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pathologischen Anatomie. Dieses eng mit den theoretischen Grundlagen der Medizin verbundene Fachgebiet beurteilt die abgelaufene, vollendete Krankheit eines einzelnen, das Ergebnis seines Krankheits oder Alternsprozesses und kommt durch quantitative Beobachtungen zu Verallgemeinerungen. Der Krankheitsbegriff im weitesten Sinne, seine medizinische, biologische und soziologische Bestimmung und seine auf den Krankheitsprozeß bei einzelnen Menschen zu vollziehende Ausdeutung gehören zum grundlegenden theoretischen Rüstzeug der Pathologie, der Virchow durch sein Wirken erst die wissenschaftlichen Konturen verschaffte. Als Arzt wollte er mehr als nur die Diagnose einer vorhandenen, schon ausgebrochenen, manifestierten Krankheit stellen. Ihn bewegten jene vom Erscheinungsbild ableitbaren Fragen, die zum Wesen von Krankheiten vordrangen. Wann hört Gesundheit auf, wann fängt Krankheit an? Wo im menschlichen Organismus entstehen Krankheiten? Zeitgenössischem Denken entsprach, Krankheiten mit spekulativnaturphilosophischen Anschauungen zu erklären. Obwohl die bescheidenen physikalischen und chemischen Erkenntnisse genutzt wurden, existierten noch beträchtliche Lücken, die durch spekulatives Konstruieren von Zusammenhängen scheinbar geschlossen wurden. Schon ausgangs seiner Berliner Pépinièrezeit, die 1846 mit einem glanzvollen

Bernhard Meyer
Rudolf Virchow: »Omnis cellula a cellula«

Am 21. Oktober 1821 im hinterpommerschen Schivelbein geboren, nimmt Rudolf Virchow in der Wissenschaftsgeschichte für immer einen außergewöhnlichen Rang ein, gekennzeichnet durch Leistungen zur Verwissenschaftlichung von Medizin und Biologie, durch Geistesgröße und Interessenvielfalt. Obwohl als Arzt ausgebildet, empfand er sich stets mehr als Naturforscher, der Medizin, Anthropologie und später die Ethnologie in gewissem Sinne als eine Wissenschaft vom und für den Menschen betrachtet sehen wollte, die er als »Medizinische Anthropologie« bezeichnete. Ausgangspunkt und Bedürfnis für seine wissenschaftstheoretischen und philosophischen Betrachtungen finden wir allerdings in der Medizin. In ihr war er heimisch, sie wollte er voranbringen. Mit der Philosophie ging er ein Zweckbündnis ein: Sie war ihm ein Mittel zur Gewinnung gedanklicher Klarheit, zur Strukturierung der Wissenschaften, zur Bestimmung von Grundsätzen der Forschungsmethodik. Hierin liegt der tiefere Grund für seine frühzeitige Hinwendung zur Pathologie, genauer zur


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Examen endete, erkannte Virchow infolge des Fehlens eines Beweises durch das Experiment die entscheidende Schwäche der empirischen Naturforschung, die sich auf das Beobachten, Sammeln und Verallgemeinern festlegte. Lebenslang verfocht er mit Berechtigung, aber auch einem gewissen einengenden Fanatismus die These, daß sich der naturwissenschaftliche Forscher auf dem Gebiet sicherer Tatsachen bewegen müsse. Er erweiterte die Logik der bloßen Tatsachen um die Konsequenzen aus der Logik des Experiments. In Anlehnung an den frühen Materialismus eines Francis Bacon (1561-1626) wurde Virchow nicht müde zu erklären: Die Wissenschaftler sind die Interpreten der Tatsachen; die Tatsachen sollen durch unseren Mund sprechen. So gelangte er zu wissenschaftstheoretischen Kriterien, die er streng befolgte und die er als Meßlatte für ernstzunehmende Ergebnisse auch bei anderen anlegte. Dazu gehören die logische Gedankenführung, die durch Experimente gestützte empirische Forschung, die naturwissenschaftliche Methodik bei allen Untersuchungen und die kategorische Trennung zwischen Wissen und Glauben.

Neuer Zeitabschnitt mit
der Zellularpathologie

Rudolf Virchow lenkte seine Aufmerksamkeit in den 40er Jahren und sonderlich in seiner Würzburger Zeit (1849 bis 1856) auf

die Zelle, die durch die Untersuchungen des Botanikers Matthias Jakob Schleiden (1804-1881) und des Anatomen Theodor Schwann (1810-1882) allerorten im Gespräch war. Diese verkündeten 1838/39 die mikroskopisch untermauerte Theorie vom zellartigen Aufbau der Pflanzen und Tiere und erkannten darin ein universelles Prinzip der Entwicklung. Das Auftauchen immer leistungsfähigerer Mikroskope, die den Forscher 300mal näher an das Objekt heranführten, beförderten das Anliegen Virchows, die menschliche Zelle eingehend zu untersuchen und herauszufinden, welche Struktur sie besitzt, wie sie entsteht, welche Funktion sie im Lebensprozeß einnimmt und vor allem, welche Anomalien auftreten können, die zu Krankheiten führen. Damit ging er über Giovanni Battista Morgagni (1682-1771) hinaus, der die Entstehung der Krankheiten in die Organe verlegte, während der französiche Vitalist Francois-Xavier Bichat (1771-1802) die Krankheitsentstehung in die Gewebe verlagerte. Virchow gehörte zu den Pionieren, die den Übergang von der makroskopischen zur mikroskopischen pathologischen Anatomie herbeiführten. Das herausragende Ergebnis dieser fast anderthalb Jahrzehnte andauernden Forschungsarbeit (1844-1858) bestand in der Verkündung einer neuen Krankheitslehre, der Zellularpathologie. 1) Mit diesem Werk, 1858 erstmalig gedruckt, begann ein neuer Zeitabschnitt in der Medizin. Endlich schien nach der ver

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breiteten Humoralpathologie des 18. Jahrhunderts, die Krankheiten auf die Störung der »Säfte« zurückführte, mit der Virchowschen Zellularpathologie, philosophisch auf materialistischen Vorstellungen basierend, ein Prinzip gefunden, die Lebensvorgänge bei Gesunden und Kranken überzeugend zu erklären. Virchow erkannte im Ringen um das zelluläre Prinzip drei wesentliche Eigenschaften der Zelle: Sie ist die kleinste Lebenseinheit des menschlichen Organismus. Eine neue Zelle entsteht durch Teilung aus einer anderen Zelle. Krankheiten ergeben sich aus Störungen der Einzelzelle bzw. »Zellterritorien«. Biologie und Medizin profitierten weltweit gleichermaßen von der bereits 1855 durch Virchow proklamierten Erkenntnis: »Omnis cellula a cellula« (jede Zelle entsteht aus einer Zelle). 2) Die Zelle, so Virchow, fungiert als kleinste Einheit des Lebens und der Krankheit.

Die Leistungen des gesunden und kranken Lebewesens sind Leistungen der Zelle.
     Alle diese Erkenntnisse rüttelten an den Grundfesten der bisherigen Denkstruktur der Ärzte. Virchow war in aller Munde, erregte größtes wissenschaftliches Aufsehen. 1861 erschien bereits die 3. Auflage der »Zellularpathologie«, von der inzwischen auch Übersetzungen in fünf Sprachen vorlagen. Die umwälzende wissenschaftliche Auffassung fand bei Ärzten und Biologen enormen Anklang, blieb jedoch auch nicht ohne Widerspruch. So hegte sein Schüler Ernst Haeckel (1834-1919), Zweifel, ob die Zelle tatsächlich das letzte Lebenselement sei. Andere Kritiker merkten eine gewisse Verabsolutierung der Zelle gegenüber der Psyche und dem Nervensystem an. Obwohl dieser Einwand


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nach dem Wortlaut der 1858er Schrift als berechtigt gelten kann, steht dem die ganzheitliche Betrachtung des Menschen und Virchows Betonung des Gefäß- und Nervensystems in den Vorgängen des menschlichen Lebens in seinen Schriften zur Zelle von 1854 gegenüber. Da Virchow später nicht mehr auf diesem Gebiet forschte, präzisierte und korrigierte er seine »Zellularpathologie« auch nicht. Aber er verteidigte seine Ansichten vehement, zuweilen auch autoritär. So kann seine 1877er Rede vor der Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte in München interpretiert werden, in der er zur Mäßigung der Begeisterung für die 1872 von Charles Darwin (1809-1882) verkündete evolutionäre Abstammung des Menschen vom Affen aufrief. Obwohl Virchow als »Darwinist« galt, vermißte er den schlüssigen Beweis. Virchow zog wieder die scharfe Grenze zwischen Spekulativem und Erwiesenem mit der Bemerkung, solange der Nachweis fehle, könne auch behauptet werden, der Mensch stamme vom Pferd oder Schwein ab. Neue Fragen tauchten auf, als Louis Pasteur (1822-1895) und Robert Koch (1843-1910) in den 70er und 80er Jahren die Bakteriologie begründeten und letzterer ernsthafte Einwände gegen das Primat der Einzelzelle bei der Entstehung von Krankheiten erhob. Virchow konterte mit der Auffassung, daß nicht die Bakterien selbst die Krankheit seien, sondern die durch ihren Einfluß hervorgerufenen Veränderungen und damit Störungen der Zelle. Virchow war und blieb wissenschaftliche Autorität im In- und Ausland. Seine Denkweise entsprach dem erkenntnistheoretischen Materialismus, den er durch sein Werk gleichzeitig beförderte. Er bezog auch das Bewußtsein als eine Funktion der Materie in sein Denken ein. Folgerichtig gab es für ihn keinen Schöpfer dieser Welt: »Es ist kein Spiritus rector, kein Lebens-, Wasser- oder Feuergeist zu erkennen.« 3) Mit dieser Erkenntnis nahm er wohl am eindeutigsten gegen die Kirche Stellung.
     Voraussetzung für derartig tiefgreifende, verändernde Erkenntnisse war natürlich in erster Linie Virchows profunder Überblick über die gesamte Medizin sowie ihre theoretischen Fachgebiete (vor allem der sich herausbildenden Physiologie) und angrenzender Gebiete (Biologie, Chemie, Physik). Aber eben auch die Fähigkeit zum philosopischen Denken. Für Virchows Zeit hieß das vorrangig, den sich langsam, aber stetig fundierenden Naturwissenschaften im Wissenschaftsgefüge Platz und Geltung zu verschaffen.
     Virchow verfügte über das erforderliche Gespür und Wissen und über die Fähigkeit, autodidaktisch in für ihn fremde Wissensgebiete schnell einzudringen und gültige Aussagen zu treffen. Und er besaß schon als 24jähriger Eleve der militärmedizinischen Pépinière die notwendige Courage, in seiner Festrede zum 95. Geburtstag des Begründers Johann Goercke (1750-1822) im Mai 1845 vor einem der romantischen Naturphilosophie

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und dem Vitalismus anhängenden ärztlichen Zuhörerkreis erste Elemente seiner Theorie unter dem Titel »Über das Bedürfnis und die Richtigkeit einer Medizin vom mechanischen Standpunkt« zu verkünden. Die unentgeltliche Pépinière mußte er besuchen, weil sein Vater als Stadtkämmerer ihm das teure und lange Medizinstudium nicht finanzieren konnte. Militärarzt wurde er dennoch nicht, da er an der Charité als Prosektor eine hoffnungsvolle akademische Laufbahn beginnen konnte. Diese wurde wegen seiner Beteiligung an der 48er Revolution durch Relegierung 1849 zwar in Berlin unterbrochen, setzte sich jedoch in Würzburg als pathologischer Ordinarius erfolgreich fort. 1856 kehrte er als Lehrstuhlinhaber nach Berlin zurück.

Der Arzt muß Anwalt
der Armen sein

Die soziale Komponente seiner Forderungen an die »öffentliche Gesundheitspflege« rührten neben anderem aus Virchows im Auftrag der preußischen Regierung Anfang 1848 in Oberschlesien vorgenommer Untersuchung der dort grassierenden Typhusepidemie. Sein Resumee: Die katastrophalen sozialen Bedingungen und fehlende Bildung seien die Hauptursachen. Als Republikaner war er zutiefst davon überzeugt, daß sich Besserungen einstellen werden, »denn die Menschheit hat noch jedem wahrhaft menschlichem Gedan

ken Geltung verschafft«. 4) Durch die 48er Revolution endgültig zum radikalen Demokraten geworden, galt für ihn ein Leben lang: Der Arzt muß der natürliche Anwalt der Armen sein. Zur Durchsetzung dieses Anliegens finden wir ihn als einen der fünf Mitbegründer der liberalen Fortschrittspartei von 1862. Über vier Jahrzehnte focht er Säbel statt Florett als Abgeordneter im Preußischen Landtag und gleichzeitig in der Berliner Stadtverordnetenversammlung und dazu noch 13 Jahre im Deutschen Reichstag. Maßgeblich war Virchow an der Schaffung des Rieselfeldersystems in Berlin und dem Bau des ersten städtischen Krankenhauses im Friedrichshain beteiligt. Das von ihm bis zu seinem Tod 1902 geleitete Pathologische Institut der Charité führte er zu Weltgeltung. Unter Pathologen galt sein Institut als erste Adresse.

Quellen:
1 R. Virchow: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, Berlin 1858
2 Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin, Bd. VIII (1855),
S. 23
3 R. Virchow: Vier Reden über Leben und Krankheit, 1862, S.26
4 R. Virchow: Was die »medicinische Reform« will, In: Die medicinische Reform. Nr. 1 vom 10. Juli 1848


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Denkanstöße:

Ich halte auf mein Recht und darum erkenne ich auch das Recht der Anderen an. Das ist mein Standpunkt im Leben, in der Politik, in der Wissenschaft. Wir sind es uns schuldig, unser Recht zu verteidigen, denn es ist die einzige Bürgschaft unserer individuellen Entwicklung und unseres Einflusses auf das Allgemeine. Eine solche Verteidigung ist keine Tat eitlen Ehrgeizes, kein Aufgeben des rein wissenschaftlichen Strebens. Denn wenn wir der Wissenschaft dienen wollen, so müssen wir sie auch ausbreiten, nicht bloss in unserem eigenen Wissen, sondern auch in der Schätzung der Anderen. Diese Schätzung aber beruht zum großen Teile auf der Anerkennung, die unser Recht, auf dem Vertrauen, das unsere Forschung bei den Anderen findet, und das ist der Grund, warum ich auf mein Recht halte.
     Aus: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, Berlin 1858, Vorrede

Über den Glauben läßt sich wissenschaftlich nicht rechten, denn die Wissenschaft und der Glaube schließen sich aus. Nicht so, daß der eine die andere unmöglich machte oder umgekehrt, sondern so, daß, soweit die Wissenschaft reicht, kein Glaube existiert und der Glaube erst da anfangen darf, wo die Wissenschaft aufhört. Es läßt sich nicht

leugnen, daß, wenn diese Grenze eingehalten wird, der Glaube wirklich real Objekte haben kann. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es daher nicht, die Gegenstände des Glaubens anzugreifen, sondern nur die Grenzen zu stecken, welche die Erkenntnisse erreichen kann, und innerhalb derselben das einheitliche Selbstbewußtsein zu begründen.
     Aus: Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medizin. Frankfurt am Main, 1856, S. 8

Daher ist der Humanismus weder atheistisch noch pantheistisch, denn er kennt für Alles, was jenseits der Grenzen der Erkenntnis liegt, nur eine Formel: ich weiß nicht.
     Er ist weder rein spiritualistisch noch rein materialistisch, denn für ihn sind Konstanz der Kraft und Konstanz der Materie gleichbedeutende Formeln, entsprechend der Überzeugung von der Einheit des menschlichen Wesens.
     Er ist weder egoistisch noch sentimental hingebend, denn, indem er die Berechtigung aller Einzelnen auf einheitliche Entwicklung anerkennt, muß er notwendig die gleiche Berechtigung fordern.
     Aus: Ebenda, S. 8

Es genügt nicht, den realistischen, sinnlichen Ursprung des Denkens nachzuweisen,


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sondern man muß auch den realistischen Vorgang, das körperliche Geschehen des Denkens zugestehen. Der Mensch gelangt erst dann zur sicheren Begründung seiner Individualität, wenn er in sich selbst die Einheit von Denken und Sein findet, wenn er erkennt, daß alles außer für ihn nur durch ihn selbst da ist und daß all sein Empfinden und Denken sich nur auf Zustände seiner selbst bezieht. Indem das Bewußtsein sich auf einen kleinen Kreis von Organen beschränkt, so sind es auch immer nur die Zustände und Vorgänge in diesen Organen, welche dem Bewußtsein unterworfen sind, und alle äußeren und inneren Erscheinungen können nur durch die Vermittlung dieser Organe, insofern sie im Stande sind, an denselben Veränderungen hervorzubringen, zum Bewußtsein gelangen.
     Aus: Ebenda, S. 12

Jeder bedeutende Fortschritt der Naturwissenschaften bringt ein solches Ereignis mit einer gewissen Notwendigkeit mit sich, indem er eine Reihe von Voraussetzungen zerstört, auf denen ein Teil der kirchlichen und politischen Dogmen errichtet ist. Wie zu den Zeiten des Galilei wird auch künftig der Konflikt niemals ausbleiben, so oft die Wissenschaft in ihrem unaufhaltsamen Fortschritt genötigt wird, ihre Grenzen vorzurücken. Dieses Vorrücken wird von den

Dogmatikern natürlich als ein Angriff betrachtet, wenn es sich auch nur um die Geltendmachung von Hoheitsrechten der Wissenschaft über ein ihr zustehendes Gebiet handelt; sie suchen mit aller Gewalt ihren traditionellen Besitz zu behaupten und bringen es durch ihren ungerechten Widerstand endlich dahin, das die Ungestümeren unter ihren Gegnern wirklich aggressiv werden.
     Aus: Ebenda, S. 17

Kein Naturforscher, er mag eine noch so materialistische Richtung haben, wird es in Abrede stellen, daß der Mensch denkt, daß dieses sein Denken nach bestimmten Gesetzen vor sich geht und daß der denkende Mensch sich selbst bestimmen, seine Handlungen regulieren kann. Dies aber sind auch die Voraussetzungen eines Staatsmannes und des Richters, welche den gesetzmäßig denkenden und darum zurechnungsfähigen Menschen für seine Handlungen verantwortlich machen.
     Aus: Ebenda, S. 19

Sowohl die Philosophie, als die Chemie und die anderen Naturwissenschaften sind für die Medizin nicht bloß nicht gleichgültig, sondern sie sind die notwendigen Grundlagen der Untersuchung. Der Arzt muß aus ihnen Methoden und positive Kenntnisse


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entnehmen, aber dann selbst Naturforscher sein und mit Kritik beobachten und denken. Seine Sinne und sein Denken müssen seine obersten Autoritäten sein.
     Aus: Ebenda, S. 31

In der Tat, eine Bewegung, deren Gleichen die Weltgeschichte nicht kennt, hat uns vom Standpunkt der dynastischen und territorialen Politik, dem rein politischen zu dem sozial-politischen, dem der nationalen und demokratischen Politik geführt; ihre endliche Ruhe wird sie aber erst dann finden, wenn wir auf dem kosmopolitischen Standpunkt, dem der humanen, naturwissenschaftlichen Politik, dem der Anthropologie oder der Physiologie (im weitesten Sinne) angelangt sein werden. Und einer solchen Bewegung gegenüber will man uns sagen, die Medizin habe mit der Politik nichts zu tun?
Aus: Die öffentliche Gesundheitspflege, In: Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der Medizin und Seuchenlehre, 1. Bd., Berlin 1879, S. 15

Der demokratische Staat will das Wohlsein aller Staatsbürger, denn er erkennt die gleiche Berechtigung Aller an. Indem die allgemeine gleiche Berechtigung zur Selbstregierung führt, so hat der Staat auch das Recht zu hoffen, daß jedermann innerhalb

der Schranken der vom Volk selbst errichtenten Grenzen sich einen Zustand des Wohlseins durch eigene Arbeit zu erringen und begründen wissen werde. Die Bedingungen des Wohlseins sind aber Gesundheit und Bildung, und die Aufgabe des Staates ist daher, die Mittel zur Erhaltung und Vermehrung der Gesundheit und Bildung in möglichst größtem Umfang durch die Herstellung öffentlicher Gesundheitspflege und öffentlichen Unterrichts zu gewähren.
     Aus: Ebenda, S. 15
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/1996
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