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lichkeit, daß ein Kind, das nicht atmet, dessen Herz nicht schlägt, dessen Nabelschnur lediglich Leben aufweist, nach dem Durchtrennen der Nabelschnur stirbt, ist relativ groß. Das hat man in der DDR einfach umgangen.
     Einmal kam sogar der Bundespräsident nach Berlin, um sich um die perinatale Medizin zu kümmern. Schließlich ist jede Säuglingssterblichkeit zu hoch.
     Winston Churchill soll ja einmal gesagt haben, daß man nur der Statistik trauen kann, die man selbst gefälscht hat ...
     Eckart Elsner: Es war vor allem ein Schummeln in die eigene Tasche, was auch das zweite Beispiel beweist. Da ging es um die Erfassung der Unfalltoten. Heute wird ein Verunglückter 30 Tage beobachtet. Wenn er innerhalb dieser 30 Tage stirbt, gilt er nach internationalen Standards als Verkehrsunfalltoter. In der DDR galten statt dieser 30 Tage nur 72 Stunden, so daß man auf dem Papier besser dastand, weniger Unfalltote aufzuweisen hatte. Es gibt noch viele solcher Beispiele, die zeigen, wie weit man in DDR-Zeiten von internationalen Maßstäben entfernt war. Hier mußte natürlich vieles neu aufgebaut werden.
     Ihre Behörde hat ja ihren Teil zum Zusammenwachsen der Stadt beigetragen. Sie sind vom Westteil der Stadt in den Osten gezogen, vom Fehrbelliner Platz nach Alt-Friedrichsfelde, sogar in ein erheblich belastetes Haus. Ging das ohne Schwierigkeiten?

Berlin im Jahre 6 der Einheit

Eckart Elsner, Leiter der Abteilung Wirtschaft im Statistischen Landesamt Berlin, zum Zusammenwachsen der Stadt

Die Statistik ging über 40 Jahre in Berlin getrennte Wege, hatte zum Teil auch andere Inhalte. Was mußte geschehen, damit das wiedervereinigte Berlin auch wieder einheitlich statistisch erfaßt werden kann?
Eckart Elsner: In den Ost-Bezirken mußte die Statistik natürlich umgestellt werden.
     In der DDR war sie praktisch der Buchhalter des Staates. Sie hat auf totaler Basis alle Betriebe abgerechnet und nach oben gemeldet. Heute wird vieles auf Stichprobenbasis erhoben, weil man oft nicht jedes einzelne Element erfassen muß. Es kommt auf die statistische Richtigkeit an. Weiter gab es auch große definitorische Unterschiede. Beispielsweise bei der Definition der Lebendgeborenen. Die internationale Klassifikation der Krankheiten schreibt vor, auch dann noch von Lebendgeburten auszugehen, wenn das Kind nicht atmet, das Herz nicht schlägt, aber die Nabelschnur pulsiert. Das Kriterium der pulsierenden Nabelschnur galt in der DDR nicht. Dadurch gab es eine günstigere Säuglingssterblichkeit in der Statistik. Denn die Wahrschein


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Eckart Elsner: Ich war der erste, der das Areal hier besichtigt hat, als es darum ging, daß unsere Behörde in den Ostteil der Stadt zieht. Das war ja hier früher die Bezirksstelle der Staatssicherheit. Also ein von der Baulichkeit her etwa dem Ministerium der Staatssicherheit vergleichbarer Komplex. Und hier gab es ja auch wirklich alles, was Statistiker für ihre Arbeit unbedingt brauchen: eine Tankstelle, einen Bunker mit Feldbetten und Übungshandgranaten, eine Funkanlage usw. Aber Spaß beiseite. Natürlich waren wir nicht sonderlich erfreut, in ein Haus dieses Komplexes zu ziehen. Wir waren nicht dagegen, in den Ostteil der Stadt umzusiedeln, aber wir wollten in das Gebäude am Alexanderplatz ziehen, in dem auch die DDR-Statistik saß. Hier nämlich befand sich das 1862 gegründete städtische Statistikamt, das ist unser historisch angestammter Platz. Das hätte auch viele Vorteile für die Bürger gehabt, die etwas erfragen wollen, für die Mitarbeiter, die sich zentral treffen können, für die Kunden, die noch schnell auf den letzten Drücker ein Bußgeld vermeiden wollen und den Fragebogen bringen. Da hat der Standort Alt-Friedrichsfelde natürlich gewisse Nachteile. Räumlich sind wir hier allerdings sehr schön untergebracht.
     Das Statistische Landesamt arbeitet mit Kollegen aus dem West- und dem Ostteil der Stadt. Gibt es da Probleme?
Eckart Elsner: Ganz unproblematisch ist
es nicht, wenn die Kollegen aus dem Osten weniger verdienen als die aus dem Westen und dafür auch noch länger arbeiten müssen. Außer uns arbeitet in der Statistik nur noch das Bundesamt mit einer gemischten Mannschaft. Allerdings ist in Berlin die Arbeit komplizierter, denn die Daten müssen hier dreifach aufbereitet werden. Ost und West müssen ja weiter getrennt erfaßt werden, um das Aufholen des Ostens verfolgen zu können. Deshalb müssen wir einen Preisindex für Ost rechnen, einen Preisindex für West nach jeweils anderem Wägungsschema. Und dann müssen wir daraus einen Gesamtberliner Preisindex zusammengewichten, was sehr schwierig ist. In Sachsen wird nur nach Ostwägungsschema gerechnet, in Baden-Würtemberg wird nur nach Westschema gerechnet, nur wir müssen mit drei verschiedenen Verfahren umgehen. Und das bringt natürlich eine Reihe von Problemen beim Zusammenwachsen.
     Kurz nach der Vereinigung erwarteten viele Leute auch viele ganz private Vereinigungen. Wie sieht das heute mit den Hochzeiten in Berlin aus?
Eckart Elsner: Mal abgesehen davon, daß es 1995 rund fünf Prozent weniger Eheschließungen als im Vorjahr gab, hat sich auch diese Erwartung nicht bestätigt. Von den 16 383 Eheschließungen gingen nur rund vier Prozent der Paare eine Ehe mit einem Partner aus der anderen Stadthälfte

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ein. 377 Frauen aus den Ost-Bezirken heirateten einen Partner im Westen, 185 Frauen aus den West-Bezirken einen Partner im Osten. Man bleibt also noch weitgehend unter sich, was mit den doch noch recht unterschiedlichen Lebensverhältnissen zu tun haben mag.
     Und wie steht es mit der Geburtenfreudigkeit?
Eckart Elsner: Bei der Fruchtbarkeit gab es ja ganz gravierende Unterschiede. 1983 ist Ostberlin beispielsweise bei der Zahl der Lebendgeborenen bis auf 76 an Westberlin herangekommen. Die rund halb so große Stadthälfte hatte fast genauso viele Babys wie West-Berlin. Das hat sich inzwischen drastisch verändert. Die Ostberliner Fruchtbarkeit ist ganz erheblich zurückgegangen. Zur Erklärung gibt es zwei Theorien: 1. Die Ostberliner Familien haben sich den Gepflogenheiten im Westen angepaßt und verhalten sich heute genauso; 2. Die unsichere Lebenssituation hat dazu geführt, daß die Leute keine Kinder mehr bekommen. Die Wahrheit liegt - denke ich - irgendwo dazwischen.
     Wieviel Einwohner hat denn Berlin heute? Eckart Elsner: Zur Zeit leben 3,439 Millionen Menschen in der Stadt. 439 795 von ihnen sind ausländische Mitbürger. Das entspricht ungefähr einer Stadt in der Größenordnung zwischen Bochum und Dresden. Die meisten sind Türken, nämlich 137 674, und sie leben nach wie vor in

Erwerbstätige in Berlin 1989 bis 1995


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Kreuzberg. Nicht, wie manche glauben, in Prenzlauer Berg, aber ein gewisser Wandel ist dort sicher feststellbar.
     Berlin ist stets ein Industriestandort gewesen, das trifft auch für beide Teile der Stadt während der Teilung zu. Nun ist die Mauer verschwunden und das verarbeitende Gewerbe schrumpft seither ständig. Inzwischen gibt es in ganz Berlin nur noch 220 000 Erwerbstätige, darunter 207 000 abhängig Beschäftigte, 1989 waren es noch 400 000 Erwerbstätige. Hat das vielleicht auch etwas mit dem Umbau Berlins zur Hauptstadt zu tun?
Eckart Elsner: Das hat sicher viele Gründe. Es hat mit dem Standort, auch mit dem Flächenverbrauch der Industrie zu tun. Auch mit den Subventionen, die es nun nicht mehr gibt. Es war für die Berliner schon sehr bitter, daß einer der stärksten Gewerbebetriebe im Elektrobereich seinen Hauptsitz aus Berlin herausverlagert hat. Firmen wie Schering, die ihre Hauptverwaltung hier behalten haben, genießen bei den Berlinern natürlich hohes Ansehen.
     Zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts läßt sich folgendes sagen: Wir hatten 1991, das ist die erste Zahl, die wir aus dem vereinigten Berlin haben, in Ost-Berlin ein Bruttoinlandsprodukt von 21,4 Milliarden DM, heute liegt es bei 28,1 Milliarden DM.
     Im Westteil der Stadt ist es zurückgegangen, von 98, 6 auf 95,0 Milliarden DM. Man
kann sagen, im Osten geht es aufwärts, und im Westen ist es etwas abwärts gegangen. Wenn man Gesamtberlin mit den anderen Bundesländern vergleicht, zeigt sich etwas ganz Interessantes. 1995 hatte die Stadt kein Wirtschaftswachstum. Der Westteil der Stadt hatte einen Rückgang von 1,5 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt, der Ostteil hat dagegen einen Zuwachs von 5 Prozent. Was für die gesamte Stadt die Summe Null ausmacht. Trotz des Aufwärtstrends in Ost-Berlin liegen wir am Ende der Skala aller Bundesländer.
     Ein Indikator dafür, wie es einer Stadt geht, ist auch die Anzahl der Konkurse.
     Eckart Elsner: Die haben leider zugenommen. Im Westteil der Stadt gab es 1995 1010 Anträge auf ein Konkursverfahren. Im Ostteil ist - wie auch in den neuen Bundesländern - weiterhin die 1990 von der ehemaligen DDR-Regierung eingeführte Gesamtvollstreckungsordnung gültig. Danach wurde gegen 638 Schuldner dieses Verfahren beantragt, ein Jahr davor waren es 521 Anträge.
     Die meisten Unternehmenszusammenbrüche mußte das Baugewerbe mit 417 angemeldeten Verfahren verzeichnen. Davon entfielen auf den Westteil der Stadt 234, auf den Ostteil 183. Es folgten das Dienstleistungsgewerbe und der Handel.
     Wie sieht es sechs Jahre nach der Vereinigung mit dem Ost-West-Gefälle in der Stadt aus und worin zeigt es sich besonders?

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Eckart Elsner: Eine so umfassende Frage kurz zu beantworten ist schwierig. Ich möchte es an zwei Beispielen versuchen. Das erste Beispiel betrifft die Erwerbstätigkeit bzw. die Arbeitslosigkeit. Sie liegt im Juli 1996 in Berlin bei 15,5 Prozent, im Westteil sind es 15,9 Prozent, im Ostteil 14,9 Prozent. Die wesentlichen Differenzen zeigen sich zwischen den einzelnen Bezirken. So war im Mai für Zehlendorf 8,0 Pro zent Arbeitslosigkeit ausgewiesen, für Wilmersdorf 9,8 Prozent und für Steglitz 10,9 Prozent. Dagegen liegt die Quote in Kreuzberg bei 25,2 Prozent, in Neukölln bei 18,3 Prozent, in Prenzlauer Berg bei 17,5 Prozent, in Treptow bei 14,6 und in Köpenick bei rund 14,8 Prozent.
     Am höchsten ist der prozentuale Anteil der Erwerbslosen in West-Berlin bei den ausländischen Einwohnern mit 28,2 Pro

Durchschnittlicher Bruttolohn je Lohnsteuerpflichtiger in Berlin 1992 nach Bezirken


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zent. Allerdings, und damit wird das Bild deutlicher, wohnen in Ost-Berlin nur rund 38 000 Ausländer im erwerbsfähigen Alter, in West-Berlin dagegen 179 000.
     Sieht es bei den Haushaltseinkommen ähnlich aus?
Eckart Elsner: Ja, und das ist mein zweites Beispiel. Auch hier sind die Unterschiede zwischen den Bezirken besonders auffällig. So liegt das mittlere Haushaltseinkommen in Zehlendorf bei 3 800 DM monatlich, in Hellersdorf bei 3 250 DM, in Wilmersdorf sind es 3 200 DM, in Steglitz 3 150, in Marzahn 3 100, in Tempelhof 3 050 und in Reinickendorf rund 3 000 DM.
     Das heißt, es gibt unter den 23 Bezirken nur sieben mit einem durchschnittlichen Haushaltseinkommen von 3 000 DM netto und darüber. Darunter sind zwei Ostbezirke, und zwar die mit dem niedrigsten Durchschnittsalter. Am niedrigsten ist das durchschnittliche Haushaltseinkommen in vier Bezirken. Es beträgt in Mitte 2 450 DM, in Prenzlauer Berg und Kreuzberg je 2 300, in Friedrichshain 2 200 DM. Hier handelt es sich also um drei Ostbezirke und den West-Berliner Bezirk mit dem höchsten Ausländeranteil. Aber auch in Köpenick und Lichtenberg sowie Tiergarten und Wedding liegen die Haushaltseinkommen mit jeweils rund 2 500 DM relativ niedrig.
     Die Statistik kann hier - wie überhaupt - nur Daten mitteilen, die erfaßt werden.
     Daraus lassen sich die Lebensverhältnisse
nur zum Teil erkennen. Fest steht aber wohl, daß die Angleichung der Lebensverhältnisse in der Stadt eine geraume Zeit in Anspruch nehmen wird.
     Das Gespräch führte Jutta Arnold

Aus der Berliner Statistik

Am 29. Februar 1996 feierten 2 264 Berlinerinnen und Berliner, unter ihnen 217 Bürger anderer Staaten, nach vier Jahren wieder einmal Geburtstag. 69 Vierjährige erlebten ihren Geburtstag zum ersten Mal. Die ältesten Geburtstagskinder, zwei Frauen und ein Mann, sind 1904 geboren worden. Diesen seltenen Geburtstag konnten mehr Frauen (1 170) als Männer (1 094) feiern. Insgesamt haben nur sieben Promille der hier mit Hauptwohnsitz Gemeldeten am Schalttag Geburtstag: In den Jahren 1940 (164) und 1944 (165) sowie 1960 (186) und 1964 (205) wurden besonders viele Kinder geboren.

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1995 wurden in der Stadt 15 852 Wohnungen fertiggestellt. Das ist gegenüber dem Vorjahr eine Zunahme von 39,3 Prozent (4 475 Einheiten). Im Westteil wurden


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8 230 Wohnungen fertig, das bedeutet ein Plus von 23,9 Prozent. Im Ostteil waren es 7 622 Wohnungen, was einem Zuwachs von 60,9 Prozent entspricht. Die meisten Wohnungen wurden in Pankow bezugsfertig, im Westteil war Neukölln der Spitzenreiter.

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1992 gab es in Berlin 1 077 005 unbeschränkt Steuerpflichtige mit einem Gesamtbetrag der Einkünfte von 62,1 Milliarden Mark. (Zusammenveranlagte Ehegatten zählen als ein Steuerpflichtiger.) Nach berücksichtigung verschiedener Abzugsbeträge wurden insgesamt 11,4 Milliarden DM Einkommenssteuer festgesetzt. Auf die westlichen Bezirke entfielen 742 730 Steuerpflichtige mit einem Gesamtbetrag der Einkünfte von 46,9 Milliarden Mark und 9,3 Milliarden DM Steuern, auf die östlichen Bezirke 334 275 Steuerpflichtige mit Einkünften von 15,2 Milliarden und 2,1 Milliarden Steuern.

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Seit 1. Juli 1994 zählen die humanen Formen der spongiformen Enzephalopathie (Creutzfeldt-Jakob-Syndrom) zu den meldepflichtigen Krankheiten. Bis zum dritten Quartal 1995 wurden in der Bundesrepublik 40 Erkrankungen registriert, vier da

von in Berlin. Drei weitere Meldefälle traten in Berlin im November 1995 auf.

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1995 wurden nur noch 723 Fälle von Geschlechtskrankheiten gemeldet, 18 Prozent weniger als im Vorjahr. Bei den Männern war die Altersgruppe von 25 bis unter 30 Jahren mit 104 Fällen am höchsten betroffen, bei den Frauen die Altersgruppe von 20 bis unter 25 Jahren mit 45 Erkrankungen.

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Rund 846 000 Berliner lebten 1995 in Einpersonenhaushalten. Gegenüber 1991 hat damit die Zahl um 59 000 zugenommen. Der Anteil der Haushalte mit einer Person an allen Berliner Privathaushalten (1,8 Millionen) beträgt 46 Prozent. 354 000 Personen (42 Prozent) sind über 55 Jahre alt, davon 281 000 Frauen und 73 000 Männer.
     Bei den unter 55jährigen Singles gab es mit 304 000 deutlich mehr Männerals Frauenhaushalte (188 000).

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/1996
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