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ter, daß ihm die erste Gedichtsammlung »den Ruf eines infernalischen Snobs und des typischen Kaffeehausliteraten« einbrachte, während er doch »auf den Kartoffelfeldern der Uckermark die Regimentsübungen mitmarschierte und in Döberitz beim Stab des Divisionskommandeurs im englischen Trab über die Kiefernhügel setzte.«

Schnelles Hineinwachsen in
eine Doppelrolle und in Gegensätze

Schnell wächst er in die Doppelrolle seines Lebens hinein. Tagsüber Pathologe und Serologe, abends und in der Freizeit Gedichte und Prosa, die rasch in den damals wichtigsten Zeitschriften »Die Aktion«, »Der Sturm« und »Weiße Blätter« erscheinen. Benn sympathisiert mit dem Expressionismus, ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erscheint der zweite Gedichtband »Söhne«. Auch im Krieg - er arbeitet als Arzt in Brüssel an einem Prostituiertenkrankenhaus - schreibt er Gedichte. Sein Ich im Text verdrängend, schreibt Benn über jene Zeit: »Ein ganz isolierter Posten, lebte in einem konfiszierten Haus, elf Zimmer, allein mit meinem Burschen, hatte wenig Dienst, durfte in Zivil gehen, war mit nichts behaftet, hing an keinem, verstand die Sprache kaum.«
Im Herbst 1917 läßt sich Benn als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin, Belle-Alliance-Straße (heute Mehringdamm), nieder. Zeitlebens bleibt er Ber

Helmut Hirsch
»Wir ziehn einen großen Bogen«

Dichter und Arzt Gottfried Benn
(1886-1956)

»Ein Dorf mit 700 Einwohnern in der norddeutschen Ebene, großes Pfarrhaus, großer Garten, drei Stunden östlich der Oder. Das ist auch heute noch meine Heimat, obgleich ich niemanden mehr dort kenne, Kindheitserde, unendlich geliebtes Land.« So erinnert sich Gottfried Benn an Sellin in der Neumark, wo er die Jahre seiner Kindheit verbrachte.
     Geboren wird er am 2. Mai 1886 in Mansfeld (Westprignitz). Seit 1896 besucht er das Friedrich-Gymnasium in Frankfurt/Oder, wo er mit Alfred Henschke, dem späteren Dichter Klabund, Freundschaft schließt. Nach dem Abitur nimmt der Pfarrerssohn in Marburg das Studium der Theologie und Philologie auf, das er 1904 in Berlin fortsetzt. Ein Jahr später wechselt er zum Medizinstudium an die Kaiser-Wilhelm-Akademie für militärärztliches Bildungswesen.
     Nach einem Sektionskurs entsteht 1912 der erste Gedichtband »Morgue«. Die Sprache ist trocken und ohne Glanz, doch das Buch hat Erfolg. Und Benn erinnert sich 20 Jahre spä


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liner. Das avantgardistische Treiben in der Stadt wird zum anregenden Kontrast zu Militär und Medizin. Er übt das Leben in Gegensätzen, bleibt Menschen gegenüber verschlossen, mißtrauisch, zurückhaltend. Sein Dasein als Arzt beschreibt er regelmäßig als belanglose Existenz. Die Hinwendung zum Mythischen, die Negation der »Begriffswelt« wird im Essay »Das moderne Ich« (1920) formuliert. Während Benn das »Zeitalter der Aufklärung« für beendet erklärt, brodelt eine existentielle Krise. Im August 1921 notiert er: »Fünfunddreißig Jahre und total erledigt, ich schreibe nichts mehr, ich lese nichts mehr ... ich denke keinen Gedanken mehr zu Ende.«
An Gertrud Zenzes, die um 12 Jahre jüngere Freundin jener Jahre, schreibt er 1922: »Es gibt Tage, die so leer sind, daß man sich wundert, daß die Fensterscheiben nicht rausgedrückt werden von dem negativen Druck; es gibt Gedankengänge von einer Aussichtslosigkeit, die bewußtseinsraubend ist.«
Mitte der 20er Jahre gehören George Grosz, Heinz Ullstein, Tilly Wedekind und der Verleger Erich Reiss zu Benns Freundeskreis. Dennoch klagt er wiederholt über seelische und auch körperliche Apathien, seine Konstitution sei »von geradezu krankhafter Menschen-, Unterhaltungs- und Eindrucksflucht«. Klaus Mann schreibt 1929 über Gottfried Benns Prosa: »Unstillbar sein Heimweh, sein Durst nach Menschheitsepochen, die tragisch und entfernt
von der Idee des Fortschritts waren. ... Wer so ruft, steht vereinsamt. Er läßt seine Stimme klagen, dabei wartet er kaum mehr auf Antwort. Der Rest ist Bitterkeit, Einsamkeit, Haß.«
Das existentielle Dilemma begleitet den Lyriker und Prosaisten ganz unmittelbar, auch die Arztpraxis bietet nach zehn Jahren ein nur mäßiges Einkommen. Im Aufsatz »Neben dem Schriftstellerberuf« heißt es 1927: »Die Geschlechtskrankheiten gehen, wie allgemein bekannt, auffallend zurück. Ich möchte eine Stellung mit festem Einkommen, damit ich etwas mehr für mich arbeiten kann.«

»Die Armen wollten immer hoch und die Reichen nicht herunter«

Trotz Einschränkungen: Das literarische Werk wächst, und 1928 erscheint Gottfried Benns »Gesammelte Prosa«. In dieser Zeit beteiligt sich Benn auch an Auseinandersetzungen mit linken Literaten wie Becher und Kisch. In dem Aufsatz »Über die Rolle des Schriftstellers in dieser Zeit« schreibt er: »Becher und Kisch gehen davon aus, daß jeder, der heute denkt und schreibt, es im Sinne der Arbeiterbewegung tun müsse, Kommunist sein müsse, dem Aufstieg des Proletariats seine Kräfte leihen. Warum eigentlich? Soziale Bewegungen gab es doch seit jeher. Die Armen wollten immer hoch und die Reichen nicht herunter. Schaurige


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Welt, kapitalistische Welt, ... und immer die Gegenbewegungen, ... aber nach drei Jahrtausenden Vorgang darf man sich wohl dem Gedanken nähern, dies alles sei weder gut noch böse, sondern rein phänomenal.«
Benns Polemik gegen die literarische Linke gehört zur Konfrontation von Kunst und Politik in den Jahren der Weltwirtschaftskrise. Zugleich ist sie ein Signal verzwickter Umbruchprozesse, die auch den Dichter und Arzt erreichen. Einem Arbeitslosen aus seinem Haus bezahlt er monatelang die Kohlen, muß selbst aber mit Steuerpfändung vorlieb nehmen. An Thea Sternheim schreibt er 1931: »Die Leute sind irre, der Staat muß zertrümmert werden.« Und während er über den »verkrachten und verlumpten Staat« räsoniert, legt er sich mit Heinrich Mann an.
     Benn versucht öffentlich, den literarischen gegen den politischen Autor auszuspielen. Nicht nur Kommunisten und Nationalsozialisten denken an die Abschaffung der Demokratie, auch Benn durchzuckt dieser Gedanke. Er zeigt sich unschlüssig, ob es beim Schriftsteller nun mehr auf »Individualität« oder »Sozialwesen« ankomme. Hatte er Anfang März 1933 ins Arbeitsheft noch die These geschrieben: »Die Geschichte arbeitet (an ihren Wendepunkten) nicht demokratisch, sondern terroristisch«, so heißt es nur einen Monat später in der Schrift »Der neue Staat und die Intellektuellen«: »Die Geschichte verfährt nicht demokratisch, sondern elementar, an ihren Wendepunkten immer ele
mentar.« Markige Sätze wie: »Wo die Geschichte spricht, haben die Personen zu schweigen« dringen bis zu Klaus Mann, inzwischen im Exil lebend, vor. Dessen Anfrage, ob Gottfried Benn gemeinsame Sache mit den Nazis mache, wird von Benn öffentlich so beantwortet: »Ich erkläre mich ganz persönlich für den neuen Staat, weil es mein Volk ist, das sich hier seinen Weg bahnt. Wer wäre ich, mich auszuschließen, weiß ich denn etwas Besseres - nein!«
Benns »Irrtum« dauerte bis zum 30. Juni 1934, dem Tag der »Röhm-Revolte«, in deren Verlauf mißliebige Spitzenfunktionäre ermordet wurden. Nach einem Jahr folgt der Rückzug. An Ina Seidel schreibt er noch am 27. August 1934: »Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus. Aber es ist noch lange nicht zu Ende.« An den Brief-Freund Oelze in Hannover ist er schon wieder voller Metaphorik: »die Fresse von Caesaren und das Gehirn von Troglodyten« seien längst nicht mehr seine Gesellschaft. Bald verläßt er auch die Deutsche Akademie der Dichtung, sucht für sich die »aristokratische Form der Emigration«, das heißt, er geht 1935 als Militärarzt für einige Jahre nach Hannover.

Die finsterste Zeit seines Lebens

Die Arbeit streckt ihn anfangs nieder, warm wird er in Hannover nicht, zu sehr hängt er an Berlin, das er übers Wochenende besucht.


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Ob es nur die Erinnerung ist oder die Faszination der Zeit mit ins Spiel kommt, sei dahingestellt. Jedenfalls schreibt er begeistert: »Wie hat mich diese Stadt wieder erregt, ihre Abendstunde am Sonnabend zwischen 5 und 6, ihr monströser Genußapparat, ihre Sicherheit, ihr Mördergesicht, ihr kaltes Zerschmettern alles Provinziellen, kläglichen, kärglichen Nur-Wollens, hier heißt es: Form werden und vollbringen! Stadt meines Lebens, meines Schicksals, meiner schönsten Jahre! Immer werde ich Heimweh nach ihr haben.«
Der Rückzug geht weiter. 1938 wird Benn aus der »Reichsschrifttumskammer« ausgeschlossen und mit Veröffentlichungsverbot belegt. Außer einem Privatdruck, »Zweiundzwanzig Gedichte« (1943), hat er in jener Zeit nichts veröffentlicht. 1937 ist für ihn die »finsterste Epoche« seines Lebens. Benn fühlt sich »in allem außerhalb der Zeit«, angesichts der politischen Verhältnisse rettet er sich in einen mehr und mehr artifiziellen Geschichtspessimismus. Die Kriegsjahre sind für ihn Jahre neuer und erstaunlicher poetischer Produktivität. Ein Werk, provokant und reich an Widersprüchen, wächst heran. Um es mit einem Gedichtanfang zu sagen: »Wir ziehn einen großen Bogen« - er gilt Benns nimmermüdem Bemühen, die Bausteine seiner schöpferischen Konfession durch Selbstverwandlung und in zum Teil dramatischer Selbstgefährdung zu finden. Und es gibt Neuansätze vergangener Ideen.
Schon 1928 hatte Benn seine »hyperämische Metaphysik« gefunden. Er meinte damit, daß eine Änderung des eigenen Zustandes eine Änderung der Wirklichkeit (mehr der inneren als der äußeren) bedeute. Sein Ich stattet er, lesend, forschend, grübelnd, phantastisch aus, verschwenderisch experimentiert er mit Gedanken und Bildern, setzt sich die »Kategorie der Halluzination«, um Realität zu »durchstoßen« und »Bilder tieferer Welten zu entwerfen«.
     Er arbeitet unermüdlich, kämpft aber bereits 1941 heftig gegen das Altern. Benn sieht mehr und mehr »das Wort ohne jede Rücksicht auf seinen beschreibenden Charakter rein als assoziatives Motiv«. Geschichte ist ihm Stillstand, und dennoch durchleuchtet er alle Zeitalter der Menschheit, will »die Dinge mystisch bannen durch das Wort«.
     Schockierten seine frühen Gedichte durch klinische Kühle, werden die Verse nun musikalischer, melancholischer. Bevorzugt wird mittelmeerische Welt beschworen. Schon seit den 30er und in den 40er Jahren nimmt Benns »tragisches« Bewußtsein als das »absolute Ich« poetische Gestalt an. Wer Sätze wie »Nihilismus ist ein Glücksgefühl« schreibt, wem »Jahrhunderte als Wolkenverschiebung« erscheinen, für denjenigen erscheint Welt nur noch als ästhetisches Phänomen erträglich.
     Benns Lapidarstil setzt schon in den zwanziger Jahren ein. Das Gedicht »Der späte Mensch« (1921) endet mit der Zeile »Geröll im Traum«. Überall ist Endzeit, überall Skep

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sis, Entmutigung des Denkens - und dennoch gibt es immer wieder die Aufschwünge der Wort-Magie. Trauer und Licht, ein beliebter Gegensatz, durchzieht Gedichte von bizarrer Schönheit:
»Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.«
Anschaulicher als in seinen Essays beschreibt er in Briefen seine dichterische Situation, seine Einflüsse, seine Endstationen. An Ina Seidel im Herbst 1934: »Der Geist und die Kunst kommt nicht aus sieghaften, sondern aus zerstörten Naturen, dieser Satz steht für mich fest und auch, daß es eine Verwirklichung nicht gibt. Es gibt nur die Form und den Gedanken. Das ist eine Erkenntnis, die Sie bei Nietzsche noch nicht finden, oder er verbarg sie. Seine blonde Bestie, seine Züchtungskapitel sind immer noch Träume von der Vereinigung von Geist und Macht. Das ist vorbei. Es sind zwei Reiche.«
Im Frühjahr 1945 flieht Benn zu Fuß, dann im offenen Viehwagen bei zehn Grad Kälte von Landsberg an der Warthe, wo er zuletzt als Militärarzt tätig war, zurück ins zerstörte Berlin. Im Prosastück »Der Ptolemäer« (1947) nennt er Berlin sein »Lotosland«, darin beschreibt er, halb ironisch, halb phantastisch, den Nachkriegsaufbruch so: »Ein bösartiger Winter geht zu Ende ... Wölfe an der Oder, Adler in den Müggelbergen! Ein Winter in der Besatzungszeit. Der Magistrat verschanz
te sich hinter die Besatzungsmächte, diese hinter die Elemente, diese vermutlich hinter das Hochland von Tibet, dies hinter irgendeinen Dalai Lama und so fort -, und darüber ging alles zu Grunde, die Geschäfte schliefen ein, das Geld verschwand, Steuern wurden nicht mehr gezahlt, das Leben stockte.«
Wieder Arzt und Dichter, lebt er in, hängt er an Berlin, diesmal in Schöneberg, Bozener Straße. Benns dritte Frau ist eine Ärztin mit eigener Praxis. Auch während der Blockade und »nahe am Verhungern« bleibt Berlin »die Stadt, deren Glanz ich liebte, deren Elend ich jetzt heimatlich ertrage, in der ich das zweite, das dritte und nun das vierte Reich erlebe und aus der mich nichts zur Emigration bewegen wird«.

Schlagartig als Autor zum Begriff geworden

Als 1948 nach über 12jähriger Unterbrechung die Werke Gottfried Benns wieder erscheinen, bedeutet für viele Leser sein Name fast nichts. Benn ist inzwischen über sechzig, aber ein unbekannter Autor. Doch bald erscheinen in rascher Folge neue Arbeiten, schlagartig wird er unter den Nachkriegsintellektuellen bekannt, bald überstrahlt sein zweiter Ruhm seinen ersten. Benn wird regelmäßiger Mitarbeiter der literarischen Zeitschrift »Merkur«, in der viele Erstveröffentlichungen erscheinen. Schon 1951 erhält er in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis


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der Akademie für Sprache und Dichtung. Doch ist der Höhepunkt seines Lebens schon überschritten. Wenn er gegenüber Freunden in jenen Jahren auf Tod und Ende anspielt, gebraucht er gern die märkische Wendung: »Ich werde mir wohl bald die Kartoffeln von unten besehen.«
Nicht nur in der Alltagsrede, auch Benns späte Prosatexte sind mit vielen Kuriositäten bestückt, in seinen Gedichten setzt sich eine oft enthusiastisch gefeierte kristalline Ironie mit erstaunlichen Steigerungsformen durch.
     Setzt er 1943 die Signale: »Existenz heißt Nervenexistenz, d. h. Reizbarkeit, Zucht, enormes Tatsachenwissen, Kunst. Leiden heißt am Bewußtsein leiden, nicht an Todesfällen. Arbeiten heißt Steigerung zu geistigen Formen. Mit einem Wort: Leben heißt provoziertes Leben«, lauern 1954, zwei Jahre vor seinem Tod, die Zeichen der Begrenzung: »Nur diese innere Unruhe in einem bleibt, dieser Tremor im Kopf und im Herzen: noch einmal etwas anlegen, ausarbeiten, mit sich füllen, so gut man kann.«
Im Spätwerk trifft der Leser auf ratlose Zeitungsleser, auf enttäuschte Reisende. Benn selbst sieht sich als depressiven Einzelgänger, es streckt ihn nieder, »daß es in Westberlin keine Bibliothek mehr gibt ... das wunderbare Flackern von einem Buch zum andern, das in der alten Staatsbibliothek Unter den Linden möglich war, ist nicht mehr zu erleben.«
»Der Radardenker« von 1949 trifft präzise diese Stimmung: »Unsereins sucht überall
Zusammenhänge, aber findet keine, auf der Jagd nach Einzelheiten verbringt man sein Leben.« Der zurückgezogen lebende Melancholiker Benn schreibt nicht nur die Prosa »Doppelleben«, er führt auch eins, allerdings sehr artistisch. Durch und durch »ein experimenteller Typ«, findet er seine »Einheit von Leben und Geist« im »Vers, hinterlassungsfähiges Gebilde - ich gehe das Leben an und vollende ein Gedicht«.
     Nur im Doppelleben ereignet sich die »Ununterdrückbarkeit der Ausdruckswelt«, und: »Unser Kulturkreis begann mit Doppelgestalten: Sphinxen, Zentauren, hundsköpfigen Göttern und befindet sich mit uns in einer Kulmination von Doppelleben: wir denken etwas anderes als wir sind.« 1949 geschrieben, provoziert »Doppelleben« auch heute noch: »Es ist heute tatsächlich so, es gibt nur zwei verbale Transzendenzen: die mathematischen Lehrsätze und das Wort als Kunst. Alles andere ist Geschäftssprache, Bierbestellung.«
Tarnung, Verstellung und Artistik der Worte sind Bestandteile in diesem »Laboratorium«. Im Werk Benns finden wir die gesamte Problematik der Epoche. Ohne Hoffnungen und Illusionen hat der Arzt und Dichter das Geschichtlich-Ereignishafte seiner Zeit trotz grundlegender Geschichtsfeindlichkeit eindringlich studiert. Nur selten fühlte er sich unter den Literaten geborgen, Kulturbetrieb lag ihm nicht, und er wußte, wovon er sprach, wenn er das »hündische Kriechen der Intel

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   59   Porträt Gottfried Benn  Voriges BlattArtikelanfang
ligenz vor den politischen Begriffen« mit Verachtung bedachte.
     Das letzte Jahr beherrschte ihn krankhaft Müdigkeit, Apathie. An Tilly Wedekind schreibt Benn am 4. Mai 1955: »Dies Jahr habe ich alles abgesagt, selbst Rom, Florenz, Basel, Zürich. Ich mag nicht mehr. Erfolg habe ich ja genug, aber es bedeutet mir alles nichts mehr.« Am 7. Juli 1956 stirbt Gottfried Benn an den Folgen eines zu spät erkannten Wirbelsäulenkrebses. Schon ein Jahr zuvor zieht er eine Lebensbilanz, bitter und süß, ironisch und lapidar, ein Fragment, das als
das vorletzte Gedicht gelten kann:
»30 x unter Qualen die Zähne plombieren lassen
100 x Rosen aus dem Süden gehört
4 x an Gräbern geweint
25 Frauen verlassen
2 x die Tasche voll Geld und 98 x ohne Geld gehabt.
     Schließlich tritt man in eine Versicherung ein mit
12,50 pro Monat,
um seine Beerdigung sicher zu stellen.«
Bildquelle: Landesbildstelle Berlin
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Grab des Dichters Gottfried Benn auf dem Waldfriedhof Wasgensteig im Bezirk Zehlendorf

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/1996
www.berlinische-monatsschrift.de