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Zu diesem Zeitpunkt ist der Berliner Gutsbezirk Treptow bereits aus der polizeilichen Gutsverwaltung entlassen (1872) und zum 37. Amtsbezirk erklärt worden. Der erste Amtsvorsteher Treptows ist der Gärtnereibesitzer Eduard Mosisch (gestorben 1884), nach dem die Mosischstraße benannt ist. Er war ehrenamtlich tätig und unterstand dem Landrat von Teltow. 1876 wird der Gutsbezirk zur selbständigen Landgemeinde Treptow innerhalb des Kreises Teltow umgewandelt und mit dem Umbau der Berlin-Görlitzer Eisenbahn im Jahre 1890 eine Haltestelle Baumschulenweg der Berlin-Grünauer Vorortbahn am Ablage-Weg (für den sich seit dieser Zeit der Name Baumschulenstraße einbürgert) in Betrieb genommen.
     Für die Haltestelle hatte sich bereits längere Zeit Franz Ludwig Späth eingesetzt, der unter anderem Mitglied des Eisenbahnrates war. Sicher in nicht ganz uneigennütziger Weise. Denn der Ablage-Weg führt zu seiner etwa 1,5 Kilometer von der Haltestelle entfernten Gärtnerei, die sich zu einer der weltgrößten Baumschulen entwickelte. Von ihr existiert heute noch an gleicher Stelle, nun allerdings im Treptower Ortsteil Johannisthal, das der Humboldt-Universität angegliederte Arboretum.
     Seit der Einrichtung der Haltestelle wächst relativ schnell eine Siedlung. Ein Haus nach dem anderen wird hier, im Südosten der Treptower Feldmark, gebaut. Die Kolonie
Ulrich Werner Grimm
Die überklebte
»Krebsjauche«

Berlin hat 56 Ortsteile, genauer gesagt jene Stadtbezirke, die am heutigen Stadtrand liegen und bei der Bildung Groß-Berlins 1920 »eingemeindet« wurden. Einige von ihnen bestehen aus früheren Städten, Dörfern und Gütern und sind recht alt. Der Ortsteil Treptow-Baumschulenweg dagegen, im Volksmund einst auch »Krebsjauche« genannt, ist noch relativ jung.
     Die Vorortsiedlung verdankt ihre Existenz im wesentlichen zwei Namen und Ereignissen, die eng mit der Berliner Unternehmergeschichte verbunden sind: Franz Ludwig Späth (1839-1913), der um 1864 seinen Gärtnereibetrieb von der südlich der Spree gelegenen Köpenicker Straße auf die Rudower Wiesen zwischen Johannisthal und Britz verlegte (vgl. BM 3 und 8/1992) sowie Bethel Henry Strousberg (1823-1884), der seinen Ruf als Berliner »Eisenbahnkönig« (vgl.
     BM 4/1994 und 5/1995) nicht zuletzt auch dem Bau der Berlin-Görlitzer Eisenbahn verdankt. Das gesamte Netz der Eisenbahnstrecke wird am 31. Dezember 1867 in Betrieb genommen. Der erste Vorortverkehr mit zweistöckigen Omnibuszügen nach Grünau beginnt 1874.


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Neu-Treptow, wie Baumschulenweg zeitweise ebenfalls bezeichnet wird, überflügelt in der Bevölkerungszahl bald sogar den Ortskern Alt-Treptows.
     Bevor es jedoch im historisch zweiten Siedlungsbereich des heutigen Stadtbezirks soweit war, gab es nur wenige Kolonisten am Ablage-Weg. Eine der ältesten Ansiedlungen befand sich auf dem Grundstück des Hauses Baumschulenstraße 78, in dem seit 1979 das »studio bildende kunst« das Kulturleben in Treptow bereichert. Etwas über einhundert Jahre zuvor, im September 1872, geht an dieser Stelle des Ablage-Wegs in der Gemarkung Cöllnische Heide ein Grundstück von »1,042 Hectare« Größe aus dem Besitz der »Schmidt´schen Erben« an den »Herrn Restaurateur« (also den Inhaber einer Restauration, eines Gast- oder Speisehauses) Adolph Kettlitz in Treptow. Dessen Beruf ist aber auch mit Zimmerpolier angegeben, und insofern kann Restaurateur ebenso mit dem baulichen oder künstlerischen Handwerk der Wiederherstellung zu tun haben. Wahrscheinlich ist das jedoch nicht, denn nachfolgende Besitzer des Grundstücks bzw. von Teilen desselben werden ebenfalls als Restaurateur, und zwar eindeutig im Sinne eines gasthäuslichen Gewerbes, bezeichnet. Die Besitzer der Nachbargrundstücke waren linkerseits ein Gärtner Nickel und rechts ein Gärtner Götze. Kettlitz wiederum teilt sein Grundstück zwischen Ablage-Weg und heutiger
Mörikestraße in vier Parzellen und beginnt, unterzuverpachten bzw. zu verkaufen. In einem Situationsplan aus dem Jahr 1872 ist neben Kettlitz ein Fuhrherr Wilhelm Fritze eingetragen.
     1876 erwirbt von den beiden äußeren Parzellen das vom Ablage-Weg aus gesehen äußere rechte, 20 mal 143 Meter große Restgrundstück der Fuhrherr Peter D. Laufs aus der Berliner Köpenicker Straße 7, der sich hier niederlassen und kräftig an- und ausbauen will: als erstes ein zweigeschossiges Wohnhaus, einen Pferdestall mit Appartement (wohl für den Kutscher) und eine Senkgrube. Der Landrat des Kreises Teltow genehmigt, daß Laufs eine neue Ansiedlung auf der Feldmark Treptow gründen darf, und dieser verhandelt mit dem Treptower Amtsvorstand Eduard Mosisch über die schleunige Erteilung eines »Bau-Consenses«, der ihm auch umgehend zugestellt wird. Überhaupt ist es erstaunlich, was alte Bauakten bezeugen: mit wie wenig bürokratischem Papieraufwand in jener Zeit ein Bauvorgang vom ersten Antrag bis zur Abnahme abgewickelt wurde. Nur knappe 20 Jahre später aber waren die Antrags- und Genehmigungsunterlagen schon auf das etwa Zwanzigfache umfänglich gesteigert. Mit den Anbauten kann Laufs den Versicherungswert der Immobilien auf seinem Grundstück in nur drei Monaten von 9 000 auf 29 000 Mark (etwa 120 000 heutige DM) erhöhen, einer für damalige Verhältnisse

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nicht geringen Summe. Innerhalb des nächsten halben Jahrzehnts werden Kegelbahn, Wagenremise, Waschküche und anderes den Versicherungswert der Baulichkeiten auf runde 40 000 Mark steigern.
     Der Fuhrunternehmer Laufs soll am Ablage-Weg eine Müllablage eingerichtet und dorthin Berliner Müll und Fäkalien transportiert haben, mit denen der magere Boden der Gegend gedüngt wurde. Nebenbei hatte er, heißt es, einen Kramladen und Getränkeausschank für die auf dem Ablage-Weg vorbeifahrenden anderen Fuhrleute und für Sonntagsspaziergänger betrieben. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß er diesen Zweig seiner Geschäftstätigkeit vom Vorbesitzer, dem Restaurateur Kettlitz, übernommen oder abgeschaut hatte. Belegt ist jedenfalls, daß Laufs am 12. Juli 1877 beim Treptower Amtsvorstand die Anbringung eines Firmenschildes an seinem Wohnhaus beantragt. Die von Laufs selbst zur Genehmigung eingereichte Aufschrift des Schildes lautete: »D. Laufs Restaurant. Weis u. Bairisch Bier Lokal. Viel Vergnügen zu Krepsjauche«. Angemerkt werden muß: Daß hier »Bayrisch« mit ai und »Krebs« mit p stehen, ist kein Versehen des Autors, eher ein Schreibfehler von Laufs, denn beide Wörter wurden auch in jener Zeit so geschrieben, wie wir sie heute kennen. Mit diesem, im Bauarchiv des Bezirksamtes Treptow noch vorhandenen Schriftstück ist belegt, was bislang ohne Dokumentenbeleg zur Bezeich
nung »Krebsjauche« für Baumschulenweg kolportiert wurde.
     Ob sich, wie es bislang immer wieder heißt, auf dem Firmenschild zwei rote Krebse befanden, die die Inschrift einrahmten, ist aus der genannten Archivalie nicht zu ersehen, die uns nebenbei noch eine, im wahrsten Sinne des Wortes, Randgeschichte mitteilt: Hatte Laufs bis dahin ohne größere Schwierigkeiten seine Anträge genehmigt bekommen, war ihm das mit dem Firmenschild nicht so reibungslos gelungen. Marginale amtliche Bemerkungen auf seinem Antragsbrief teilen mit, daß der Treptower Amtsvorstand Kenntnis davon hatte, »daß Laufs die nebenstehend angegebene Firma [gemeint: das Firmenschild - U. W. G.] ohne Genehmigung hat anbringen lassen«. Das heißt, Laufs hatte bereits vollendete Tatsachen geschaffen und wollte sich hinterher den behördlichen Segen holen. Über solches übergehendes Vorgehen waren schon damals Amtswalter nicht erfreut.
     Und Eduard Mosisch macht Laufs prompt Schwierigkeiten.
     Er untersagt ihm am 31. Juli 1877 die Verwendung eines Teils seines Inschriftenvorschlags, sagt ihm deutlich, daß er »wegen dieser Uebertretung Strafe verwirkt« habe, um ihm dann erpresserisch seine obrigkeitliche Güte zu demonstrieren: »Wenn ich von einer Bestrafung vorläufig absehen will, so fordere ich Sie hingegen auf, die gegenwärtige Firma binnen 4 Wochen vom Ein

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gange dieser Verfügung an gerechnet, bei Vermeidung einer Polizei-Exekutivstrafe von Fünfzehn Mark zu entfernen.« Und Mosisch vergißt die Sache nicht. Schon am 4. September weist er den Gendarmen Gust, seinen, wie aus den Archivbeständen ersichtlich, unentbehrlichen und langjährigen Mitrepräsentanten staatlicher Vorortgewalt, an, zu recherchieren, ob seiner Verfügung genügt worden ist. Drei Tage später notiert der Gendarm in seiner kleinen krakligen Schrift: »Das Wort Krebsjauche ist bei dieser Firma beklebt. Treptow, den 7. 9. 1877, Gust.« Mit dieser Mitteilung scheint der Fall »Firma Krebsjauche« nicht weiter verfolgt und zu den Akten gelegt worden zu sein. Laufs hatte überklebt, ohne zu entfernen, und Mosisch obwaltet, ohne offenbar bis zur letzten Konsequenz obsiegen zu wollen.
     Daß im nachhinein beide Kontrahenten noch etwas »überbehalten« haben, kann nur vermutet werden. Denn genau ein Jahr später weigert sich Peter D. Laufs, eine wegen eines trotz Aufforderung nicht eingereichten Bauplans von Eduard Mosisch erhobene Exekutivstrafe von fünf Mark zu zahlen, was den Amtsvorsteher veranlaßt, dem Schuldner Laufs den Exekutor Horte mit einem Pfändungsbefehl ins Haus zu schicken. Laufs hatte aber keine Lust oder keine Zeit, die Amtsperson zu empfangen, entfernte sich aus seiner Wohnung, als dieser eintraf und es im Pfändungsprotokoll vermerkte, und überließ das peinliche Pfänderspiel
seiner Ehefrau. Mit einem Pfändungssiegel versehen wurde schließlich ein ovaler Tisch im Wert von neun Mark.
     Das Grundstück »Krebsjauche« hat ähnliches, wenn auch weniger Geschichtenträchtiges ebenso in späteren Jahren mit nachfolgenden Inhabern erleben dürfen. In der Baumschulenstraße 78 wird um- und ausgebaut: Aus dem kleinen, noch vom um 1886 verstorbenen Laufs errichteten Saalbau wird ein größeres Tanzsaaletablissement (1895). Das noch heute, wenn auch ohne einst schmückende Stuckfassade, vorhandene Vorderhaus und ein Seitenflügel kommen hinzu (1904). Nebenan entstehen ab 1910 nach Entwürfen der Architekten Heinrich Reinhardt und Georg Süßenguth in Baueinheit die evangelische Kirche »Zum Vaterhaus« mit Pfarr- und Gemeindehaus sowie ein Lyzeum und ein Lehrerwohnhaus. In den Jahren des Ersten Weltkrieges werden Haus und Grundstück Baumschulenstraße 78 zwangsverwaltet und -versteigert. Und um 1916 wird aus dem Saalbau-Restaurant ein Lichtspielhaus. 1924 heißt das Kino »Lichtspiele Baumschulenweg« und hat 400 Plätze, 1929 »Lichtspielhaus Treptow« mit 480 Plätzen und Zentralheizung. In den 30er Jahren darf es für »Singspiele, Gesangs- und deklamatorische Vorträge, Schaustellungen von Personen und theatralische Vorstellungen« wieder genutzt werden, »ohne daß ein höheres Interesse der Kunst oder Wissenschaft dabei obwaltet«,

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wie es in der Genehmigungsurkunde heißt. Für den 8. August 1945 ist belegt, daß das Kino dann jenen Namen trägt, der noch vielen Baumschulenwegern im Gedächtnis ist: »Silvana-Lichtspiele«. Das Kino muß den Krieg relativ gut überstanden haben, Der Artikel entstand im Rahmen eines Projekts der AWOmbH zur Treptower Baugeschichte. Zu danken ist Herrn Retzlaff und Frau Grohnwald vom Bauarchiv Treptow.
denn im September 1946 führt das Bezirksamt Treptow dort seine erste öffentliche Rechenschaftslegung durch. Heute wartet das historische Haus auf seine Restaurierung.

P. D. Laufs' Antrag zur Anbringung des Firmenschildes »Krebsjauche«


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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/1996
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