnhagen, mit dem Juristen Eduard Gans, dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und später auch mit Clara und Robert Schumann. Am 3. Oktober 1829 heiratete sie den Maler Wilhelm Hensel (1794-1861), Mitglied der Akademie der Künste, seit 1831 Professor für Historienmalerei und berühmt durch seine vielen Porträtzeichnungen Berliner und anderer Persönlichkeiten seiner Zeit. Am 16. Juni 1830 wurde ihr Sohn Sebastian Ludwig Felix geboren. 1839 kam es für die Hensels zu einem »glücklichen Zwischenspiel«: Sie verbrachten ein Jahr in Italien und erfüllten sich damit einen lange gehegten Wunsch. 1840 wieder in Berlin, engagierte Fanny sich vor allem für die »Sonntagsmusiken«, die im Salon ihrer Mutter Lea Mendelssohn Bartholdy regelmäßig veranstaltet wurden. Hier erklangen auch viele ihrer eigenen Kompositionen
zum erstenmal. Am 14. Mai 1847, mitten in den Proben zu einer solchen Sonntagsmusik, starb Fanny.
     Es ist sicher nicht verwunderlich, daß die Biographin der Beziehung der beiden musikalischen Geschwister Fanny und Felix ihr Hauptaugenmerk widmet und daß das Leben und Wirken von Felix Mendelssohn Bartholdy manchmal geradezu übermächtig die Biographie der Fanny bedrängt und überschattet. So war es wohl auch in der wirklichen innigen Beziehung der beiden Geschwister. Den plötzlichen Tod von Felix am 4. November 1847, nur wenige Monate nach Fannys Tod, kommentiert die Autorin denn auch mit der Bemerkung: »Als könnte er das Leben ohne sie nicht ertragen ...« (S. 17)
Ein wenig unverständlich ist es, daß in der vorliegenden Biographie das musikalische Schaffen der Fanny Hensel so überaus knapp behandelt wird. Zwar findet man durchgängig Hinweise auf die eine oder andere Komposition, und im Anhang gibt es eine Zusammenstellung der Werke. Aber die beiden inhaltlichen Abschnitte »Fanny Hensels Musik« (S. 219-229) und »Die ersten Veröffentlichungen« (S. 327-337) bieten einfach zu wenig Raum für eine etwas ausführlichere Erörterung des musikalischen Schaffens von Fanny Mendelssohn Bartholdy, ihrer Kammermusik und ihrer Lieder. Einzig dem Trio in d-Moll für Klavier, Violine und Violoncello
als ihrem »Meisterwerk« wird eine ein wenig längere Interpretation gegeben. (S. 333) Insofern handelt es sich mehr um eine späte Entdeckung des L e b e n s der Fanny Hensel und nicht - wie im Untertitel angekündigt - um die Entdeckung der K o m p o n i s t i n Fanny Mendelssohn Bartholdy.
     Der dem Band beigefügte Bildteil ergänzt die Biographie nicht nur vortrefflich, sondern vermittelt zugleich auch einen Einblick in die Darstellungsart von Wilhelm Hensel, von dem die meisten der Porträts stammen.
     Eberhard Fromm

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   110   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattArtikelanfang
regelmäßigen Sonntagskonzerten, die sie in ihrem Haus gab, aufgeführt. Ihre Kompositionen waren stets Gegenstand eines kritischen und selbstkritischen Dialogs mit Bruder Felix. Nach ihrem Tode blieben sie im Besitz ihres Mannes bzw. ihres Sohnes Sebastian, bis sie sich dann unter den späteren Nachkommen weiter verteilten.
     Der vom Leiter des Mendelssohn-Archivs Hans-Günter Klein bearbeitete Katalog umfaßt alle Autographe und Abschriften der Werke Fanny Hensels, die im Besitz des Mendelssohn-Archivs und der Musikabteilung der Berliner Staatsbibliothek sind. In der Einleitung wird auf die Geschichte der Erwerbungen hingewiesen. Ein Überblick über die vorhandenen Sammlungen läßt den Schluß zu, daß mit dem vorgelegten Katalog »der größte Teil von Fanny Hensels Kompositionen nachgewiesen« worden ist (S. XVI). Der Katalog gliedert sich 1. in den Nachweis des Bestandes des Mendelssohn-Archivs (S. 1-95) und 2. in den Nachweis des Bestandes der Musikabteilung (S. 97-102). Die Autographen und Abschriften werden detailliert beschrieben. Die den Handschriften entnommenen Eintragungen sind kursiv hervorgehoben. Gesonderte Verzeichnisse - ein kleines Literaturverzeichnis, ein Personenverzeichnis mit gesondertem Ausweis der von Fanny Hensel genutzten Textdichter, ein Verzeichnis neuerer Sammelausgaben von Hensel-Werken sowie ein Werkverzeichnis, gegliedert nach Opus-Zahlen und nach Gattungen - unterstützen die Arbeit mit dem Katalog. Der mit dem Katalog nachdrücklich geführte Nachweis, daß in Berlin das kompositorische Schaffen von Fanny Hensel in selten konzentrierter Form vorliegt, sollte die musiktheoretische Forschung und die musikalische Entdeckung beispielsweise des reichen Liedschaffens der Fanny Hensel für einen breiteren Kreis herausfordern.
     Eberhard Fromm
Die Kompositionen Fanny Hensels in Autographen und Abschriften aus dem Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz Katalog, bearbeitet von Hans-Günter Klein.
     Verlegt bei Hans Schneider, Tutzing 1995

Der Herausgeber der »Musikbibliographischen Arbeiten«, Rudolf Elvers, ergreift in diesem 13. Band zum erstenmal die Gelegenheit, den einleitenden Bemerkungen des Bearbeiters noch ein eigenes Vorwort voranzustellen. Und er erklärt dies auch mit seinem ursprünglichen Plan, selbst diese Arbeit vorzulegen - und zwar als Eröffnungsband der ganzen Reihe. Denn Rudolf Elvers hat bereits frühzeitig auf die Kompositionen der Fanny Hensel hingewiesen und damit Beschäftigungen mit der Komponistin initiiert, die er heute eher kritisch bewertet. Das Vorwort nutzt er daher für eine nachdrückliche Empfehlung einer gründlichen Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Fanny Hensel. Zugleich unterstreicht er die Bedeutung der Komponistin, auch und gerade in bezug auf Berlin.
     Schon früh wurden die beiden Geschwister Mendelssohn an die Musik herangeführt und hatten namhafte Lehrer: Marie Bigot in Paris, Ludwig Berger und Karl Friedrich Zelter in Berlin.
     Bei aller musikalischen Begabung der beiden stand Fanny im Schatten ihres Bruders. Fanny schrieb ihre ersten Kompositionen mit 15 Jahren. Sie schuf eine Vielzahl von Liedern, Klavier und Kammermusik, vor allem Klavierquartette und Klaviertrios. Viele ihrer Kompositionen wurden auf den

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 11/1996
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