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Günter Möschner
23. Oktober 1871:
Gründung der Schering AG

Am 23. Oktober 1871 teilte Ernst Schering der Öffentlichkeit mit, daß er seine chemisch-pharmazeutische Fabrik in eine Aktiengesellschaft überführt habe. Obwohl die entsprechenden Dokumente schon vorher unterzeichnet waren, betrachtet das heute weltweite Unternehmen diesen Tag als sein Gründungsdatum.
     Als sich Ernst Schering im Herbst 1871 zu diesem Schritt entschloß, folgte er sowohl einem Trend als auch den Zwängen der Zeit. Denn die gewaltigen Geldsummen, die dem soeben aus der Taufe gehobenen deutschen Kaiserreich nach dem siegreichen Krieg als Kontributionen aus Frankreich zuflossen, die Reichsgründung selbst und andere Faktoren hatten einen Gründerboom ohnegleichen ausgelöst. Dieser steigerte sich vor allem in Berlin, das nun zur Kaiser- und Reichshauptstadt avanciert war und dadurch mancherlei Vorteile genoß, zu einem wahren Gründerfieber. Sehr viele Berliner Unternehmen gingen - sofern sie es nicht schon waren - zu Aktiengesellschaften über, um mit größerem Kapital expandieren zu können. Gleichzeitig schossen in Gestalt von

Aktiengesellschaften Neugründungen wie Pilze aus der Erde, von denen sich nicht wenige bald als reine Spekulationsobjekte erwiesen. Diese Situation bot natürlich auch Ernst Schering die Chance, sein solides Unternehmen durch Kapitaleinlagen von Aktionären beträchtlich zu erweitern. Dabei empfand er seinen Aufstieg vom einfachen Apotheker zum Begründer und Namensgeber einer großen Aktiengesellschaft als nahezu schwindelerregend.
     Im Jahre 1851 hatte der am 31. Mai 1824 in Prenzlau geborene Ernst Christian Friedrich Schering die in der Chausseestraße 17 gelegene Schmeissersche Apotheke erworben, neu eingerichtet und kurz danach in »Grüne Apotheke« umbenannt. Wie damals üblich, stellte er nach Rezepturen von Ärzten die meisten Arzneien selbst her und produzierte darüber hinaus Chemikalien für die Parfümerie-, Textil-, Leder-, Seiden- und Feuerwerksindustrie. 1855 nahm er an der Pariser Weltausstellung teil und stellte einige seiner Produkte vor. Er erhielt für deren besondere Reinheit eine Silbermedaille. Das veranlaßte ihn, zur fabrikmäßigen Produktion überzugehen. Also baute er seine Laborräume in der Chausseestraße aus und beschäftigte bald einige Dutzend Angestellte. 1864 erwarb er das Grundstück Müllerstraße 171 und errichtete dort - auf dem Gelände des heutigen Werkes Wedding - eine chemisch-pharmazeutische Fabrik. Mit Beginn des deutsch-französischen Krieges 1870 erhielt

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Erstes Zweigwerk der Chemischen Fabrik
das Scheringsche Unternehmen den Auftrag, einzelne Teile der preußischen Armee mit Arzneimitteln zu versorgen. Das brachte ihm einen beachtlichen Aufschwung, machte den Namen Schering bekannt und zu einem Zeichen bester Qualität.
     Deshalb waren alle Beteiligten am Erhalt dieses Namens interessiert, als 1871 die Umwandlung des Unternehmens in eine Aktiengesellschaft erfolgte. Sie bezeichnete sich nun als »Chemische Fabrik auf Actien (vorm. E. Schering)«. Landläufig wurde sie aber von Anfang an Schering AG genannt, obwohl sie diesen Namen offiziell erst später annahm. Das Gründungskapital von 500 000
Talern ermöglichte es, unverzüglich ein neues Verwaltungs-, Labor- und Lagergebäude zu errichten. Die Teile dieses Bauwerkes, die im Krieg nicht zerstört wurden und heute als »Altes Hauptlabor« bezeichnet werden, demonstrieren anschaulich die typische, sehr ansehnliche Backsteinbauweise der Gründerzeit. Sie beherbergen jetzt unter anderem das »Scheringianum« - eine unternehmensgeschichtliche Sammlung und wohl eines der interessantesten Betriebsmuseen Berlins. Die Gründung der Aktiengesellschaft ermöglichte auch eine beträchtliche Erweiterung des Produktionssortiments, an dem Jod- und Bromverbin

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dungen für medizinische und fotografische Zwecke den Hauptteil erbrachten.
     Das sehr gute Gedeihen des Unternehmens wurde jedoch schon 1873 jäh unterbrochen. Der große Gründerkrach im Herbst dieses Jahres führte es an den Rand des Ruins. Auch, weil das Unternehmen finanziell eng mit einem der abenteuerlichsten Hasardeure der Gründerzeit, Heinrich Quistorp, liiert war. Es konnte keine Dividende ausgeschüttet werden, der Kurs der Schering-Aktien fiel rapide. Ernst Schering bereitete alles Notwendigen vor, um Konkurs anzumelden. Erst im letzten Moment - er soll für den schweren Gang schon den Mantel angezogen und den Hut aufgesetzt haben - konnte er von seinen Freunden davon abgehalten werden. Besonderen Anteil daran, daß das Unternehmen die Krise überstand, hatten der Apotheker Dr. Theodor Kempf, der in dieser schwierigen Zeit die Betriebsleitung übernahm, und der Besitzer der Königlichen Hofapotheke, Dr. Julius Friedrich Holtz, der als Direktor in den Vorstand der Aktiengesellschaft eintrat. Von dem erst allmählichen, bald aber sehr steilen Aufschwung, den das Unternehmen in der Folgezeit erfuhr, zeugt vor allem die Tatsache, daß die Dividende von 0,5 Prozent im Jahre 1876 auf die zeitweilige Höchstmarke von 24 Prozent im Jahre 1887 anstieg. Gleichzeitig wurde das Markenzeichen der Schering AG, mit dem Arzneimittel jeglicher Art, fotochemische und andere chemische
Produkte immer größere Marktanteile gewannen, zu einem Sinnbild höchster Güte. Dies wie auch den Aufbau des ersten Zweigwerkes des Unternehmens am Tegeler Weg in Charlottenburg und den Bezug des neuen Verwaltungsgebäudes in der Müllerstraße, des »Roten Schlosses am Wedding«, konnte Ernst Schering noch erleben, bevor er am 27. Dezember 1889 verstarb.
     Doch der Aufstieg des Unternehmens hielt weiter an, zumal es sich durch Erzeugnisse auszeichnete, die auf intensiven Forschungs- und Entwicklungsarbeiten, teilweise sogar auf bedeutenden Entdeckungen und Erfindungen sowie gründlichen Erprobungen und Prüfungen beruhten. In Berlin und in anderen deutschen Städten entstanden durch Fusionen und Aktienaufkäufe bald weitere Fabriken der Schering AG. Mit den Werken in Moskau (1905) und Wydriza (1907) begann unter dem Namen »Russische Schering Aktiengesellschaft« die Auslandsproduktion und mit den Fabriken in London (1908) und Wien (1912) die Entwicklung zu einem Weltunternehmen, das nach 1920 in alle Erdteile vordrang. Heute ist die Schering AG mit mindestens 130 Tochter- und Beteiligungsgesellschaften in fast 50 Ländern eines der größten Unternehmen der Welt.

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/1996
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