84   Geschichte und Geschichten   
Joachim Bennewitz
Die Enthüllung am anderen Ort

Im Jahre 1985 bereiste der indische Vizepräsident die DDR. Neben Gesprächen »auf höchster Ebene« gehörte auch ein feierlicher Akt zum Besuchsprogramm. Am 8. November wurde der Besuch zum Anlaß genommen, eine Berliner Straße nach der ein Jahr zuvor ermordeten Ministerpräsidentin des Landes zu benennen.
     Eine gewiß löbliche Tat, hatte die zu Ehrende doch nur wenige Jahre zuvor bei einem Besuch der Hauptstadt erklärt: »Mein Herz ist hier in Berlin!« Deshalb war für die Benennung auch eine Trasse ausgewählt worden, der bereits durch zwei andere Namen internationales Flair verliehen worden war. Doch das brachte die Verantwortlichen in eine mißliche Lage. Die auserkorene Straße war nicht eine der prunkvollsten, besteht sie doch zu drei Vierteln aus fadem Industriegelände oder aus Friedhöfen und einem Krankenhauspark, alle versteckt hinter hohen Mauern. Und dort, wo man die Feierstunde hätte abhalten können, weil es noch ganz passabel aussah, mußte die Protokollstrecke nach Wandlitz zu allen 24 Stunden des Tages freie und gesicherte Fahrt durch einen Arbeiterbezirk gewähren.

Irgend jemand hatte die erlösende Idee, das Straßenschild ganz woanders zu enthüllen. Vor der Kulisse der Dynamohalle, an der Ecke der damaligen Ho-Chi-Minh-Straße und der Fritz-Lesch-Straße, also eine ganze Reihe von Metern außerhalb des zu benennenden Straßenzuges, fand sich die Tribüne, der Pfahl, an dem das neue Straßenschild zu befestigen war, fanden sich die Zuschauer ein. Kaum aber, daß die Limousinen abgefahren waren, wurden auch die Transparente eingerollt und die Schilder wieder auf den rechten, den rechtmäßigen Stand gebracht. Nun allerdings nicht durch die vier Dynamosportler, die noch vor wenigen Minuten mit Schwung die verhüllenden Tücher fortgezogen hatten. Jetzt begann die Indira-Gandhi-Straße dort, wo die Lichtenberger Straße immer begonnen hatte: an dem Straßenknick neben dem Malzhaus der Brauerei. Und an dem Pfahl, an dem eben noch das neue Schild geglänzt hatte, hing wieder das eigentlich dorthin gehörende.
     Alle hauptstädtischen Blätter berichteten am folgenden Tage ausführlich und fast übereinstimmend über den Akt. Egon Krenz, der den Gast begleitet hatte, blickte dabei ganz untypisch ernst in die Kamera. Vielleicht wußte er ja von dem Schauspiel, das dem indischen Gast da vorgeführt worden war.

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 11/1996
www.berlinische-monatsschrift.de