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Heidemarie Näther
Eine Frau ohne Privatleben

Helene Lange
(1848-1930)

1848 - es sind unruhige, revolutionäre Zeiten, als Helene Lange in Oldenburg geboren wird. In ihren Lebenserinnerungen schreibt sie: »In Gesche Kimmes Haus habe ich den ersten Schrei getan, und zwar, wie die Überlieferung will, mit einstimmend in das Geschrei einer erregten Menschenmenge, die sich - es war am 9. April - in Oldenburg durch Fenstereinwerfen eine kleine Nachfeier der Märztage gestattete. Mein Vater pflegte mir in Fällen besonders lebhafter Temperamentsäußerungen diesen Geburtstag als mildernden Umstand in Anrechnung zu bringen.«
Ihr Vater ist Kaufmann. Die Mutter stirbt früh, Helene ist gerade mal sieben Jahre alt. Schon in ihrer Kindheit müssen sie eigenwillige Gedanken beschäftigt haben. Drei Freiheitshelden hängt sich Helene an die Wand: Garibaldi, Theodor Körner und den Herzog von Augustenburg, der gegen Preußen um seine Herzogtümer Schleswig und Holstein kämpfte.
     Sie ist 16 Jahre, als der Vater stirbt, Helene

Helene Lange
Lange ist Vollwaise. Sie kommt als Pensionstochter in ein schwäbisches Pfarrhaus und macht ihre ersten schmerzlichen Erfahrungen mit der geistigen Trennung der Geschlechter. Die Herren Studienräte und Professoren, die akademischen Gäste des Pfarrers und seine studierenden Söhne pflegen die gehobene Konversation des Bildungsbürgertums. Die Frauen können und dürfen nicht mitreden. Diesen Tatbestand will Helene Lange nicht akzeptieren. Von ihrem Vormund fordert sie den einzigen Beruf, der Frauen damals erlaubt ist: Sie will Lehrerin werden. Der Vormund lehnt ab, das habe noch kein Weibs

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bild in Oldenburg verlangt. Nun versucht sie, auf Umwegen ihr Ziel zu erreichen. Sie geht als Aupair-Mädchen an ein französisches Internat im Elsaß. Dort darf sie Deutsch unterrichten. Nebenher betreibt Helene Lange ein intensives Selbststudium in Philosophie, Literaturgeschichte, Geschichte, Religionsgeschichte und lernt alte Sprachen. 1871 geht sie nach Berlin, um das Lehrerinnenexamen abzulegen.
     Fünfundvierzig Jahre lebt sie in Berlin, kämpft darum, den Frauen Bildungschancen zu eröffnen, engagiert sich für die Wertschätzung des Lehrerinnenberufs.
     Das Deutsche Reich, Land der Dichter und Denker, ist Schlußlicht in Fragen Frauenbildung im europäischen Raum. Der Bildungsbürger fürchtet um sein Prestige, seinen gesellschaftlichen Einfluß will er keinesfalls mit Frauen teilen. Die Oberlehrer der Nation haben ihre Vorbehalte, Lehrerinnen fehle die geringste Befähigung zum Rechenunterricht, so meinen sie, überhaupt seien dem weiblichen Geist alle Bereiche der Logik verschlossen. Helene Lange folgert scharfsinnig, daß man deshalb Männern die Ausbildung von Mädchen nicht zumuten könne: »... ist es Männern eigentlich nicht mehr zuzumuten, ihr Leben dem Unterricht so idiotisch veranlagter Wesen zu widmen, in der vergeblichen Hoffnung, dieses Geschlecht jemals auch nur auf die Höhe zu bringen, die es dem Mann erspart, sich am häuslichen Herd zu langweilen.« Helene Lange fordert,
daß Bildung und Erziehung der Mädchen von Frauen übernommen werden müssen.
     1876 beginnt sie an einer privaten höheren Mädchenschule zu unterrichten und wird in kurzer Zeit zur Leiterin des angeschlossenen Lehrerinnenseminars ernannt.
     1876 gibt es in Preußen 116 staatliche Lehrerseminare für die Ausbildung männlicher Pädagogen, aber nur fünf private Lehrerinnenseminare, deren Abgängerinnen ausschließlich in Volksschulen unterrichten dürfen. Humanistische Gymnasien und Universitäten bleiben der männlichen Jugend und männlichen Lehrern vorbehalten. Für Mädchen gibt es außer der Elementar- oder Volksschule die sogenannte höhere Töchterschule. Eine Einrichtung, die weniger der höheren Bildung dient als vielmehr der »weibliche Bestimmung«, die Dame als »Schmuck für den Salon« zu erziehen.
     1887 verfaßt Helene Lange eine Begleitschrift zu einer Petition an das preußische Unterrichtsministerium und das preußische Abgeordnetenhaus, die sogenannte »Gelbe Broschüre«. Es werden zwei Anträge gestellt. Erstens werden mehr Lehrerinnen für den »wissenschaftlichen Unterricht auf der Mittel- und Oberstufe der öffentlichen höheren Mädchenschulen« gefordert. Zweitens sollen zur Ausbildung dieser Lehrerinnen »von Staatswegen« Anstalten eingerichtet werden.
     Die Begleitschrift schildert detailliert die Miseren der Mädchenschulen: »Von allem, was Männer gründlich lernen, darauf haupt

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sächlich geht die Klage, erfahren unsere Mädchen ein klein wenig; dies wenige aber selten so, daß das Interesse für spätere Vertiefung rege gemacht oder das Selbstdenken ernsthaft in Anspruch genommen würde, sondern als zu Übersichten gruppierte positive Tatsachen oder fertige Urteile, die, ohne Beziehung zum inneren Leben, dem Gedächtnis bald wieder entschwinden und nur das dünkelhafte Gefühl des Gehabthabens und der Kritikfähigkeit zurücklassen. Aus dieser Art zu lehren erklärt sich die Unfähigkeit unserer Schulen, zu bilden ...« Geschickt verknüpft Helene Lange den Bildungsanspruch der Frau - um ihrer selbst und »der werdenden Menschheit« willen - mit der Forderung nach Beteiligung von Lehrerinnen: » Mit der ausschließlichen Beziehung der ganzen Entwicklung unserer Mädchen auf den Mann fällt auch ihre ausschließliche Erziehung durch den Mann; ja solche Frauen, wie wir sie wollen, können gar nicht durch Männer allein gebildet werden, es bedarf dazu aus vielen Gründen durchaus des Fraueneinflusses, und zwar genügt nicht der Einfluß der Mutter im Hause ... es bedarf durchaus der Erziehung durch Frauen auch in der Schule, besonders auf der Oberstufe ...« Und mit logischer Konsequenz fordert sie für die Ausbildung der Lehrerinnen eigene Hochschulen, deren Mittel und Methoden »weiblicher Eigenart« angepaßt sind und deren Leitung »lediglich Frauen anvertraut sein kann«. Die eingereichte Petition wird im Abgeordnetenhaus wieder und wieder vertagt und nach Jahresfrist »unter scharfer Zurückweisung des Inhalts« negativ beschieden.
     In der Öffentlichkeit dagegen erregt die »Gelbe Broschüre« Aufmerksamkeit nicht zuletzt wegen des lebhaften Interesses und der Protektion der damaligen Kronprinzessin und gebürtigen Engländerin Victoria, der nicht einmal 100 Tage amtierenden sogenannten »Kaiserin Friedrich«. In ihrem Vertrautenkreis werden die Forderungen Helene Langes heftig diskutiert. Sie veranlaßt, daß dem von ihr protegierten Victoria-Lyzeum 1888 ein Lehrerinnenseminar angegliedert wird. Im gleichen Jahr finanziert sie eine Reise für Helene Lange nach England zum Studium der fortschrittlichen englischen Bildungseinrichtungen für Frauen.
     Am 10. Oktober 1889 werden in Anwesenheit »Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich« die sogenannten »Realkurse für Frauen« von ihrer Leiterin Helene Lange mit einer feierlichen Rede eröffnet. Diese Bildungseinrichtung soll Frauen auf das schweizerische Abitur vorbereiten.
     1893 verwandelt Helene Lange diese Realkurse in Gymnasialkurse. In vierjähriger Ausbildung wird Absolventinnen der höheren Töchterschulen das volle Pensum des humanistischen Gymnasiums geboten, werden Mädchen im Mindestalter von sechzehn Jahren auf das deutsche Abitur vorbereitet. Das Abitur selbst kann nur an einem

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Jungengymnasium abgelegt werden. Die ersten sechs Absolventinnen bestehen am 29. März 1896 ihr Abitur am Königlichen Luisengymnasium, »sämtlich mit gutem Erfolg«.
     Erst 1908 wird es eine grundlegende »Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens« geben und eine Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium in Preußen gesetzlich geregelt werden. Auf Initiative von Helene Lange, Auguste Schmidt und Marie Loeper-Houselle gründet sich 1890 der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverband (ADLV). Für Helene Lange, die bis 1921 den Vorsitz führt, ist diese Gemeinschaft der Lehrerinnen nicht nur eine frauenspezifische Berufsorganisation, sondern Träger und Verwirklichung der Idee »Organisierter Mütterlichkeit«. Die Lehrerin übt »das heilige Amt der Mutter in der Schule« aus. Helene Lange betont in ihren Schriften immer wieder das »mütterliche Element in den Frauen«. Mütterlichkeit ist für sie ein Programm gleichberechtigter Beteiligung und weiblichen Einflusses in allen Lebensbereichen: »Die Frauenbewegung will der Frau freie Entfaltung aller ihrer Kräfte und volle Beteiligung am Kulturleben sichern. Sie erkennt an, daß die Geschlechter ihrem Wesen und ihren Aufgaben nach verschieden sind, und ist gerade deshalb überzeugt, daß die Kultur sich um so reicher, wertvoller und lebendiger gestaltet, je mehr Mann und Frau gemeinsam an der Lösung aller Kulturaufgaben wirken.«1) Helene Lange empfindet keine Gemeinsam
keiten mit linken Frauen, den Pazifistinnen, den Sozialdemokratinnen und Sozialistinnen, »den Radikalen« wie sie sie nennt. Für sie bleibt Gleichberechtigung eine Bildungsfrage.
     Sie engagiert sich in der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung, ist Mitbegründerin der Zeitschrift »Die Frau«, arbeitet im Vorstand des Allgemeinen Deutschen Frauenverbandes von 1893 bis 1921 und von 1894 bis 1906 im Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine. Als sie 50 Jahre alt ist, begegnet sie der 25 Jahre jüngeren Gertrud Bäumer. Einunddreißig Jahre lang arbeiten und leben die beiden Frauen zusammen.
     Helene Lange sieht in G. Bäumer eine geeignete Nachfolgerin für ihr Lebenswerk im Dienste der Frauenbewegung und fördert sie, wo immer sie kann. Gemeinsam geben sie das fünfbändige »Handbuch der Frauenbewegung« heraus. Aber über das Privatleben der Helene Lange weiß man wenig. Man weiß nichts über ihre Gefühle, ihre Bedürfnisse außer ihrem Bedürfnis nach Bildung. Sie sieht aus wie eine Lehrerin, schreibt, redet und lebt so. Überliefert ist ihre brillante ironische Sprache, ihr scharfer Blick für die Doppelmoral und Heuchelei des Patriarchats.
     Die Lehrerin, Bildungsexpertin, Vordenkerin und Wortführerin der deutschen Frauenbewegung stirbt am 13. Mai 1930 in Berlin.

Quellen:
1 Jahrbuch des BDF 1921, Leipzig/Berlin 1921, S. 28
Bildquelle: Helene-Lange-Archiv


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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/1996
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