20 Probleme/Projekte/Prozesse | Hauseinstürze durch Bauschlampereien |
Nachbargebäude auf der anderen Seite
des Unglücksspeichers, das Haus Nr. 27, brach im Anschluß an die Katastrophe noch
zusammen. Ließ wenigstens dieser Umstand auf statische Mängel schließen, so
wiegelte eine polizeiliche Untersuchung doch ab: Ursache des Unglücks seien
unsachgemäße Lagerung und Überlastung der
Kornböden im Speicher gewesen.
Wie von einer Riesenfaust getroffen Schon wenig mehr als drei Wochen später, am 20. Oktober, durcheilte um die Mittagsstunde eine neue Schreckensnachricht von einem Hauseinsturz die Stadt. In der Luisenstadt war ein ganzes Wohn- und Gewerbegebäude vom Dach bis zu den Grundmauern zusammengebrochen und hatte Dutzende von Menschen unter sich begraben. Es handelte sich um das Hinterhaus und einen angrenzenden Seitenflügel des Hauses Wasserthorstraße 27. Dort hatte es vormittags zwischen 10 Uhr und 10.15 Uhr zweimal im Mauerwerk gekracht, und nach dem zweiten Krachen war das Quergebäude, wie von einer Riesenfaust getroffen, vom Dach her unter Mitnahme eines großen Teils des Seitenflügels eingestürzt. In dem fünfstöckigen Gebäude waren zu diesem Zeitpunkt 62 Arbeitende anwesend gewesen, und in dem angrenzenden Seitengebäude - in dem der Ein- und Ausgang sowie das | ||||||
Kurt Wernicke
Hauseinstürze durch Bauschlampereien Im Jahre 1865 wurde den Berlinern angst und bange Auch die Baugeschichte Berlins ist von dem unschönen Phänomen der
Bauschlamperei nicht frei: Immer mal wieder hat es
Einstürze im Bau befindlicher oder gerade erst fertiggestellter Gebäude gegeben, und nur die spektakulärsten - wie etwa der Einsturz des Turmes vor der Neuen Kirche auf dem Gendarmenmarkt unter der
architektonischen Leitung von Carl Gotthard von
Gontard am 25. Juli 1781 - sind in die Berliner Geschichte eingegangen. Im Herbst
1865 häuften sich Einstürze von und an
Neubauten sogar in einer Art, daß den
Berlinern angst und bange wurde.
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Treppenhaus des Quergebäudes lagen
- hielt sich eine unbekannte Zahl Frauen und Kinder auf.
Arbeiter aus benachbarten Werkstätten waren die ersten Helfer am Unglücksort. Dann eilten auch Dragoner des Gardedragoner-Regiments herbei, dessen II. Schwadron ihre Kaserne in der unweit gelegenen Alexandrinenstraße hatte. Sehr schnell war aber auch, wie von den Berlinern seit ihrer Einrichtung als professionelle Institution 1851 gewohnt, die Feuerwehr zur Stelle. Unter der persönlichen Aufsicht ihres Branddirektors Carl Ludwig Scabell war sie 58 Stunden hindurch im Einsatz, um die Trümmer beiseite zu räumen, Tote zu bergen, Verschüttete aufzuspüren und zu befreien, Verletzte zu versorgen und ins Krankenhaus Bethanien zu transportieren. Am Ende dieser 58 Stunden lag eine traurige Bilanz vor: 23 Tote waren zu beklagen, und von den 37 geborgenen Verletzten schwebten einige in Lebensgefahr; tatsächlich erhöhte sich die Gesamtzahl der Todesopfer innerhalb der nächsten drei Wochen noch auf 28. Dabei wurde die siebenköpfige Familie des Tischlermeisters Mushacke, der seine Werkstatt im obersten Stockwerk des Quergebäudes und seine Wohnung unmittelbar daneben im Seitenflügel gehabt hatte, bis auf den zwanzigjährigen Sohn ausgelöscht. Wie bei solchen Katastrophen üblich, lagen wunderbare Rettungen und ausge | sprochen tragische Todesfälle dicht beisammen. So war der einzige Überlebende der Mushackschen Familie vom
obersten Stockwerk durch die Luft gewirbelt worden, aber auf einem Haufen Hobelspäne derart weich gelandet, daß er unverletzt blieb. Dagegen verlor der
Gelbgießermeister Jacob seine sechsjährige Tochter,
die ihm sein Frühstück gebracht hatte und anschließend noch auf dem Hof spielte, wo sie von Trümmergebälk erschlagen wurde, während der Vater sich aus einer Schankstube im Vorderhaus einen Krug Bier besorgte, um das Frühstück abzurunden.
Was die Aufregung der Berliner aber noch weiter beförderte, war die Tatsache, daß schon am nächsten Tag ein weiterer Einsturz bekannt wurde: Am Königstor war beim Aufbau einer Konzerthalle in dem beliebten Ausflugslokal »Schweizergarten« am Tag des tragischen Ereignisses in der Wasserthorstraße eine eben erst errichtete Mauer zusammengestürzt und hatte die dort arbeitenden Maurer unter sich begraben, von denen drei nur noch tot, die übrigen fünf schwerverletzt geborgen werden konnten. Und in der Nacht vom 21. zum 22. Oktober brach aus nichtigem Anlaß eine Begrenzungsmauer am Grundstück Wasserthorstraße 41 ein - diesmal allerdings, ohne daß mehr als ein paar Schrammen zu beklagen waren. | ||||
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Begräbnis wurde zur Massenkundgebung
Bei solcherart Verunsicherung nimmt es nicht wunder, daß das Begräbnis der
Opfer des 20. Oktober aus Wasserthorstraße
und »Schweizergarten« am 25. Oktober wie
eine Massenkundgebung ausfiel: Etwa 12 000 Personen beteiligten sich an dem
Leichenzug von der Charité zum Friedhof der
Jacobi-Gemeinde, der vor dem Hallischen Tor
östlich der Hasenheide lag. Es erregte weit
über Berlins Grenzen hinweg Aufmerksamkeit, daß an der Spitze des Trauerzuges sehr
prominente Vertreter von Staat und Kirche - Stadtkommandant Generalleutnant
Gustav von Alvensleben, Polizeipräsident Otto
von Bernuth und Konsistorialrat Johann Friedrich Bachmann - zogen, aber
vergeblich nach offiziellen Vertretern von
Magistrat und Stadtverordnetenversammlung Ausschau gehalten wurde: Der preußische
Staat, der sich gerade mit der großen Mehrheit seiner Volksvertreter im erbitterten Verfassungskonflikt befand, demonstrierte
durch Beteiligung seiner hochrangigsten
Repräsentanten in der aufmüpfigen (weil
ziemlich einhellig hinter dem preußischen
Parlament stehenden) Residenz seine demonstrative Anteilnahme an dem traurigen
Schicksal von Bürgern, deren Tod nicht ganz aus
dem Schuldkatalog des Berliner Magistrats gestrichen werden konnte ...
| bald heraus, daß die eingestürzten
Gebäudeteile auf dem Grundstück
Wasserthorstraße 27 erst zum 1. Oktober bezogen worden
waren, ihr Aufbau hatte sich im wesentlichen zwischen der Grundsteinlegung Anfang Februar und der Abnahme des Rohbaus durch eine Baukommission im August abgespielt. Und die stadtamtliche Baukommission hatte keine ernsthaften
Beanstandungen vorzubringen gehabt! Aber beim
Hinterfragen der Befugnis einer solchen Baukommission geriet die Öffentlichkeit dann doch ins Grübeln, denn die aus jeweils
zwei vom Magistrat berufenen Ratsbaubzw. Ratszimmermeistern und dem Vertreter des zuständigen Polizeireviers bestehenden Gremien hatten lediglich die Aufgabe,
nach Fertigstellung eines Baus zu prüfen,
inwiefern das Gebäude den bei der Baupolizei eingereichten Bauplänen entsprach! Es gehörte also nicht in ihren
Aufgabenbereich, die Qualität des Geleisteten im Verlauf
des Baugeschehens zu überprüfen - und
genau nach diesem Schema war in der Wasserthorstraße 27 verfahren worden.
Bei der Bauabnahme am 8. August hatte die Kommission bemängelt, daß entgegen der Bauzeichnung die Kellerdecke nicht eben, sondern gewölbt war, und sie hatte deshalb die Einfügung eines gußeisernen Stützbalkens verlangt. Hingegen war ihr entgangen, daß die das ganze Quergebäude senkrecht durchlaufende tragende Wand keine Ausbuchtungen als Auflage für die | |||||
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kontinuierlichen Kontrolle unterworfen
gewesen, weil der verantwortliche Baumeister Töbelmann - ein Bekannter des
Hauseigentümers - seinen Bruder als
Subunternehmer eingeschaltet hatte, der wiederum
einen Maurermeister Lebius als Subunternehmer heranholte, der den Bau schließlich dem Polier Flatow übertrug. Baumeister
Töbelmann erschien nur gelegentlich, um zur Eile bei der Bauausführung zu mahnen, was zu Maurerarbeiten am Fundament bei
hartem Frost im Februar/März und am Hochbau bei sengender Hitze im Juni/Juli führte.
Die extreme Sommerhitze tat ein übriges Es ist gerade die extreme Sommerhitze von 1865, die zu der Häufung von festgestelltem Baupfusch im Herbst desselben Jahres beigetragen haben kann. Die Hitze forderte höheren Wasserverbrauch auf den Baustellen, als traditionell gewohnt (u. a. auch zur Abkühlung der Bauarbeiter), aber unsere heutigen Vorstellungen von überall sprudelnden Wasserquellen aus einem öffentlichen Netz gelten für 1865 natürlich nur sehr eingeschränkt. Bei einem Baugeschehen in der Wasserthorstraße beispielsweise wurde Wasser in Fässern aus dem Luisenstädtischen Kanal geholt. Das mühevolle Heranschaffen der gefüllten Wassertonnen kostete die Baugehilfen Zeit, die für Mörtelmischen und Steinetransport abging. Also | wurde eben die Wasserzugabe beim
Mörtel sparsamer bemessen als sonst!
Darüber hinaus war jeder Bau in möglichst kurzer Zeit abzuschließen, denn die Baukonjunktur des Jahres 1865 glich einem wahren Boom. Am Jahresende wurden 1 228 Baugenehmigungen abgerechnet (zum Vergleich die Zahlen für 1864: 1 122; für 1866: 752). Polier Flatow verabschiedete sich nach einem Streit mit dem auf Eile drängenden Baumeister Töbelmann, und auch dem Subunternehmer Lebius war der Bau offensichtlich nicht geheuer, denn er zog sich nach der Bauabnahme aus dem Unternehmen zurück. Hauptauftragnehmer Töbelmann aber verbrachte den ganzen August auf Reisen und sorgte im September nur noch für das Verputzen der Fassaden. So verwundert es nicht, daß schon bald nach der Aufnahme des Gewerbebetriebs im Quergebäude am 1. Oktober die Arbeiter der parterre gelegenen Messinggießerei wie der darüber in jedem Stockwerk einzeln befindlichen Tischlereien ihre Arbeitgeber darauf hinwiesen, daß sie Risse im Mauerwerk entdeckt hätten. Der daraufhin angesprochene Baumeister Töbelmann wiegelte jedoch ab; das seien allenfalls die üblichen Setzrisse im Putz! Als er sich endlich zu einer genaueren Inspektion bequemen wollte, erreichte ihn auf dem Wege zur Wasserthorstraße schon die Unglücksnachricht. Das Berliner Kriminalgericht, das sich im März 1866 mit der Verantwortlichkeit für | |||||
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die Katastrophe beschäftigte, glaubte
dann den beiden Töbelmanns ihre diversen Ausreden auch nicht, befand sie und
Maurermeister Lebius der fahrlässigen Tötung
und Körperverletzung schuldig und sprach Haftstrafen sowie zeitweisen Entzug der
Gewerbeerlaubnis aus.
Auch bei Gelegenheit des Unglücks in der Wasserthorstraße 27 zeigte sich wieder in voller Pracht das für Wohltätigkeit offene Herz der Berliner. Im Nu wurden Spenden für die Verletzten und die Hinterbliebenen gemeldet, an belebten Plätzen der Stadt wurden Sammelbüchsen aufgestellt, die klingenden Ertrag brachten und - wie in einer Großstadt nicht zu vermeiden - auch Gauner animierten, aus der Welle des Mitleids Gewinn zu ziehen. So wurde dann eigens ein ehrenamtliches Zentralkomitee ins Leben gerufen, das Spenden befugt entgegennahm und nach dem Grad der Bedürftigkeit verteilte. Es kamen über 25 000 Taler zusammen, darunter auch eine Zuwendung von 500 Talern aus der Privatschatulle König Wilhelms I., der außerdem in einem Handschreiben der Berliner Feuerwehr seinen besonderen Dank für ihren hervorragenden Einsatz anläßlich des Einsturzunglücks aussprach und Verdienstmedaillen und Geldgeschenke an die Feuerwehrleute verteilen ließ. Der ansonsten sehr sittenstrenge Konsistorialrat Bachmann zeigte darüber hinaus ungewohnt viel Verständnis für | einen konkreten Fall von
Sittenverderbnis bei der arbeitenden Klasse: Er teilte
öffentlich mit, daß er sich selbst davon
überzeugt habe, daß der tödlich verunglückte
Tischlergeselle Helms, der in wilder Ehe gelebt
hatte, nur durch die Schwierigkeiten der geltenden Gesetze an der kirchlichen
Einsegnung seines Familienlebens gehindert worden sei - die Frau und Helms' Kinder seien also wie normale Hinterbliebene zu behandeln. Erhebliche Irritationen rief
andererseits die Großzügigkeit des
Zentralkomitees hervor, nachdem die Presse
bekanntmachte, daß es aus den wohltätigen Zwecken zugedachten Geldern auch Unterstützungsbeträge an den Hauseigentümer,
Tischlermeister Schulz, und den Auftraggeber der Jacobschen Messinggießerei,
Nähmaschinenfabrikant Böcke, zahlte - weil die
doch immerhin wegen materieller Verluste auch Leidtragende seien ...
Baupfusch erschütterte Grundfesten des Geldmarktes Der Sinn für Wohltätigkeit in der Oberklasse und den Mittelschichten verwischte allerdings nicht das verbreitete ungute Gefühl über die Bauqualität der in den letzten Jahren wie Pilze aus der Erde geschossenen Massenquartiere in den proletarischen Wohnvierteln, insbesondere denen im sogenannten Weberviertel in der Stralauer Vorstadt und in der Luisenstadt. Der Einsturz | ||||
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zweier neuangelegter Keller für Lagerbier in dem Ausflugsrestaurant »Spandauer Bock« zwischen Charlottenburg und
Spandau am 17. November goß weiteres Öl
ins Feuer.
Daher wurde an manchen Stellen beim Auftreten von Rissen im Mauerwerk - sicherlich nicht in jedem Falle unberechtigt - geradezu hysterisch reagiert: Noch in den Monaten November und Dezember 1865 wurde je ein Haus in der Teltower Straße (heute Obentrautstraße), in der Brandenburgstraße (heute: Lobeckstraße) und in der Rüdersdorfer Straße polizeilich geräumt, weil die Einwohner Risse anzeigten, und im März 1866 schloß die Polizei das Wohnhaus Dresdener Straße 100, weil beim Abriß des Nachbarhauses Nr. 101 in der Giebelwand spaltbreite Risse aufgetaucht waren. Besorgt berichtete die Presse, daß das sich ausbreitende Mißtrauen bezüglich der Güte von Wohnhausneubauten sich bereits im Sinken der Kreditrate auf zur Sicherheit angebotene Hypotheken bemerkbar mache - und solche Tendenz rüttelte ja schon an den Grundfesten des Geldmarktes, dessen wichtigster Platz in Deutschland zu werden sich Berlin eben anschickte. So wurde dann behördlicherseits auch ziemlich schnell reagiert. Schon Anfang November wurde im Einvernehmen zwischen dem Magistrat und der Regierung des Regierungsbezirks Potsdam (zu dem Berlin seit 1822 gehörte) das Polizeipräsidium um | drei fachlich versierte
Regierungsbeamte verstärkt, damit die dort bereits
vorhandenen drei Beamten im Baudepartement sich ganz der Kontrolle der vom Magistrat
berufenen Ratsmaurer- und Ratszimmermeister widmen und auch selbständige
Überprüfungen der Bonität von Baumaterial und
-ausführung vornehmen konnten. Seit Anfang Dezember 1865 stand den üblichen
städtischen Baukommissionen jeweils ein sie »dirigierender« Regierungsbauinspektor vor. Das minderte in der Zukunft ein derart gehäuftes Vorkommen von
folgenschwerem »Pfusch am Bau« wie im Herbst 1865.
Aber gänzlich ausschließen konnte es ihn
natürlich dennoch nicht.
Quellen:
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 11/1996
www.berlinische-monatsschrift.de