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Jan Feustel
»Raub und Mord im Kiez - Historische Friedrichshainer Kriminalfälle«

Jeder der neuen Stadtteile, die sich beim raschen Wachstum der deutschen Metropole nach 1871 wie Jahresringe um das alte Zentrum legten, erhielt sein spezifisches soziales Gesicht, sein kulturhistorisches Mikroklima. Während im Westen vor allem vornehmgutbürgerliche Wohnviertel und Villenvororte entstanden, wuchsen östlich des Stadtzentrums die Mietshausfronten vor engen Hinterhöfen empor. Hier waren die »Kieze« der kleinen Leute, der Arbeiter, der schlechtbezahlten Angestellten und kleinen Gewerbetreibenden. Und wie jene westlichen Stadtteile in ihrer historischen Entwicklung von der bürgerlichen Kultur bestimmt wurden, so gehörten zum Bild der »anderen Seite Berlins« untrennbar auch Kriminalität und Unterwelt.
     »Der Berliner weiß vom Osten«, schrieb

Karl Großmann, die »Bestie vom Schlesischen Bahnhof«


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der Gerichtsreporter Moritz Goldstein 1929 in der »Vossischen Zeitung«, »daß bis zur Jannowitzbrücke etwa das Berlin reicht, das wir kennen und in dem wir leben. Dahinter beginnt eine fremde Stadt, es beginnt das, was der Bürger mit Gruseln als Unterwelt bezeichnet und sich von seiner Welt zunächst nur durch seine unentrinnbare Trostlosigkeit unterscheidet.«
Gerade die Umgebung des Schlesischen Bahnhofes im Stadtbezirk Friedrichshain zählte zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg neben dem Scheunenviertel zu den Gebieten höchster Kriminalität in Berlin. Rings um den Bahnhof lauerten
Streife gehen - die eigentliche Ordnungsmacht dieses Viertels waren »Unterweltsorganisationen« wie der Ringverein Immertreu. In »besseren Kreisen« galt es als reizvoller Nervenkitzel, einen Abend in diesem »berüchtigten Viertel Berlins« zu verbringen.
     So sind im heutigen Stadtbezirk Friedrichshain auch einige Stätten der spektakulärsten Berliner Kriminalfälle unseres Jahrhunderts lokalisiert. Hier bereitete Wilhelm Voigt, der »Hauptmann von Köpenick«, 1906 seinen Raubzug vor, hier ermordete bis 1921 Karl Großmann, die »Bestie vom Schlesischen Bahnhof«, mehr als 20 Frauen, hier
Taschendiebe, Bauernfänger und Kollidiebe, blühte die Prostitution. Hier konnten die örtlichen Revierpolizisten immer nur zu zweit auf

Lange Straße, um 1940, wo der Hauptmann von Köpenick 1906 verhaftet wurde und der Massenmörder Großmann 1921


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fand 1928 die bis dahin größte »Gangsterschlacht« Berlins zwischen dem Ringverein Immertreu und den Hamburger Zimmerleuten statt, hier wohnte bis zu seiner Verhaftung 1949 Werner Gladow, der Anführer der berüchtigtsten Verbrecherbande im Nachkriegsberlin. Gegen Ende der Weimarer Republik nahmen gerade in diesem Stadtbezirk mit den offen ausbrechenden gesellschaftlichen Konflikten auch die Straftaten mit politischem Hintergrund zu - wählten doch 45 Prozent der Friedrichshainer Einwohner die KPD! Der Mord am Oberwachtmeister Kuhfeld und »Tod und Verklärung« des Horst Wessel spiegeln exemplarisch die politisch motivierte Gewalt jener Zeit wider.
     Die genannten Fälle hinterließen Spuren in der Geschichte nicht nur des Stadtbezirkes, wurden in Publikationen dargestellt, lieferten das Sujet für Romane, Theaterstücke und Filme. Ein ebenso interessantes Abbild des gesellschaftlichen Milieus im »Berliner Osten« geben jedoch die unbekannt gebliebenen Fälle - Verbrechen in der Welt der »kleinen« Leute, die nie große Schlagzeilen bekamen: Familientragödien, Eifersuchtsdramen, Raubmorde um geringster Beträge willen - erstaunlich oft von ehemaligen Untermietern an ihren Zimmerwirtinnen begangen. Die Untersuchungsakten der Kriminalpolizei aus dem Landesarchiv Berlin, vor allem aber dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam zeichnen ein plastisches und meist recht deprimierendes
Bild der sozialen Verhältnisse, die Schicksale von Tätern wie Opfern prägten: beengter Wohnraum, spärlicher Verdienst, Arbeitslosigkeit, Rationierung der Lebensmittel im Ersten und Zweiten Weltkrieg. In diesem Flair wuchsen Wünsche wie Hoffnungen, oft aber auch nur ausweglose Verzweiflung, die in Gewaltverbrechen kulminierten. Jede der Taten beleuchtet so blitzlichtartig das »gesellschaftliche Koordinatensystem«, in dem sie geschah.
     Das ist das Umfeld, mit dem sich eine Ausstellung des Heimatmuseums Friedrichshain beschäftigt. Unter dem Titel »Raub und Mord im Kiez - Historische Friedrichshainer Kriminalfälle« will sie die Geschichte von 13 bisher unpublizierten - berühmten und weniger berühmten - Gewaltverbrechen im Bezirk Friedrichshain in Tatortfotos, Täterporträts, Dokumenten und Sachzeugen anschaulich dokumentieren und damit einen charakteristischen, wenn auch dunklen sozialgeschichtlichen Aspekt illustrieren, der das Bild des Berliner Ostens einstmals entscheidend prägte. Dabei bilden die Taten des Hauptmanns von Köpenick und der Gladow-Bande gleichsam die historischen Eckpunkte, zwischen denen knapp 50 Jahre Kriminalgeschichte des Bezirks dargestellt werden.
     Die Ausstellung ist bis zum 20. 12. 1996 im Heimatmuseum Friedrichshain (Lichtenberger Str. 41/Ecke Holzmarktstraße) zu sehen. Öffnungszeiten: Di./Do. 11.00 - 18.00 Uhr und Sa. 13.00 - 18.00 Uhr. Eintritt kostenlos.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/1996
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