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»Die Olympiade unter der Diktatur«

Rekonstruktion einer Ausstellung von 1936 im Ephraim-Palais.

Genau zum 60. Jahrestag der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele von Berlin, am 1. August 1996, und noch während der mäßig herrschenden Olympiabegeisterung im Zusammenhang mit den zu diesem Zeitpunkt gerade laufenden Olympischen Spielen in Atlanta, wurde den Berlinern im Ephraim- Palais eine Ausstellung zugänglich gemacht, die an die problematische Ambivalenz der seinerzeitigen Berliner Olympischen Spiele erinnert. Das Sportmuseum - Ausstellungsbereich des »Stadtmuseums Berlin. Landesmuseum für Kultur und Geschichte Berlins« - hat schon im Vorfeld des prekären 60. Jahrestags in einer Sonderausstellung im Postmuseum Schöneberg, An der Urania (»Hundert Jahre Olympische Spiele 1896-1996«; noch geöffnet bis Ende September), auch dieses Ereignisses gedacht und dabei ohne Ängste dessen Ambivalenz zur Sprache gebracht: Die Olympiade 1936, vom NS-Regime zur Propagandaveranstaltung im Sinne einer monströsen Selbstdarstellung umgeformt, ist doch unter dem Aspekt eines Rückblicks auf einhundert Jahre Olympischer Spiele der Neuzeit nicht nur allein durch diese Zielsetzung geprägt, sondern auch durchaus zu bewerten am Maßstab gewisser Trendsetzung für danach folgende Sommerspiele hinsichtlich Organisation und Einsatz moderner technischer Mittel (z. B. Fernsehen!). Selbst durchaus liberalen Werten verbundene Repräsentanten des internationalen Sports steckten damals ihre Bedenken gegen Spiele in NS- Deutschland zurück und glaubten, den Sport aus politischen Frontstellungen heraushalten zu können - was während der sportlichen Wettbewerbe auch nach außen hin zu gelingen schien. Man denke nur an das gefeierte Sportleridol Jesse Owens, einen Schwarzen!

Auf der die Spiele begleitenden Kulturolympiade sah das schon anders aus: Dorthin hatten 900 Künstler aus 24 Ländern eingesandt, aber von einem Querschnitt durch die Weltkunst konnte nicht im geringsten die Rede sein. Es herrschten bei der vorgegebenen Thematik (Sportstätten und Szenen aus der Welt des Sports) durchweg Heroisierungen des Menschenbildes vor, wie sie den rassistisch gesinnten Veranstaltern dieses Kulturereignisses gerade zupaß kamen (entsprechend fiel dort die Medaillenvergabe aus!). Das hatte man in der kritischen Kunstwelt schon vorher nicht anders erwartet, denn kritische Kunst (ob sie nun die Gesellschaft betraf oder das Abbild der Umwelt) war seit 1933 in Deutschland kein gewünschter Partner und bereits vielfachen Verleumdungen und Verdrängungen ausgesetzt. Daß noch heute auf dem »Reichssportfeld« von 1936 eine beachtliche Anzahl von Skulpturen zu besichtigen sind, die als Auftragswerke des NS-Regimes geradezu in Stein und Bronze geronnene Manifestationen des auf Makellosigkeit und Kraftprotzerei fixierten Menschenbildes der damaligen Machthaber darstellen, ist in Berlin - etwa im Vorfeld der so glanzlos gescheiterten Olympia- Bewerbung für die Sommerspiele des Jahres 2000 - nicht ohne Kritik geblieben. Eine von manchen Seiten geforderte Radikallösung steht allerdings inzwischen (durch eine gewachsene Sensibilisierung für den Umgang mit den öffentlichen Sachzeugen eigener Geschichte) nicht mehr im Mittelpunkt von kritischen Überlegungen - dazu mag auch die Erfahrung mit der »Abwicklung« öffentlicher Sachzeugen von 45 Jahren deutscher Realität auf dem Boden der DDR beigetragen haben ...
     In die vielerorts gestarteten Initiativen zu Gegenveranstaltungen gegen den von linken Intellektuellen und Politikern vorhergesagten Mißbrauch der Olympischen Spiele von 1936 für Nazi- Propaganda reihte sich das Projekt des niederländischen »Künstlerbundes zur Verteidigung kultureller Rechte« ein, dem für Berlin ausgeschriebenen »Olympia der Kunst« eine unabhängige Kunstolympiade entgegenzusetzen.
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Ihr holländischer Titel »De olympiade onder dictatuur« in ihren Anfangsinitialen D.O.O.D. (= tot) symbolisierte von vornherein einen kämpferischen Akzent. Mit ihr sollte z. B. auch den jüdischen, antifaschistischen und modernistischen Künstlern, denen eine Teilnahme am »Olympia der Kunst« nicht nur widerstand, sondern auch unmöglich war - weil sie in Deutschland zumindest totgeschwiegen, aber auch schon verfemt wurden -, eine Gelegenheit zur Ausstellung ihrer themenbezogenen Werke gegeben werden. Wer zu der niederländischen Ausstellung einsandte, protestierte gegen die Benutzung Olympias als Feigenblatt für die schon damals auf dem Exerziergelände Deutschland ablaufenden Greueltaten auf dem Felde von Verfolgung und Vernichtung Andersdenkender und schamloser staatlicher Praktizierung von Rassenwahn. Es waren schließlich ca. 150 Künstler mit mehr als 300 Arbeiten an der Protest- Ausstellung beteiligt - darunter etliche deutsche Emigranten mit ihren ganz persönlichen Erfahrungen mit dem kulturellen Niveau in Hitlerdeutschland. Sie wurde pünktlich zum Beginn der Spiele am 1. August 1936 in einem Privathaus in Amsterdam (Singelgracht 530) eröffnet.
Ausstellungsplakat
»D-O-O-D - de olympiade onder dictatuur«, 1936
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Die Kunstwerke widmeten sich nur in wenigen Fällen dem Thema Sport bzw. dessen Mißbrauch durch die NS- Propaganda - die Ausstelllungsgestalter mußten angesichts der eingesandten Arbeiten eine inhaltliche Umorientierung vornehmen; sie konnten nun einen Spiegel der zeitgenössischen nicht- faschistischen europäischen Kunstszene bieten. Um den ursprünglich angedachten Charakter dennoch sichtbar zu machen, fügten sie der Ausstellung einen Dokumentationsteil bei, der Einblick in die Wirklichkeit von SA- Folterkellern, rassistischer Diskriminierung und offiziellem Kunstbanausentum als dem derzeit herrschenden Zeitgeist in NS- Deutschland gab. Wer in die Ausstellung der Kunstwerke wollte, mußte zunächst diese Etage passieren - über deren Eingang ein großes Schild bekundete: »Diese Ausstellung richtet sich nicht gegen das deutsche Volk!«
     »De olympiade onder dictatuur« präsentierte sich in Amsterdam bis Mitte Oktober 1936 und wanderte dann nach Rotterdam, wo sie allerdings im Zusammenspiel von wütend protestierendem deutschen Generalkonsul und nachgiebiger Stadtverwaltung schon nach wenigen Tagen polizeilich geschlossen wurde. Da das öffentliche Medienecho gering gewesen war (die bürgerlichen Medien hatten europaweit genug damit zu tun, dem organisatorischen Perfektionismus der Berliner Olympiade zu huldigen - und danach verdrängten die Nachrichten von der Generalsrevolte in Spanien und der Volksantwort darauf viel von anderem Geschehen), geriet sie in Vergessenheit. Erst 1993 fanden Mitarbeiter des Stadtarchivs (»Gemeentearchief«) Amsterdam Aktenbände zu der Angelegenheit, und sie kamen auf den zunächst abenteuerlichen Gedanken, diese Ausstellung nach sechs Jahrzehnten wenigstens teilweise zu rekonstruieren.
Es gelang schließlich in einem zunächst nicht erwarteten Maße, und vom 27. Mai bis zum 19. Mai 1996 wurde sie der Öffentlichkeit im Gebäude des Stadtarchivs Amsterdam präsentiert. Dem Berliner Sportmuseum ist es zu danken, daß es der Nachricht von dieser speziellen Rekonstruktion nachging und die niederländischen Rechercheure und Gestalter davon überzeugte, daß es eine Art später Wiedergutmachung wäre, die aus dem Vergessen wiedererstandene Ausstellung nun ausgerechnet in der Stadt zu zeigen, die 1936 jene offizielle Ausstellung beherbergte, gegen die sich D.O.O.D. richtete. So wurde dann die rekonstruierte Ausstellung nach Deutschland verliehen - aber ausdrücklich nur in die Stadt der XI. Olympischen Sommerspiele, also nach Berlin. Daß nun das Ephraim- Palais zum Berliner Ort der Amsterdamer Ausstellung ausgewählt wurde, entbehrt auch nicht der tieferen symbolischen Bedeutung: als einen vorbereitenden Schritt für die Totalpropagierung des Sports als Mittel der Ertüchtigung für Kampf und Wehrwillen lösten die Berliner NS- Behörden schon 1934 den 1925 in diesem Gebäude gegründeten Verein »Museum für Leibesübungen« auf, weil dessen Sicht auf den humanistischen Charakter von Sport und Körperkultur nicht in den offiziellen Kram paßte; so ist die Ansiedlung von »Die Olympiade unter der Diktatur« speziell in diesem Gebäude ebenfalls als gelungene Geste einer verdienten Rehabilitierung zu sehen.
     Die Ausstellung - zu der auch kontinuierlich ein Videofilm läuft - ist noch bis zum 29. September geöffnet. Ein instruktiver Katalog, der dank eines Druckkostenzuschusses des Vereins der Freunde und Förderer des Stadtmuseums zustande kam, ist zum Preise von 39,- DM an der Kasse erhältlich.
     Kurt Wernicke
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Der Bär von Berlin

Jahrbuch 1995 des Vereins für die Geschichte Berlins

Auch dieses jüngste Jahrbuch, vierundvierzigste Folge, ist würdiges Zeugnis der Tätigkeit und des Anliegens eines traditionsreichen, ja des ältesten berlinhistorischen Vereins, gegründet im Januar 1865. Bis heute fühlt er sich der Erforschung und Verbreitung der Geschichte Berlins sowie neuer Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet verpflichtet. Von Ernst Kaeber herausgegeben, erschien das Jahrbuch 1951 zum erstenmal. Ab 1955 hieß es »Der Bär von Berlin«. Das Jahrbuch beweist, daß der Verein wieder als Gesamtberliner Verein wirkt und hier seine Zukunft haben wird.
     Die Schriftleitung lag in den Händen von Kunstwissenschaftlerin Sybille Einholz und Archivdirektor Jürgen Wetzel vom Landesarchiv Berlin, beide langjährige Vorstandsmitglieder. Das Umschlagbild zeigt ein Standbild Friedrich Wilhelms IV. von Karl Begas (ehemals Siegesallee, heute Zitadelle Spandau). Eingeleitet wird das Jahrbuch mit dem Beitrag von Peter Rohrlach »Rosenfelde - Friedrichsfelde«. Untertitel: Ein geschichtlicher Überlick.
     Der Autor spannt einen historischen Bogen von der ersten urkundlichen Erwähnung des Dorfes Rosenfelde durch den Zeugen Pfarrer »Lodewicus de Rosenvelde« am 2. April 1265 anläßlich der Übereignung des Zehnten der Kirche Lankwitz an das Nonnenkloster in Spandau bis zur Sorge um die Erhaltung des Schlosses Friedrichsfelde in unseren Tagen. Er führt eine nahezu lückenlose Beweisführung für die wechselvolle Geschichte des Schlosses Friedrichsfelde anhand wertvollsten Quellenstoffes und neuerschlossener Archivalien.

Als ein hervorragender Kenner der Quellenlage zu den Dörfern in und um Berlin stellt er fest, daß die Literatur zur Geschichte von Friedrichsfelde viele Irrtümer enthält, weil die zur Verfügung stehenden Quellen nicht oder nur mangelhaft genutzt wurden.
     » ... von ächt christlichem Geist durchweht« ist der Titel eines 16seitigen Beitrages des Kunsthistorikers Gerd-H. Zuchold. Das Titelzitat stammt aus einem Brief Friedrich Wilhelms IV. (1795-1861) an Freiherr Christian Carl Josias von Bunsen (1791-1860). Der Untertitel: Kirchenbauten und Entwürfe sakraler Architektur Friedrich Wilhelms IV. Der Autor nennt den Monarchen den »unzweifelhaft frömmste(n) unter den Markgrafen, Kurfürsten, Königen und Kaisern in Brandenburg und Preußen«. Zum Jubiläum seines 200. Geburtstages wird das Bild eines Mannes gezeichnet, der »durch seine Kirchenbauten ... ein steinernes Gotteslob der Nachwelt hinterlassen« wollte.
     Anhand von über 60 Quellenanmerkungen will er auch zeigen, daß sich das Herrscherverständnis Friedrich Wilhelms IV. hauptsächlich im Dialog mit zwei Männern bildete: Christian Carl Josias von Bunsen und Friedrich Julius Stahl (1802-1873).
     »Das Berliner Rathaus - Bau- und Nutzungsgeschichte« stellt den umfangreichsten Beitrag des Bandes dar. Eine bauhistorische Beschreibung in zwei Teilen - Teil 1. dokumentieren Winfried Brenne, Ulrich Borgert und Katrin Birkmann mit 87 Anmerkungen und Quellenhinweisen. Die Veröffentlichung ist ein Teil einer umfassenden Gebäudedokumentation, die in den Jahren 1991/92 vom Architekturbüro Winfried Brenne im Auftrag des Senators für Bau- und Wohnungswesen mit dem Ziel einer Bestandserfassung des Gebäudes erstellt worden ist. Teil 1 umfaßt den Bau des Rathauses im letzten Jahrhundert.
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In dessen Hauptabschnitt wird »Das neue Rathaus von H. F. Waesemann« behandelt. Zahlreiche Fotos und eine Abbildung der Porträtbüste Hermann Friedrich Waesemanns sind enthalten.
     Ein zweiter Teil soll im Jahrbuch 1996 veröffentlicht werden. Er beschäftigt sich mit den baugeschichtlichen Veränderungen in der Vorkriegszeit und dem Wiederaufbau des kriegszerstörten Gebäudes.
     Einen Jubiläumsbeitrag bringt Iselin Gundermann vom Geheimen Staatsarchiv mit »Hundert Jahre Kaiser- Friedrich- Gedächtniskirche«. Drei Gedächtniskirchen wurden im Jahre 1895 zur Erinnerung an die jüngst verstorbenen Mitglieder des Kaiserhauses eingeweiht: die Kaiserin- Augusta- Gedächtniskirche oder Gnadenkirche im Invalidenpark, die Kaiser- Wilhelm- Gedächtniskirche in Charlottenburg und die Kaiser- Friedrich- Gedächtniskirche am Tiergarten im Hansaviertel. Ein Exkurs über »Kaiser Friedrich III. und die Kirche« schließt den Beitrag ab.
     Eine Episode, die Ende des vorigen Jahrhunderts Schlagzeilen machen sollte, erzählt Winfried Löschburg mit »Ein Kaiserporträt für Paris«. Den Ausgangspunkt siedelt er im damals bekannten Kunsthaus Eduard Schulte Unter den Linden 4 a an.
     »Neu ausgestellt: Max Koner: »Porträt Seiner Majestät des Kaisers und Königs (Gemalt im Allerhöchsten Auftrage für die Deutsche Botschaft in Paris)« wirbt ein Inserat am 9. Januar 1891 für eine Ausstellung. Es war jenes Porträt, zu dem der damalige französische Kriegsminister Marquis de Gallifet erklärt haben soll: »Bild? Das ist kein Bild, das ist eine Kriegserklärung.« Der Autor stellt mit der Geschichte des Porträts vor allem anhand der Konerbiographie von Max Jordan auch den Maler, Sohn des bekannten Direktors der Königlichen Bibliothek, vor, der nach diesem Porträt zu einem der begehrtesten Porträtisten in Berlin geworden war.
     »Ein Japaner in Berlin« mit dem Untertitel »Auf den Spuren des Schriftstellers Mori Ogai im Berlin der Kaiserzeit« heißt ein Beitrag der Japanologin Evelyn Einholz, jenem Mann gewidmet, der die deutsche Literatur nach Japan brachte.
In den Jahren von 1884-1888 weilte Mori Ogai zu einem Studienaufenthalt in Deutschland. Eine Gedenktafel am Haus Luisenstraße 39 erinnert:
»Von 1887-1888 wohnte hier Mori Ogai
1862-1922
der Mitbegründer
der modernen japanischen Literatur/
Schriftsteller/ und Kritiker
Erster japanischer Übersetzer des Faust
Der Werke Lessings, Kleists
und E. T. A. Hoffmanns«.

In den Räumen der ehemaligen Pension »Stern«, in der Ogai einige Monate wohnte, befindet sich heute die 1989 wieder neu für die Öffentlichkeit zugänglich gemachte Mori-Ogai- Gedenkstätte der Humboldt- Universität. Schon 1984 ist durch Initiative von Jürgen Bernd von der Humboldt- Universität diese Gedenkstätte entstanden. Die zeitgemäße Einrichtung ist Charlotte von Mahlsdorf zu danken. Die Autorin läßt den Leser mit Vergnügen und Erstaunen die Eindrücke von Mori Ogai in Berlin erleben. Neben vielen anderen Fotos ist ein Erinnerungsfoto an den Aufenthalt Robert Kochs in Japan (1908) zu finden.
     »Den Frauen setzt die Öffentlichkeit keine Denkmäler« ist der Titel eines Artikels der Kunstwissenschaftlerin Brigitte Hüfler. Forschungen zum 19. und 20. Jahrhundert, so der Untertitel. Gemeint ist die Darstellung der Frau im öffentlichen Berliner Raum. Die Autorin verweist dabei auf ihre Veröffentlichungen zu diesem Problemkreis. »Neben der nicht vorhandenen Bildhauerin bei Großaufträgen im 19. Jahrhundert existierte auch die Individualdarstellung der Frau im Denkmal nicht - eine Tatsache, die im 20. Jahrhundert keine positivere Entwicklung genommen hat.« Ausnahmen seien die Darstellung der Frau als Herrscherin oder als Mutter. Durch den Verlust eines exemplarischen Menschenbildes in der Bildhauerei seien außerdem im 20. Jahrhundert an diese Stelle die »Stehenden«, #187;Ruhenden«, »Schreitenden« usw. getreten.
     »Die Berliner Juden unter dem Nationalsozialismus« von Hermann Simon schließt die Reihe der wissenschaftlichen Beiträge des Jahrbuches.
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   109   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Unter »Juden« versteht der Autor Personen, die sich zur Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft bekannten und auch von den Nazis als Juden qualifiziert wurden. Der Autor grenzt das Thema insofern ein, als er sich vor allem mit der Gruppe jener Juden befaßt, die bis zuletzt in Berlin lebten und durch die Rote Armee befreit worden sind. Er vermerkt, daß es sich nahezu ausschließlich um Einzelschicksale handelt und die Memoirenliteratur eine wichtige Quelle darstellt. Zitiert wird aus den Memoiren des Predigers der Jüdischen Gemeinde und späteren Landesrabbiners der DDR, Martin Riesenburger, der seit Juni 1943 auch auf dem größten Jüdischen Friedhof Europas, in Weißensee, wirkte. Das Ende der Jüdischen Gemeinde Berlins sei bis heute weitgehend unerforscht.
     Die letzten Seiten jedes Jahrbuches sind traditionell der Tätigkeit des Vereins gewidmet. Vorträge, Ausstellungen und eine Studienfahrt nach Jena werden genannt. Der Vorsitzende des Vereins, Hermann Oxfort, erstattet den Bericht zur Ordentlichen Mitgliederversammlung im Roten Rathaus, das wieder Tagungsort des Vereins sein kann. Peter Bloch, langjähriger Direktor der Skulpturengalerie der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, wurde die Fidicin- Medaille, die höchste Auszeichnung des Vereins, verliehen. Berichtet wird auch über größere Bemühungen, eine neue Heimstatt für die nahezu 15 000 Bände umfassende Vereinsbibliothek zu finden, die bis heute in der Berliner Straße in Wilmersdorf untergebracht ist.
     Jutta Schneider
Hella Kaiser
Märkte und Markthallen

Das besondere Berliner Einkaufserlebnis
Berlinothek Argon, Berlin 1994

Für den Berliner war und ist der Markt das Einkaufserlebnis schlechthin. Er lockt sie alle an: die Hausfrau wie den Hausmann, den Flaneur wie den Tippelbruder, den Touristen wie den Hastenden. Feilschen und meckern erfolgt hier genauso offen, wie Belustigung und lebenspraktische Ratschläge verkannter Philosophen frei Stand geliefert werden. Berlin hat gegenwärtig 130 solcher bedachten und unbedachten Passagen auf Zeit. Doch wer unter den Marktgängern bisher immer noch glaubte, Märkte sind gleich Märkte, wird nach der Lektüre dieses kleinen Büchleins nicht nur eines anderen belehrt, sondern auch neugierig gemacht. Neugierig auf ein Stück Berliner Kultur, wo es zwar immer um det gleiche jeht, nämlich koofen und verkoofen, aber doch jedesmal ein bißchen anders. Warum das so ist, sucht Hella Kaiser mit ihrem Marktverführer aufzuhellen. Zuerst einmal muß man wissen, daß jeder Bezirk Berlins, ja manchmal sogar einzelne Standorte, ihren Markttraditionen und ihren Kundenbedürfnissen entsprechend unterschiedliche typische Angebotspaletten aufbauen. Dann vor allem: Es gibt Wochenmärkte, sie werden an bestimmten Tagen der Woche eingerichtet; Ökomärkte, die an einem Tag in der Woche biologisch kontrollierte Waren anbieten; die überdachten Märkte, genannt Markthallen, die meist fünf bis sechs Tage in der Woche geöffnet sind; die Flohmärkte, die meist an Wochenenden und Feiertagen Käufer animieren; die Kunstmärkte mit unterschiedlichen Verkaufstagen und schließlich die saisonalbedingten Weihnachtsmärkte.

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   110   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Zu allen existierenden Märkten gibt das Büchlein einen Überblick über Ort, Erreichbarkeit, Öffnungszeit und spezielle Angebote. Also ein unverzichtbarer Wegweiser in die Berliner Marktwelt. Besonders typische Beispiele dieser Welt stellt uns die Autorin unterhaltsam vor, erzählt uns kuriose Geschichten rund um die Märkte und beschreibt einige Exemplare von den Typen, ohne die auf den Märkten nichts läuft: die Händler. Daß die Einheit auch folgenreich für die Berliner Märkte war und ist, wird dabei ebensowenig ausgelassen wie der Einfluß der Zugereisten aus deutschen und fremden Landen. Ein unterhaltsames Buch, das, wie kann dies anders sein, wenn von Hauptstädten die Rede ist, nicht frei ist von Übertreibungen wie zum Beispiel die, wonach Berlin als die »marktfreudigste« Stadt Deutschlands gelten soll und der Weihnachstmarkt in Spandau der größte Deutschlands sei.
     Hans-Jürgen Mende
 

Gerhard L. Durlacher
Die Suche

Bericht über den Tod und das Überleben
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1995

Innerhalb der autobiographischen »Tetralogie des Erinnerns« ist dies der dritte, abschließende Band nach »Ertrinken. Eine Kindheit im Dritten Reich« und »Streifen am Himmel. Vom Anfang und Ende einer Reise«. Aber der Autor hat damit seine Erinnerungen wohl längst nicht beendet, wie der 1993 in Holland erschienene Titel »Quarantaine« belegt.
     Gerhard L. Durlacher (1928) ist einer der wenigen jüdischen Überlebenden eines deutschen Konzentrationslagers. Theresienstadt und Auschwitz- Birkenau waren seine Stationen. Und im vorliegenden Buch sucht der Autor andere Überlebende, besucht sie und spricht mit ihnen, um Antwort zu finden auf die Frage: »Wie leben wir nach der Shoah.«

Minutiös berichtet er, wie er jeden früheren Leidensgenossen vorgefunden hat, um dann zu resümieren: »Jeder meiner Schicksalgefährten kämpft auf eigene Weise und hält den Kopf hoch, aber alle bedrückt die Last der Vergangenheit.« (S. 140/141)
     Durlacher beginnt seinen Bericht mit einer Reise nach Israel. Hier will er im Archiv von Yad Vashem nach neuem Material suchen, hier will er aber auch Kameraden von damals, aus der Lagerzeit, treffen: Zwi, den Chirurgen, Yehuda, den Maler, Dov, den Historiker, und Sinai, den Rabbi. In diesem Kreis erst wird das Thema bestimmt und präzisiert, das dann den roten Faden des Buches ausmacht: Die Gruppe der Jungen zwischen dreizehn und sechzehn Jahren zu untersuchen, die 1944 im KZ Birkenau zusammen war und von der fast ein Fünftel die Befreiung erlebt hat (S. 33).
     In den USA, der nächsten Station Durlachers, trifft er mit dem Arzt Dick zusammen, der eine junge Nichtjüdin zur Frau hat, die er eigentlich von seiner Vergangenheit fernhalten wollte und die dann doch hineingezogen wird. Hier hat er aber auch jenes »Tischgespräch in Queens« mit Karel, von dem er eine ergreifende Lebensgeschichte erfährt, die weit über die Lagerzeit hinausreicht und in der Wut und Verbitterung das Leben bestimmen. Gerade nach diesem Gespräch wird dem Autor klar, daß er eigentlich nach Lichtblicken in einer schwarzen Vergangenheit sucht - und daß dies eine Illusion bleiben muß.
     Beim Treffen mit Harry, dem Ingenieur, werden der Autor und mit ihm der Leser geradezu überflutet mit Geschichten und Informationen, obwohl am Beginn ein »Widerstand gegen den Lavastrom der Vergangenheit« (S. 92) steht, der wie ein Schutzwall wirkt und dann doch zusammenbricht.
     In Kanada kommt zuerst ein Treffen mit Misha zustande. Er hat unmittelbar nach der Befreiung in einem Sanatorium alles Wissen über die Lagerzeit niedergeschrieben und sich damit davon so befreit, daß er nun kaum noch etwas weiß.
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   111   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattArtikelanfang
Jindra, der nächste Gesprächspartner, ist derart in seinem jetzigen Leben integriert, daß Durlacher ihn gleichermaßen beneidet und bedauert: »Er hat immerhin seine Neue Welt gefunden. Die eigene Alte Welt hat er verloren.« (S. 130) John und Robin sind die letzten in der langen Reihe der Gesprächspartner, deren Erzählungen uns der Autor mitteilt.
     Am Schluß steht der Bericht vom Treffen der Überlebenden in Israel. Noch einmal kommen neue Namen hinzu, neue Geschichten. Und immer wieder die brennende Frage: Warum haben gerade wir überlebt? Auf alle Fragen, die Durlacher in seinem Buch stellt, so sagt er selbst, kann es keine überzeugenden Antworten geben. Im abschließenden Kapitel »Das Gebot des Lebens« erscheint als eine Art Zusammenfassung aller Einzelschicksale mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit und individuellen Gegenwart die Feststellung: »>Wir leben in gestundeter Zeit< sind die Worte, die wir alle sagen. Sie deuten das Geheimnis an, das unergründlich ist.« (S. 176)
     Unter den Erinnerungsbüchern über das Leiden der Juden in den Konzentrationslagern nimmt Durlachers Arbeit einen besonderen Platz ein. Zum ersten wird hier nicht ein Einzelschicksal dargestellt, sondern das Schicksal einer spezifischen Gruppe; trotzdem bleiben die Berichte der einzelnen Männer in ihrer individuellen Eigenart bestehen.
Zum zweiten geht es niemals nur um die Erinnerung an die Lagerzeit, sondern immer auch um die Zeit danach; es wird auf schmerzhafte Weise sichtbar, welche unterschiedlichen Wege der Verarbeitung einer solchen Vergangenheit gegangen werden - und wie mager die Ergebnisse einer solchen »Bewältigung« bleiben müssen. Zum dritten läßt der Autor seine Kameraden nicht nur über sich selbst reflektieren, sondern er mißt sein eigenes Leben und seine eigene Art des Umgangs mit der Vergangenheit an diesen Erfahrungen. Da diese verschiedenen Sichten eng miteinander verwoben sind, ist es nicht immer leicht, sie hinter dem jeweiligen Lebensbericht zu entdecken und mitzulesen. Gerade darin liegt jedoch die tiefe Wirkung des Buches.
     Eberhard Fromm
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/1996
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