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Heinz Knobloch (1994), Bosiljka Schedlich und Hans Koschnik (1996).
     Toleranz ist eine vertrackte Sache, etwas, das vielfach auslegbar ist, etwas, worunter eigentlich jeder etwas anderes versteht - oder mißversteht - mit einem Wort: eben vertrackt! Wer ist warum tolerant, wie äußert sich Toleranz und schließlich, was ist schon oder noch tolerant oder vielleicht bereits etwas ganz anderes?
Diese Vertracktheit beginnt bereits beim Namensgeber dieses Preises, bei Moses Mendelssohn, dem Philosophen der Aufklärung. Mendelssohn lebte im Berlin der Mitte des 18. Jahrhunderts in einer Umwelt, die für ihn, den Juden ohne persönliche »Aufenthalts- und Arbeitsberechtigung«, unsicher und gefährlich war. Selbst seine jüdische Gemeinschaft konnte ihm nur bedingten Schutz geben. Eigentlich sollte man vermuten, daß Mendelssohn unter diesen Umständen eher zu Mißtrauen als zu Vertrauen geneigt habe, aber er besaß trotz aller äußeren Schwierigkeiten die Gabe, oder besser noch, er eignete sie sich an, auf andere Menschen zuzugehen und sie sich zu Freunden zu machen. Seine Toleranz erwuchs also nicht aus einer ihm gegenüber geübten Toleranz, sondern sie erwuchs aus der Einsicht, daß die Grundlage menschlichen Zusammenlebens Toleranz und Vertrauen sein muß. Darüber hinaus suchte er immer all denjenigen zu helfen, die aufgrund ihres Minderheitsstatus Verfolgungen
Cécile
Lowenthal-Hensel
Toleranz und Vertrauen

Vor 16 Jahren wurde der Moses-Mendelssohn-Preis erstmalig verliehen

1967 wurde auf Initiative von Cécile Lowenthal-Hensel die Mendelssohn-Gesellschaft e. V. gegründet. Die Historikerin war lange Jahre Vorsitzende der Gesellschaft, die sich mit der Erforschung und Publizierung des Lebens und Wirkens der reichverzweigten Familie Mendelssohn befaßt. Anläßlich des 250. Geburtstages des Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn, auf den die Familie in Berlin zurückgeht, regte die Vorsitzende beim Senat die Stiftung eines Moses-Mendelssohn-Preises an. 1979 gestiftet, wird er seit 1980 vom Senat alle zwei Jahre am 6. September verliehen.
     Er soll »der Förderung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zwischen den Völkern, Rassen und Religionen« dienen. Preisträger waren bisher: Barbara Just-Dahlmann (1980), Eva G. Reichmann (1982), Liselotte Funke und Barbara John (1984), Yehudi Menuhin (1986), Helen Suzman (1988), Teddy Kollek (1990), Charlotte Schiffler und Wolfgang Thierse (1992), Inge Deutschkron und


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ausgesetzt waren, und zwar fast immer mit den Argumenten der Menschlichkeit, die sich von starren Verordnungen nicht einengen lassen will.
     Und hierin muß man wohl das Hauptkriterium für Toleranz sehen: trotz aller Schwierigkeiten und vielleicht trotz aller Enttäuschungen tolerantes Vertrauen zu bewahren, auch, um dieses Verhalten verständlich und - selbstverständlich zu machen. Mendelssohn wollte aber auch, daß Toleranz ohne Wenn und Aber geübt wird, ohne die Erfüllung irgendwelcher Voraussetzungen, in seinem Fall ohne den wie auch immer gearteten Zwang zur »Veränderung«, nämlich zur Taufe. Gleichzeitig eröffnete er seiner unterdrückten Minderheitengruppe, den Juden, die Möglichkeit, das Ihre zum neuen Miteinander zu leisten, indem er ihnen durch seine Bibelübersetzung den Weg zur deutschen Sprache und Kultur wies. Sein Nachruhm begründet sich also mit Recht mehr auf den Menschen Moses Mendelssohn als auf den »Aufklärer« und Philosophen.
     Hier würde nun der Berliner sagen: Und was lernt uns das? Ich glaube, eine ganze Menge. Dies zeigt sich an der Vielfalt des toleranten Handelns und seiner Gründe, wie wir sie bei den bisherigen Preisträgern beobachten konnten.
     Von Beginn an war es das Bestreben, »preiswürdiges« Handeln nicht allein im Bereich des Jüdisch-Christlichen allein zu
suchen - so wichtig dieser Bereich aus vielen Gründen auch war und ist. Schon die erste Preisträgerin, die damalige Oberstaatsanwältin Dr. Barbara Just-Dahlmann, kann als Beweis für dieses Bestreben gelten. Ihr wurde der Preis auch für ihren Einsatz gegen die Diskriminierung der Homosexuellen im Strafrecht und für Sinti und Roma zuerkannt.
     Daß die beiden Ausländerbeauftragten, Liselotte Funke im Bundesbereich und Barbara John in Berlin, nicht qua Amt ausgezeichnet wurden, ist selbstverständlich. Bei beiden Frauen wurde ihr Engagement und ihr über das übliche Maß weit hinausgehender Einsatz gewürdigt. Leider hat Frau Funke inzwischen auf ihr Amt verzichtet, vor allem enttäuscht durch mangelnde Unterstützung, während Frau John über alle Regierungswechsel in Berlin hinweg weiterhin tätig ist - auch, und das halte ich für wichtig, im behutsamen Heranführen einer fremden Minderheit an die schwierige und verwirrende Umwelt. Das Schlagwort von der »multikulturellen Gesellschaft« gewinnt eben nur da Leben, wo jede Gruppierung der anderen mit Toleranz begegnet.
     Mit der Soziologin Dr. Eva Reichmann in London wurde die Autorin eines für das Verstehen der schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit, während der NS-Gewaltherrschaft, maßgeblichen Buches - »Flucht in den Haß« - ausgezeichnet, ein Werk, das die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe

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souverän analysiert und trotzdem der toleranten Haltung dieser Frau das beste Zeugnis ausstellt. Mit Helen Suzman wurde schließlich eine Politikerin geehrt, die jahrelang in der Politik Südafrikas einen oft ausweglos scheinenden Kampf gegen die Apartheid geführt hat - und Apartheid war und ist ein Synonym für schlimmste Intoleranz. Frau Suzman wurde so zum mahnenden Gewissen ihrer weißen Landsleute.
     Daß bisher fünf Frauen ausgezeichnet wurden, darf nicht als vorsätzliche Diskriminierung der Männer verstanden werden. Immerhin sind in Sir Yehudi Menuhin und Teddy Kollek zwei Männer als Preisträger gefunden worden, die in ihren Wirkungsbereichen, bei Menuhin in der Kulturpolitik und bei Kollek in der außerordentlich schwierigen Führung einer so von innen wie von außen her bedrohten Stadt wie Jerusalem, Hervorragendes geleistet haben.
     Inzwischen wurden vier weitere Personen ausgezeichnet, die hier etwas ausführlicher gewürdigt werden sollen: 1992 waren es Charlotte Schiffler und Wolfgang Thierse, 1994 ging der Preis wiederum an zwei Persönlichkeiten, nämlich die Schriftsteller Inge Deutschkron und Heinz Knobloch.
     Charlotte Schiffler wurde aus zwei besonderen Gründen geehrt: Sie zog im Nachkriegsdeutschland zusammen mit ihrem Mann zehn Kinder, darunter sieben farbige, auf und half damit auch, Intoleranz in ihrer persönlichen Umgebung abzubauen und Er
fahrungen zu gewinnen, die sie auf alle Gebiete ihres Wirkens übertrug, z. B. als Frankfurter Kommunalpolitikerin und als unermüdliche Förderin des Friedensdorfes Newe Shalom, Wahat al Salam, in dem Juden zusammen mit moslemischen und christlichen Palästinensern leben und arbeiten.
     Mit Wolfgang Thierse wurde, genau betrachtet, Neuland betreten. Daß er ausgezeichnet wurde, hatte trotzdem einen einfachen Grund: In einer Zeit, in der sich Intoleranz, Verallgemeinerung und Mangel an Interesse am Mitmenschen breit macht, war es einfach notwendig, einem Menschen den Preis zuzuerkennen, der auf einem der schwierigsten Gebiete, nämlich der Politik, unbeirrt seine tolerante Haltung bewahrt und darüber hinaus bemüht ist, jede diskriminierende Verallgemeinerung zu vermeiden, und der sich bemüht, ohne Feindschaft sich mit seinen Gegnern auseinanderzusetzen, eine Haltung, die sicher dazu beitragen kann, die heutige Politikverdrossenheit abbauen zu helfen.
     Die beiden Preisträger des Jahres 1994 verbindet ihr gemeinsamer Beruf als Schriftsteller, und - wie der damalige Kultursenator Roloff-Momin in seiner Ansprache formulierte - beide »gehören zu jenen Persönlichkeiten, bei denen Wort und Handeln eine glückliche Einheit bilden«. Und daß beiden der Moses-Mendelssohn-Preis für Toleranz zugesprochen wurde, hat auch,

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wie die Laudatorin Dr. Hanna-Renate Laurin betonte, »mit der deutschen Situation« zu tun, mit der Auseinandersetzung mit den beiden Ausformungen einer Diktatur auf deutschem Boden. Daß Inge Deutschkron, die als Jüdin in der Nazidiktatur verfolgt wurde und diese Zeit verstehend zu schildern verstand, trotzdem sprechen kann, »Haß baut keine bessere Welt«, zeigt eine Haltung, welche sie selbst in ihrer Dankrede so beschrieb: »Zur Toleranz bin ich jederzeit bereit gegenüber all denen, die gleich mir das Recht und die Gesinnung der Andersdenkenden anerkennen und respektieren. Zugleich aber werde ich wachsam bleiben und mithelfen, daß niemals wieder die Toleranz der Intoleranz weichen muß. Das bezeichne ich als kämpferische Toleranz.«
Ganz anders das Werk von Heinz Knobloch. Er, der unter einer Diktatur so schrieb, daß er nicht in ihr unterging, trotzdem aber vielen erklären konnte, daß Menschlichkeit und Verstehen immer und überall Vorrang haben und geübt werden können, vertrat und vertritt eine stillere Toleranz, die deshalb um so eindringlicher zu den Lesern, auch zu denjenigen, welche außerhalb der Grenzen dieser Diktatur lebten, sprach. Er zeigt, daß überall die Gelegenheit zu tolerantem Handeln gegeben ist, Verstehen und Verständnis Brücken baut und daß die Vergangenheit viel mehr erzählen kann, als gemeinhin in Geschichtsbüchern zu lesen ist - man muß versuchen, ihr zu lauschen
und sie zu verstehen. In seiner Dankrede schloß er sich dennoch auch der Aussage von Inge Deutschkron mit ihrem Bekenntnis zur kämpferischen Toleranz an, indem er Voltaire zitierte: »Jedem Vorurteil muß oft und mit Nachdruck von den Schriftstellern begegnet werden.« Dazuzufügen wäre, nicht nur von den Schriftstellern.
     Bei allen bisherigen Überlegungen hat sich der Eindruck verstärkt, daß nur ein einzelnes Werk oder nur eine bestimmte Tat in den meisten Fällen den Preis wohl nicht rechtfertigen; mehr und mehr rückte bei den Beurteilungen, die mit den Jahren nicht etwa einfacher, sondern immer schwieriger geworden sind, die Erkenntnis in den Vordergrund, daß es die persönliche Haltung ist, die einen Menschen als preiswürdig erscheinen läßt. In der Satzung des Preises ist zwar festgehalten, auch Gruppen und Institutionen könnten ausgezeichnet werden - und man kann und darf natürlich nicht ausschließen, daß es zu einer solchen Auszeichnung kommt -, aber der tolerante Einzelne hat eben doch eine ungleich intensivere Ausstrahlung, gibt das eindringlichere und - hoffentlich - nachahmenswertere Beispiel.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/1996
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