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Offensivkraft und andererseits an der Ostfront ein Mannschaftsbedarf, der wesentlich höher als geplant lag und daher die gnadenlos offensiv gedachte Westfront schwächte. Schon Mitte September 1914 dämmerte das Versagen des Blitzkriegsplans, und es war ein erstes Eingeständnis der Fehlkalkulation, daß v. Moltke als Generalstabschef entlassen wurde: die 1. Oberste Heeresleitung (OHL) überlebte das Scheitern des Schlieffen-Plans nicht.
     Die 2. OHL leitete mit Erich v. Falkenhayn (1861-1922) seit Herbst 1914 ein Mann, der die Dinge nüchterner sah und den strategischen Nachteil Deutschlands in einem kräftezehrenden langwierigen Krieg ins Kalkül zog. Seine Konsequenzen waren allerdings um so abenteuerlicher, denn er wollte die französische Militärkraft sich in einer verzehrenden Schlacht ausbluten lassen. Daß jedoch die im Februar 1916 eingeleitete Schlacht von Verdun die Franzosen zwar 377 000, die Deutschen aber auch 337 000 Mann kosten würde, hatte der Wahnsinnsplan nicht berücksichtigt. Die Operation mußte abgebrochen werden, weil im Juni 1916 die Engländer ihre Offensive an der Somme begonnen und die Russen die Ostfront aufgerissen hatten. Die Hölle von Verdun war also umsonst gewesen, und an der »Heimatfront« gab es unübersehbar erste Anzeichen von Widerwillen gegen den so verlustreichen Krieg.
     Den Kreisen um den Kaiser fiel nun eine
Kurt Wernicke
Start in den totalen Krieg

Die 3. Oberste Heeresleitung, ihr Anfang, ihr Ende und ihre Legenden

Das Wilhelminische Kaiserreich war in den Ersten Weltkrieg mit der Konzeption gezogen, einen kurzen erfolgreichen Krieg zu führen. Die Erfahrungen des deutsch-deutschen Krieges von 1866 und des deutsch-französischen Krieges von 1870/71, in denen diese Konzeption - 1866 glänzend, 1870/71 im wesentlichen - aufgegangen war, prägten seither die Vorstellungen des preußisch-deutschen Generalstabs. Dessen Chef Alfred v. Schlieffen (1833-1913) stellte noch 1905 einen modifizierten Blitzkriegsplan auf - modifiziert unter den Bedingungen eines inzwischen immer wahrscheinlicher werdenden Zwei-Fronten-Krieges zugleich gegen Frankreich und Rußland. Unter Schlieffens Nachfolger Helmuth v. Moltke (1848-1916) marschierte das Reich im August 1914 in den Krieg - im Prinzip mit dem Schlieffen-Plan, den Moltke ein wenig verändert hatte. Nur ca. vier Wochen lang liefen die Operationen etwa dem Plan gemäß, dann zeigte sich einerseits an der Westfront ein Erlahmen der überschätzten


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Lösung zur moralischen Aufrüstung des Volkes ein, die sowohl einen Sündenbock als auch eine symbolkräftige Mythos-Gestalt präsentierte, mit der dem Kriegs- und Siegeswillen neuer Auftrieb verliehen wurde: Falkenhayn wurde abgesetzt und am 29.August 1916 eine neue OHL berufen, an deren Spitze der bisherige Oberbefehlshaber der Ostfront, Paul v. Hindenburg (1847-1934), mit seinem Stabschef Erich Ludendorff (1865-1937) in dem eigens für letzteren neugeschaffenen Amt eines Ersten Generalquartiermeisters, rückte. Beide hatten an der Spitze der 8. Armee diese Ende August 1914 in Ostpreußen zu dem Sieg von Tannenberg geführt, der die Gefahr eines weiteren russischen Vormarschs nach Westen gebannt hatte, und sie hatten in anschließenden Schlachten die russischen Armeen von den deutschen Grenzen erheblich zurückgedrängt.

Hölzerner Hindenburg und
Nägel für den Sieg

Der fast 70jährige Hindenburg gab in seiner Erscheinung das Bild eines ehrwürdigen Hausvaters ab, der schon alles zum Guten richten werde. Seit dem ersten Jahrestag der Schlacht von Tannenberg war er mehrfach in deutschen Landen als hölzerne Skulptur präsent, in die der kriegsbegeisterte Bürger gegen einen zu entrichtenden Beitrag Nägel einschlagen durfte, um im

Endeffekt einen »Eisernen Hindenburg« zu bekommen - ein an ständige Siege erinnerndes Symbol deutscher Mannes- und Kriegerwürde (im westpreußischen Graudenz war die Figur dann auch als Ritter des Deutschen Ritterordens mit Hindenburg-Gesicht gestaltet!) und zugleich ein probates Mittel zur Beschaffung von zusätzlichem Geld zur Finanzierung des sich länger als geplant hinziehenden Krieges. Es lag in der Natur der Sache, daß die Kaiser- und Reichshauptstadt Berlin in den Dimensionen ihres »Eisernen Hindenburgs« alle anderen deutschen Orte weit zu übertreffen hatte. Nach monatelangen Vorbereitungen wurde die Kolossalstatue am 4. September 1915 auf dem Königsplatz (heute: Platz der Republik) enthüllt - sinnigerweise vor der Siegessäule in der Sichtachse der Siegesallee. Die 13,5 Meter hohe Skulptur (allein der Kopf war 1,35 Meter hoch) hatte einen mittleren Durchmesser von 3,14 Meter, und an ihrer breitesten Stelle betrug der Umfang der Figur nicht weniger als 9 Meter: begehbar für den eigentlichen Zweck - das Einschlagen von Nägeln - war sie also nur über Galerien. Das Gesamtgewicht betrug 200 Doppelzentner, von denen der größere Teil auf Erlenholz, der kleinere auf die im Innern befindliche Metallkonstruktion entfielen. Schöpfer des ominösen Kunstwerks war der als Maler und Bildhauer bis dato wenig bekannte Georg Marschall (1871-1956), ein in Charlottenburg beheima

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teter Kunstprofessor, dem allerdings 72 Holzbildhauer wochenlang zur Hand gegangen waren, um seinen Entwurf umzusetzen.
     Bei der feierlichen Einweihung der Kolossalfigur durfte die Gattin eines kaiserlichen Prinzen den ersten Hammerschlag tun und einen goldenen (zutreffender wohl: vergoldeten) Nagel mit eingeprägter Kaiserkrone eintreiben, den man für 100,- Mark an Ort und Stelle erwerben konnte (silbern aussehende Nägel waren für 5,- Mark, gewöhnliche eiserne für 1,- Mark pro Stück zu haben). Wer immer einen Nagel erwarb und in das Erlenholz einschlug, erhielt eine in den Farben des Nagels gehaltene Denkmünze am schwarzweißroten Band - so auch der erste Mann bei der Zeremonie, der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg (1856-1921), der typischerweise hinter einer Schwiegertochter des Kaisers rangierte. Täglich spielten dann auf dem Königsplatz Regimentskapellen zündende Militärmärsche, und die Berliner Schuljugend wußte den »Eisernen Hindenburg« bald zu schätzen, denn für den obligaten Besuch bei ihm mit dem vorgeschriebenen Absingen patriotisch stimulierender Lieder und den vaterländischen Ansprachen ihrer Lehrer vor dem ebenfalls obligaten Einschlagen eines eisernen Nagels pro Schüler mußte jeweils ein Unterrichtstag geopfert werden ...

Der »Siegfrieden« rückte
in weite Ferne

Der geistig wenig bewegliche Hindenburg wurde so systematisch als sieggewohnter und damit den Sieg garantierender Übervater in das deutsche Bewußtsein transportiert. Eigentliche Seele der 3. OHL aber war Ludendorff, der den Alldeutschen nahestand und kompromißlos auf einen »Siegfrieden« setzte. Er hatte aus den großen Materialschlachten von 1916 den Schluß gezogen, daß der Krieg ungeheuer materialintensiv werde. Mit dem Programm zur Vermehrfachung der Produktion von Kriegsmaterial (volkstümlich natürlich »Hindenburg-Programm« genannt) und mit dem von der OHL geforderten, vom Reichstag im Dezember 1916 bereitwillig beschlossenen »Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst« suchte die 3. OHL den Ausweg aus der auch von ihr erkannten Tatsache, daß der Krieg sich festgefahren hatte und den erstrebten »Siegfrieden« eventuell herbeiführende künftige deutsche Offensiven eine völlig neuartige Materiallage erforderten. Der »totale Krieg« - damals noch nicht so benannt, aber später von Ludendorff auch unter dieser Bezeichnung propagiert - konnte bekanntlich am Kräfteverhältnis nichts ändern und den »Siegfrieden« mitnichten herbeiführen; aber er brutalisierte den Krieg weiter und verlängerte ihn: Er machte nämlich auch die deutsche Außen


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politik zum bloßen Popanz des Ludendorff'schen Gedankengebäudes und verhinderte so jeden noch so bescheidenen Anlauf zu diplomatischen Aktivitäten, über einen Verständigungsfrieden aus dem Völkergemetzel auszubrechen.
     Erst die entscheidenden militärischen Niederlagen an der Westfront seit August 1918 stellten die Weichen für eine Erschütterung von Ludendorffs bis dahin unantastbarer Position. Als im Oktober 1918 die Reichsregierung unter ihrem neuen Reichkanzler Prinz Max von Baden (1867-1929), der wenigstens kein Geschöpf Ludendorffs mehr war, beim USA-Präsidenten Wilson wegen eines Waffenstillstands anklopfte, eilten die beiden Köpfe der 3. OHL aus ihrem Hauptquartier im belgischen Badeort Spa am

Denkmal für Paul v. Hindenburg im Tiergarten


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   26   Probleme/Projekte/Prozesse 3. Oberste Heeresleitung  Voriges BlattNächstes Blatt
25. Oktober nach Berlin, um ihren »obersten Kriegsherrn« Wilhelm II. (1859-1941; Kaiser seit 1888) dahingehend zu beeinflussen, daß er trotz der verzweifelten militärischen Lage kein weiteres deutsches Angebot zu einem Waffenstillstand gestatten möge, sofern dieser auf eine praktische militärische Kapitulation hinauszulaufen drohe. Aber der Kaiser verwies beide - Hindenburg dekorierte durch seine praktisch stumme Anwesenheit lediglich das Auftreten Ludendorffs - hinsichtlich des Waffenstillstandsersuchens an die regierungsverantwortlichen Politiker.
     Dort fand allerdings angesichts der verzweifelten Lage an den Fronten und des Zusammenbruchs der deutschen Bundesgenossen Ludendorffs unnachgiebiges Geschwafel vom Kampf bis zum Letzten keinen Widerhall mehr. Es war dann im Berliner Schloß Bellevue, wo die OHL-Häupter am Vormittag des 26. Oktober 1918 noch einmal mit dem sichtlich angeschlagenen Wilhelm II. zusammentrafen, und wo Ludendorff (während der wieder stumme Hindenburg, wenn er sich Mühe gab, aus dem Schloß Bellevue durch den herbstlich entlaubten Tiergarten bis zu seinem mächtigen »eisernen« Gegenbild blicken konnte) noch einmal auftrumpfen wollte - wo aber der Kaiser ihm seine Entlassung aussprach. Der verschlagene Allesodernichts-Ideologe Ludendorff lehnte das als Trostpflaster gedachte Angebot zur Übernahme einer Hee
resgruppe brüsk ab: So konnte er sich gerade noch vor der Verantwortung für die unausweichliche militärische Niederlage drücken und nach dem Abschluß des Waffenstillstands am 11. November alsbald der Welt mitteilen, dem deutschen Feldheer habe die »Heimatfront« einen Dolch in den Rücken gestoßen! Sein Nachfolger als Erster Generalquartiermeister wurde Wilhelm Groener (1867-1939), der am 29. Oktober den nun vakanten Posten an Hindenburgs Seite antrat. Hindenburg stellte die Autorität seines Namens noch für die halbwegs geordnete Zurückziehung der deutschen Truppen auf die im Waffenstillstand festgelegten Linien zur Verfügung und blieb Chef der erst nach Kassel, im Februar 1919 dann nach Kolberg verlegten neuen Obersten Heeresleitung bis Anfang Juli 1919.

Die Symbolfigur drückte sich

In dieser Eigenschaft wurde er am 23. Juni von Reichspräsident Friedrich Ebert (1871-1925) telefonisch befragt, ob Deutschland das bis zum gleichen Tag befristete Ultimatum zur bedingungslosen Annahme des Versailler Friedensvertrages ablehnend beantworten könne, um einem alsdann drohenden Vormarsch der großen Siegermächte ins Innere Deutschlands mit einiger Aussicht auf Erfolg militärischen Widerstand entgegensetzen zu können. Die ur


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   27   Probleme/Projekte/Prozesse 3. Oberste Heeresleitung  Voriges BlattArtikelanfang
sprüngliche große Symbolfigur für einen deutschen »Siegfrieden« drückte sich vor einer Antwort, holte Groener an den Apparat und ließ diesen für sich antworten: Militärischer Widerstand sei sinnlos und der Diktatfriede müsse angenommen werden. So konnten sich also beide Köpfe der ominösen 3. OHL vor den Konsequenzen ihres militärischen wie politischen Tuns drücken: Ludendorffs Name war nicht mit den harten Waffenstillstandsbedingungen in Verbindung zu bringen, und der von Hindenburg nicht mit dem folgenreichen Friedensvertrag.
     Am 3. Juli - fünf Tage nach der deutschen Unterschrift unter den Versailler Frieden - zog sich Hindenburg demonstrativ ins Privatleben zurück. Zu dieser Zeit fristete immer noch der »Eiserne Hindenburg« auf dem Königsplatz sein Leben - wenngleich das Nageln angesichts der deutschen Niederlage dann doch aufgehört hatte und die Treppen und Galerien um die Kolossalfigur den an Heizmaterial so armen Nachkriegswinter 1918/19 nicht überlebt hatten. Als aber Hindenburg am 18. November 1919 vor dem von der Deutschen Nationalversammlung eingesetzten Parlamentarischen Ausschuß zur Untersuchung der Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Berliner Reichstagsgebäude einen höchstwahrscheinlich von Ludendorff vorbereiteten Text aus der Tasche zog und nun sozusagen ex cathedra die von letzterem erfundene
Legende vortrug, selbst ein englischer General habe erklärt, das deutsche Feldheer sei durch einen Dolchstoß in den Rücken besiegt worden - da reichte es den republikanischen Behörden: Die Tiergartenverwaltung ließ den hölzernen Koloß in 21 Teile zerlegen, die zunächst zwischengelagert, dann aber als Brennholz verkauft wurden. Nur der Kopf des »Eisernen Hindenburg« überlebte diese Brennholzaktion. Er wanderte hin und her, landete in den 30er Jahren in der Ausstellungshalle des Museums für Luftfahrt am Lehrter Bahnhof und fiel - ein Produkt des Ersten Weltkrieges - mit der Ausstellungshalle zusammen dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer.

Bildquelle:
Archiv für Kunst und Geschichte
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/1996
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