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che Feinheit und handwerkliche Vollkommenheit auszeichnen. Ein Blatt verdient besondere Aufmerksamkeit: ein großformatiger Elfenwagen mit Blumen- und Weinranken, begleitet von zwei großen Schmetterlingen (siehe Titelbild). Er ist datiert und gibt den Namen der Künstlerin preis: Rosa Maria Assing, Hamburg 1832.
     Die übrigen Blätter enthalten neben tropischen und einheimischen, märchenhaft anmutenden Landschaften überwiegend florale Einzelmotive, die sehr kunstvoll und filigran gestaltet sind. Wir finden Heckenrosen, Eisenhut, Sumpfdotterblumen, wilde Stiefmütterchen, Kornblumen, Wein-, Stachelbeer- und Himbeerranken, Blumenkränze, -vasen und -körbe von bemerkenswerter Naturnähe, außerdem ein Vogelnest mit Jungvögeln und einem Vogelpaar auf einem blühenden Baumstück. Die plastische, reliefähnliche Gestaltung des Bildes durch das Punktieren des Baumstammes ist hier ebenso zu beobachten wie bei den großformatigen Bildkompositionen, ein charakteristisches Merkmal der Arbeiten Rosa Marias.
     Weitere Scherenschnitte fanden sich auch unter den Resten der Varnhagen-Sammlung 2) ungeordnet und mitunter beschädigt in einem leeren Heft und zwischen Büchern und Zeitungsausschnitten. Sie sind kürzlich restauriert worden und werden nunmehr, nach Motiven geordnet, in Mappen aufbewahrt. Sie sind den schon aus der großen Scherenschnittmappe bekannten Themen
Renate Schipke
Eine Künstlerin des Berliner Biedermeiers

Scherenschnitte von Rosa Maria Assing, geb. Varnhagen (1783-1840)

Unter den Papieren des Berliner Schriftstellers und Publizisten Karl August Varnhagen von Ense (1785-1858), die durch eine testamentarische Verfügung und angereichert durch den Nachlaß seiner Nichte Ludmilla Assing 1880 in die Königliche Bibliothek zu Berlin gelangten, befindet sich u. a. eine großformatige Mappe mit Scherenschnitten. Sie erweckte zuerst die Aufmerksamkeit des zeitweise an der Berliner Bibliothek tätigen Bibliothekars Joachim Kirchner, der acht Schnitte auswählte und sie in einem heute sehr seltenen Mappenwerk zusammen mit Ausführungen über die Scherenschnittkunst der Geschwister Rosa Maria und Karl August Varnhagen publizierte. 1) Dabei stellte er fest, daß diese filigranen Gebilde von meisterhafter Gestaltung als das Werk Rosa Marias anzusehen sind. Die Mappe enthält 21 meist großformatige Schnitte auf rosafarbenem Grund in nachträglich angefertigten Passepartouts, die sich durch eine außergewöhnli


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kreisen zuzuordnen: Pflanzen, Tiere, Personen, Gegenstände als Einzelmotive; Landschaften mit Personen oder Tieren als Bildkompositionen. Die Qualität der Schnitte weist deutliche Unterschiede auf. Ein Vergleich ergibt, daß uns hier Schnitte sowohl von Varnhagen selbst als auch von seiner Schwester Rosa Maria vorliegen. Es finden sich zahlreiche Einzelmotive, die Rosa Maria für ihre fertigen Bildkompositionen erneut schnitt, u. a. bei der Gestaltung des auf der Hamburger Kunstausstellung gezeigten Elfenwagens. Mitunter kann man sogar die Genese eines Motivs vom vorgezeichneten Bleistiftentwurf auf weißem Papier bis zum fertigen Schnitt verfolgen (z. B. die Darstellung eines Krokodils, das sich später in ihren tropischen Landschaften wiederfand).
     Zahlreiche Nachrichten in den Briefen, die in den Jahren von 1803 bis 1839 zwischen den Geschwistern Karl August und Rosa Maria gewechselt wurden, Äußerungen in Briefen des Varnhagenschen Freundeskreises, in den Rosa Maria fest eingebunden war, sowie Aufsätze, Memoiren und dichterisch umgesetzte Erlebnisse vermitteln uns detaillierte Vorstellungen von der Herstellungstechnik, von den geeigneten Werkzeugen, von der Geschicklichkeit der Silhouetteure und von der Wirkung, welche die Schnitte auf das staunende Publikum ausübten. Wie eine geeignete Schere beschaffen sein sollte, erfah
ren wir von Varnhagen selbst: »Sie ist nicht allzu klein, die Spitzen sind sehr genau, die Blätter kurz und schmal, die Stangen sehr lang, sie geht außerordentlich leicht auf und zu; jede anders gebaute Schere taugt nicht zum Ausschneiden, obgleich viele sich mit Unrecht an kleine Knappscheren gewöhnt haben. Da sieht man gleich, was englische Arbeit ist! Diese Schere ist nicht englisch, sie ist besser als alle, die ich mir in England selbst bestellt habe; Herr Wilhelm Turiet, der sein Gewölbe in Wien auf dem Graben zum englischen Stahldegen hat, ist der Ver

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   10   Probleme/Projekte/Prozesse Rosa Assing  Voriges BlattNächstes Blatt
fertiger, den ich allen Ausschneidern bestens empfehle.« 3) Daß ihm eine derartige Schere jederzeit zur Verfügung stand und er sehr geschickt damit umgehen konnte, dafür finden sich viele Belege.
     Den persönlichen Erinnerungen Varnhagens zufolge zeigte sich bei den Geschwistern schon frühzeitig ein besonderes Talent im Umgang mit der Schere: »Ich soll nicht viel über drei Jahre alt gewesen sein, als dieses Talent sich zu äußern anfing ... Auch meine Schwester eignete sich dasselbe mit fast gleichem Entwicklungsgange bestens an, und übte dasselbe in eigenthümlicher
Art.« 4) Rosa Maria hatte ebenso wie ihr Bruder eine gute Erziehung und Ausbildung genossen. Sie erwarb sich einen festen, klaren Charakter, gepaart mit der Fähigkeit zum Ausgleich. Sie sprach vorzüglich Französisch und besaß auch bemerkenswerte Kenntnisse im Altfranzösischen. Ihre besondere Vorliebe galt der zeitgenössischen deutschen Literatur der romantischen Schule. Sie selbst versuchte sich schon frühzeitig in Gedichten und Erzählungen. 5) Zu ihrem engeren Freundeskreis zählten Heinrich Heine, Justinus Kerner, durch den sie ihren späteren Ehemann, den Königsberger Arzt David Assing, kennenlernte, ferner Adelbert von Chamisso, Jean Paul Richter, Ludwig Uhland, Gustav Schwab. Daneben war ihr die Gabe einer ungewöhnlich präzisen Naturbeobachtung zu eigen, und ihre botanischen Kenntnisse überschritten durchaus den üblichen Wissensstand. Außerdem hatte sie sich pädagogische Kenntnisse und Fähigkeiten erworben und war nach dem Tode des Vaters für einige Zeit als Erzieherin tätig. Ihrer nach dem Zeugnis der Biographen und Freunde überaus harmonischen Ehe mit David Assing entstammten ein früh verstorbener Sohn und zwei Töchter: Ottilie und Ludmilla, die spätere Erbin des Nachlasses ihres Onkels Karl August Varnhagen. Beide Töchter liebten die Mutter

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und schätzten sie als vertrauenswürdige Freundin. Gemeinsam unternahmen sie in späteren Jahren zahlreiche Reisen. Daß auch die Töchter gewisse von der Mutter geförderte künstlerische Talente besaßen, läßt sich u. a. aus den Briefen Rosa Marias an Adelbert von Chamisso (1834-1836) ableiten, in denen sie immer wieder von dem Zeichenunterricht, in dem beide Mädchen Fortschritte machten, berichtete. 6)
     Die ihr von ihrem Bruder bescheinigte und in den noch erhaltenen Arbeiten deutlich erkennbare Begabung, ungewöhnlich vollkommene Scherenschnitte anzufertigen, schien Rosa Maria erst in späteren Jahren regelmäßig genutzt zu haben. Der von ihr eigenhändig signierte Elfenwagen (Hamburg, 1832) kann als Fixpunkt gelten. Nachrichten über ihre Tätigkeit liegen uns seit dem Beginn des Jahres 1833 vor. 7) Am 19. Januar 1833 schrieb sie an ihn: »Ich hatte seit vielen Jahren nicht mehr ausgeschnitten, da kam mir vorigen Sommer wieder auf einmal die Lust dazu, und seitdem ist mancherlei entstanden, Blumen und Früchte nach der Natur und Landschaften, die vielen Beifall finden. Ich wende dabei eine Art des Ausstechens an, die ich früher nie angebracht habe, und die zum Teil meine Erfindung ist; auch schneide ich
die Stücke, Blumen, Bäume und Figuren, einzeln aus und setze sie nachher zusammen, da die Bilder meist zu groß sind, um sie aus einem Stück zu schneiden.« In Stuttgart hatte sie auch Luise Duttenhofer kennengelernt, derer sie in ihrem Briefe gedachte: »Sie hat einiges, was ich nicht habe, Laune, Satyre, Geschick im Silhouettieren und zur Karikatur und schöne Arabesken, doch manches ihrer Art und Weise wird mir nicht schwer, mir es anzueignen. Voir c'est avoir, sagt Béranger, wogegen sie vielleicht Mühe gehabt haben würde, meine Feinheit in der Ausführung zu erreichen. Schon dadurch, daß sie alles aus doppeltem Papier

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   12   Probleme/Projekte/Prozesse Rosa Assing  Voriges BlattNächstes Blatt
schnitt, kannst du abnehmen, daß die Ausschnitte nicht sehr fein sein können, aber in Hinsicht der Zeichnung und der Idee ist manches wahrhaft geistreich und künstlerisch.« Varnhagen zeigte sich begeistert von der Kunstfertigkeit seiner Schwester und drückte das am 25. September 1835 folgendermaßen aus: »Ganz besonders muß ich dir für die schönen Ausschnitte danken, mit denen du mich aufs neue so angenehm überraschtest. Die sind ja ganz prächtig, und du treibst die Kunst immer höher.«
Besondere Beachtung verdienen die detaillierten Angaben über die eigens von
Rosa Maria entwickelte Art des Ausstechens, um die Plastizität der Bilder zu erhöhen.
     Angewendet wurde das Ausstechen (d. i.
     das Punktieren der Rückseite) insbesondere bei größeren zusammenhängenden schwarzen Flächen, beispielsweise bei Baumstämmen, Mauern, Wald- oder Wiesenstücken. Außerdem teilte sie mit, daß großformatige Bildkompositionen aus einzelnen fertigen Stücken zusammengesetzt worden sind, um das Zerreißen des empfindlichen Materials zu vermeiden. Die Schnitte besaßen offenbar einen erheblichen künstlerischen Wert, da ausgewählte Stücke wie erwähnt auf der 4. Hamburger Kunstausstellung, die am 29. März 1833 eröffnet wurde, gezeigt worden sind.
     Im Sommer des Jahres 1839 erkrankte Rosa Maria unerwartet. Sie konnte sich nicht mehr erholen und starb am 22. Januar 1840 in Hamburg, wohin sie nach ihrer Verheiratung gezogen war, tief betrauert von der Familie und allen Freunden. Ehrende Nachrufe und Einträge in biographischen und thematischen Nachschlagewerken wurden ihr zuteil, in denen neben ihren menschlichen Qualitäten immer wieder ihr geschickter Umgang mit Schere und Papier hervorgehoben wor

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   13   Probleme/Projekte/Prozesse Rosa Assing  Voriges BlattNächstes Blatt
den sind. Karl Gutzkow widmete ihr einen biographischen Lebensabriß und schrieb darin: »Die damaligen ästhetischen Anschauungen blieben in ihr die vorherrschenden und wo hat sie sie schöner verherrlicht, als in den wahrhaften Kunstgebilden, die sie mit der Scheere in ihrer zarten Hand aus Papier schnitt? Es ist vielleicht nur Wenigen bekannt, daß Rosa Maria in der Kunst des Ausschneidens ihres Gleichen suchte. Ihre schönsten Gedichte sind vielleicht ihre ausgeschnittenen Arbeiten, die auf der Hamburger Kunstausstellung Bewunderung erregten ... ein höherer Genius [führte] ihre Hand, wenn sie schwarzes Papier sich zurechtlegte und daraus Blumenstücke, Scenen aus den Tropenländern, Phantasieen aus dem Reiche Titaniens schnitt. Die sinnigsten Combinationen bewahrt sie in ihrem Portefeuille auf. In allen diesen ist die romantische Anschauung vorherrschend ... Unsre Dahingeschiedne war nicht blos Freundin, sondern auch Kennerin der Blumen. Ihre zarten Scheerengebilde sind nicht nach botanischen Werken, sondern nach der Natur geschnitten.« 8) Auch in modernen Publikationen wird ihre Kunstfertigkeit betont: »Rosa Maria Varnhagen stand im Rufe einer geschickten Silhouetteurin.« 9) Die technische Perfektion wird ebenfalls hervorgehoben, der Inhalt der Schnitte dagegen kritisch beurteilt: »Es gibt ... ein ... Mappenwerk 10) ... allein der Herausgeber muß zugeben, daß ... kaum etwas von Varnhagen selbst, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit alles von seiner Schwester, Frau Rosa Maria Assing stammt, die dasselbe Naturtalent wie ihr Bruder war. Es handelt sich dabei meist um Märchenlandschaften, auch tropischer Art, bei denen die Technik des Ausschneidens sehr gekonnt gehandhabt erscheint und die schwarzen Objekte durchwegs, darunter sehr viele minutiös geschnittene Bäume und Pflanzen, auf rosa Grund gestellt sind. Zwar ist hier die subtile Gedankenwelt bestimmter romantischer Dichtung in zarten und beflügelt erscheinenden Scherenschnitten zum Ausdruck gebracht, indes kommt das alles bei uns nicht mehr so recht an, denn es handelt sich hier um jene falsch erfundene Welt, die uns nichts mehr zu sagen hat und der gegenüber jedes Opus beispielsweise der Duttenhofer ...
     noch immer von unverminderter Anziehungskraft ist.« 11)
     Mag auch zugegebenermaßen der Inhalt ihrer Bildkompositionen nicht mehr dem Zeitgeschmack und dem modernen Lebensgefühl Rechnung tragen, Bewunderung und Hochachtung aber vor der handwerklichen Leistung und präzisen Naturbeobachtung, die sich in den floralen Motiven offenbart, verlangen uns Rosa Marias Arbeiten in jedem Falle ab.

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Quellen und Anmerkungen:
1 Silhouetten aus dem Nachlass von Varnhagen von Ense. Nach den in der Preußischen Staatsbibliothek befindlichen Originalen, hrsg. und ein geleitet von Joachim Kirchner, Berlin 1925. - Ausgewählt wurden 8 Blätter.
      2 Die Varnhagen-Sammlung wurde während des letzten Krieges in die Benediktiner-Abtei Grüssau ausgelagert und befindet sich jetzt in der Biblioteka Jagiellonska in Krakau (Polen), wo sie benutzt werden kann. Der Bestand ist in einem gedruckten Katalog verzeichnet: Ludwig Stern, Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Kgl. Bibliothek. Berlin 1911. - Die erwähnten Reste sind der Auslagerung entgangen und in Berlin im Haus Unter den Linden verblieben. Sie sind kürzlich in einem Dienstkatalog von Helga Döhn (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz) gesondert erschlossen worden. - Sammlung Varnhagen, Nr. 100 (Scherenschnitte), Nr. 101 (Reste, Vorlagen etc.)
3 Karl August Varnhagen von Ense: Vom Ausschneiden, In: Cottas »Morgenblatt für gebildete Stände« vom 9. März 1814, zitiert nach Kirchner, S. 16
4 Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens, 2. Auflage, T. 1., Leipzig 1843, S. 16-17
5 Nenien nach dem Tode Rosa Marias, hrsg. von David Assing, Hamburg 1840. - Rosa Marias poetischer Nachlaß, hrsg. von David Assing, Hamburg 1841
6 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Chamisso
7 Berlin, ehem. Preußische Staatsbibliothek, Varnhagen-Sammlung, gegenwärtig Krakau, Biblioteka Jagiellonska. - Der freundlichen Mitteilung Dr. M. Zwiercans, Krakau, vom 24. Januar 1995 zufolge sind nur noch die Briefe aus den Jahren 1803-1806 dort vorhanden. Demzufolge fehlen u. a. die für das Thema wichtigen Briefe Rosa Marias vom 14. Mai 1833 (betr. die Hamburger Kunstausstellung), vom 11. November 1837 (betr. die Wirkung der Schnitte) und vom 5. April 1838 (betr. die Ausführungstechnik). - Die Zitate der sonstigen Briefe sind Kirchner entnommen.
      8 Gesammelte Werke von Karl Gutzkow. Vollständig umgearbeitete Auflage, Bd. 6, Frankfurt am Main, 1845, S. 294-295
9 Ernst Lemberger: Die Bildnis-Miniatur in Deutschland von 1550 bis 1850, München (1910), S. 132
10 Vgl. Anm. 1
11 Ernst Biesalski: Scherenschnitt und Schattenriß: Kleine Geschichte der Silhouettenkunst, München 1978, S. 49

Bildquelle:
Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz


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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/1996
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