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und wissenschaftlicher Neigungen, hatte
berühmte Gelehrte in Berlin versammelt. Maupertuis, Euler, Lagrange, Gleditsch,
Marggraf, Achard, um nur einige zu nennen, gaben der Berliner Akademie Glanz und Ansehen, sie zogen die Blicke der gesamten gelehrten Welt auf dieses
wissenschaftliche Zentrum Preußens.
Wenn von Akademie im 18. Jahrhundert die Rede ist, so müssen auch die Preisaufgaben genannt werden. Eminent groß war ihre Bedeutung. Ein Akademiestatut ohne Verpflichtung, jährlich Preisaufgaben auszuschreiben, war undenkbar, das widersprach der Aufgabenstellung und den Grundsätzen einer wissenschaftlichen Akademie. An ihren Preisaufgaben konnte man die Akademie erkennen, ließ sich ihr wissenschaftlicher Ruf ablesen. Sie waren gleichsam der Gradmesser wissenschaftlicher Einsicht, erreichter Erkenntnisstufen, bewegender Probleme. Preisaufgaben übernahmen in einem gewissen Sinne die Funktion einer Wissenschaftsorganisation, sie haben auch das wissenschaftliche Leben sowohl an der Akademie als auch in der Öffentlichkeit nachhaltig beeinflußt. Preisaufgaben konnten zu fruchtbarer Arbeit anregen, schlummernde Potenzen erschließen, sie konnten aber auch Leidenschaften entfesseln, die Gemüter erhitzen, Parteien spalten und Fraktionen bilden, sie konnten zu ungewöhnlichen Entscheidungen führen. | |||||
Hans-Heinrich Müller
Eine heikle Preisfrage Das 18. Jahrhundert kennt viele Attribute, je nachdem, wie man das Zeitalter besichtigt. Es gilt als das Jahrhundert der
Aufklärung, man nannte es das philosophische
und pädagogische Jahrhundert und bezeichnete es als das Jahrhundert des Absolutismus.
Es war das Zeitalter des Sturm und Drangs, der Klassik, der fortschrittlichen Romantik -
der großen Epoche der deutschen Literatur.
Es war auch das Zeitalter der Akademien. Wohl fielen bedeutende Gründungen bereits
in das Jahrhundert vorher, aber ihren eigentlichen Aufschwung erlebten sie im 18.
Jahrhundert. 1)
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Der Brief Friedrichs II. vom Oktober 1777 an die Akademie | ||||||||
Wie groß war das Entsetzen der philosophischen Klasse der Preußischen Akademie, wie groß war die Erregung der gebildeten Welt, als der »aufgeklärte« König von Preußen mit einem Schriftstück die Akademie in Kenntnis setzte: »Da Unser beständiges Ziel der Fortschritt der philosophischen Aufklärung ist, so wünschen Wir, daß die Klasse für spekulative Philosophie als Preisfragen nur solche Themen ausschreibt, die interessant sind und eine Nützlichkeit haben, und daß sie anstelle der letzthin ausgeschriebenen Preisfrage, die nicht recht verständlich ist, das folgende Thema übernähme: >Ob es nützlich sein kann, das | Volk zu hintergehen<. Indem ich Gott
bitte, daß er Sie in Seinen heiligen Schutz
nehmen möge: Friedrich - Potsdam, heute, am 16. Oktober 1777.« 2)
Das war schon keine philosophische Frage mehr, die der Monarch hier verlangte, sondern ein Politikum ersten Grades - die alltägliche Praxis der Regierenden und der Feudalstaaten stand diesmal selbst zur Diskussion. Die Verlegenheit war groß unter den Akademiemitgliedern. Man tagte in Permanenz, man sprach von einem Mißgriff des Königs, man fürchtete einen Rückfall in die Zeiten seines Vaters, der bekanntlich ein banausischer Verächter von Kunst und | |||||||
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Wissenschaft war. Hatte der König gar den
Philosophenmantel abgeworfen und den Grenadierstock wieder
zum Vorschein gebracht?
Die Akademiemitglieder verkannten ihren König, oder der Monarch wußte sich ihnen nicht verständlich zu machen. Friedrich II. war ein Anhänger der französischen Aufklärung, die in Sanssouci eine Heimstatt besaß, aber nicht in der Akademie zu Hause war, an der der Geist von Leibniz und Wolff herrschte. In Frankreich war der »Volksbetrug« schon seit längerem Gegenstand diverser Veröffentlichungen. Bekannte und berühmte Philosophen, wie beispielsweise Denis Diderot oder der Baron d'Holbach, verwarfen den »Volksbetrug« als Mittel der Politik. Und hatte Friedrich II. sich nicht in sei | ||||||
König Friedrich der Große | ||||||
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nem »Antimachiavell« (1740) gegen das
Recht des Herrschers gewandt, sich im Interesse des Staates über die Gesetze
hinwegzusetzen und unerlaubte, verwerfliche Mittel zu
benutzen? Wenngleich er bei seinem Regierungsantritt schon bereute, die
Bekämpfung der Geheimpolitik der Öffentlichkeit
unterbreitet zu haben, denn »die ersten Züge auf dem politischen Schachbrett mußten ihn Lügen strafen«. 3)
Es war schließlich Jean Le Rond d'Alembert, der Friedrich II. das Thema »Ob der Volksbetrug von Nutzen ist« bereits 1769 als Preisfrage seiner Akademie empfahl, wobei er aber ergänzte, daß man die Menschen die Wahrheit lehren muß und daß es niemals von Vorteil ist, sie zu täuschen. Die Akademie würde sich mit solch einer Preisaufgabe ehrenhaft verhalten und sich vor allen anderen Akademien auszeichnen, die nur allzuviel Vorurteile in dieser Frage an den Tag legen. D'Alembert, Mathematiker, Naturwissenschaftler und Philosoph, der zusammen mit Diderot die berühmte Pariser »Encyclopédie« herausgab, wurde von Friedrich II. die Präsidentschaft der Berliner Akademie nach dem Tode des Akademiepräsidenten Pierre-Louis Moreau de Maupertuis (1759) angetragen, die dieser jedoch ablehnte. Er erklärte sich aber bereit, dem »aufgeklärten« König mit seinen reichen Erfahrungen jederzeit zu dienen, so daß er die Rolle eines »heimlichen Akademiepräsidenten« spielte. Und in seiner Korrespon | denz mit Friedrich II. wurde die Frage
nach der Zulässigkeit oder Verwerflichkeit
des Volksbetruges ausführlich und
leidenschaftlich erörtert.
Es war also keine Laune des Königs, es war ein aufklärerisches Thema, ein lang und heiß diskutiertes Problem in Frankreich, das Friedrich II. aufgriff und der Berliner Akademie aufdrängte. Nach längeren Verhandlungen mit dem König, nicht frei von Mißverständnissen, verkündete die Akademie 1780 die Preisfrage »Ob der Volksbetrug von Nutzen ist«. Die Bedenken, die die Akademie deshalb hegte, erwiesen sich als höchst überflüssig. Es war die populärste philosophische Preisfrage, die je eine Akademie gestellt hatte. »Estil utile de tromper le peuple«, wie es Friedrich II. formuliert hatte, war die Aufklärung par excellence. Insgesamt 42 Bewerbungsschriften liefen ein. Sie zeugten von dem großen Widerhall in Deutschland und in Europa. Obwohl die meisten französisch geschrieben waren, stammte die Mehrzahl der eingereichten Themen aus dem geistigen, wolffianisch gesinnten Deutschland; aber auch in Frankreich griffen so bekannte Männer wie Condorcet, Linguet, Brissot zur Feder und untersuchten das Standardproblem der Aufklärung. Zum Wettbewerb wurden schließlich nur 33 Preisschriften zugelassen, weil all diejenigen ausgeschlossen waren, die eine Kritik | |||||
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an irgendeiner der bestehenden
Regierungen enthielten. Die Preisverteilung wiederum bereitete den verängstigten und
aufgescheuchten Geistern der Akademie großes Kopfzerbrechen. Wie sollte man
entscheiden, wenn die Hälfte der
eingegangenen Preisschriften die Frage verneinte und
die andere eine Wahrheitsverschleierung für möglich hielt? Da verfielen die
Akademiemitglieder auf den rettenden Einfall des antiken Orakels, das auf verfängliche Fragen mit ja und nein zu antworten
pflegte. Und so wurden die beste bejahende Antwort, die von Friedrich Castillon kam,
und die beste verneinende Antwort, sie stammte von Rudolf Zacharias Becker, dem
Erzieher des Barons Dacheröden, gekrönt und
die Prämierung zufriedenstellend gelöst.
Friedrich II. hat sich allerdings danach nie wieder um die Angelegenheit der Berliner Akademie gekümmert.
Anmerkungen:
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3 W. Krauss: Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin 1963, S. 64 Weitere Literatur: A. Harnack: Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 2 Bde, Berlin 1990; Französische Aufklärung. Bürgerliche Emanzipation, Literatur und Bewußtseinsbildung, Leipzig 1974; I. Mittenzwei: Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie, Berlin 1980 Bildquelle:
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 11/1996
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