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11 Kategorien von Bürgern waren nicht zur »Lösung eines Gewerbescheins« verpflichtet, darunter Staats- und Kommunalbeamte, aber z. B. auch Hebammen »auf dem platten Lande und in Stätten unter 1 000 Einwohnern«. Bei 34 Gewerben wurde ein Qualifikationsnachweis verlangt, z. B. bei Ärzten, Apothekern, aber auch Schornsteinfegern.
     Das »Gewerbe-Polizeigesetz« vom 7. September 1811, im Wortlaut genannt »Fernerweites Edikt über die Finanzen des Staates und das Abgaben-System« regelte in 13 Paragraphen z. B. Unterschiede in der Gewerbesteuerabgabe in den Städten und auf dem Lande, den Erlaß der Handwerkssteuer unter bestimmten Bedingungen und die Abgabe einer »Personensteuer von jeder Person vom vollendeten 12. Jahre an, ohne Ausnahme mit zwölf gute Groschen jährlich«. Verordnet wurden die strenge Kontrolle der Durchführung des Gesetzes und Regulierung durch die Polizei sowie doppelt so hohe Geldstrafen wie bisher bei Verstoß gegen die Auflagen.
     Die Liberalisierung des Gewerbes gilt als einer der wichtigsten Punkte der von Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757-1831) und von Karl August Fürst von Hardenberg (1750-1822) initiierten Reformpolitik nach der grundlegenden Städteordnung vom 19. November 1808. Schließlich wurde nach jahrelangen Verhandlungen auch das neue Zollgesetz am 26. Mai 1818 verabschiedet, und an die Seite
Jutta Schneider
7. September 1811:
Aufhebung des Zunftzwangs in Preußen

Mit diesem »Gewerbepolizei-Gesetz«, wie es in die Geschichte eingegangen ist, wurden die letzten entscheidenden Schranken für die ungehinderte Gewerbe- und Handelstätigkeit in Stadt und Land beseitigt und der Gewerbefreiheit endgültig die Tore geöffnet. Es war eine Art Durchführungsbestimmung und notwendige Ergänzung des Ediktes vom 2. November 1810 über die »Einführung einer allgemeinen Gewerbesteuer«. Schon mit diesem Edikt wurde die Grundlage für die allgemeine Aufhebung des Zunftzwanges und die Freigabe des Gewerbes gelegt. Es bestimmte, daß jeder, der künftig ein Gewerbe betreiben, Handel führen wollte oder eine Fabrik besaß, einen Gewerbeschein kaufen mußte und eine Gebühr dafür zu entrichten hatte. Auch das schon erlangte Meisterrecht befreite nicht von dieser Verbindlichkeit.
     Die Gebühr wurde in 6 Klassen von 1 bis 200 Taler im Jahr - je nach Betriebsgröße, Verbrauch von Material und Zahl der Arbeiter - erhoben. Der Antragsteller mußte außerdem ein Attest der örtlichen Polizeibehörde über den Lebenswandel besitzen sowie einen bestimmten Steuersatz im voraus bezahlen.


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der Gewerbefreiheit trat die Handelsfreiheit. Preußen führte den niedrigsten Zolltarif der europäischen Länder ein; die noch existierenden preußischen Binnenzölle wurden aufgehoben.
     Gegen die radikale Gesetzgebung zur Einführung der Gewerbefreiheit wehrten sich die Zünfte und leisteten schärfsten Widerstand. Sie waren bisher nahezu monopolartig organisiert, und jetzt sollten »Unzünftige« an ihre Seite gestellt werden. Tatsächlich ist in Preußen z. B. die Zahl der Handwerkspatente von 1811 bis 1814 um 15 Prozent zurückgegangen und erst später allmählich wieder angestiegen. In Polizeiberichten wird bestätigt, daß es gerade bei Schneidern, Tischlern, Schlossern und Schuhmachern schon bis 1812 »sehr häufig« zur Lösung von Gewerbescheinen durch Unzünftige gekommen sei, was sich durch die große Zahl der Gesellen in diesen Gewerken erklären würde. Insgesamt waren jedoch die festeingewurzelten zünftlerischen Traditionen stärker als angenommen, und die Innungen behielten auch in der Folgezeit ihren Einfluß auf das gewerbliche Leben in Berlin; die Auswirkungen der Reformen auf das Handwerk waren in einzelnen Zünften unterschiedlich, aber eher gering. Es finden sich in Polizeiberichten sogar immer wieder Klagen, daß sich keiner der Gewerbefreiheit »bediene«. Kaum jemand verlange einen Gewerbeschein, ohne auch die »zünftige Meisterschaft zu erlangen«.
Andererseits kamen dem Gesetz zur Gewerbefreiheit manche Zunftsatzungen sogar entgegen, z. B. der Brauch, daß der Geselle, der von selbst gekündigt hatte, für eine Zeit die Stadt verlassen mußte. Das strenge Zunftwesen und die traditionelle Handwerksausübung waren schon durch das Oktoberedikt von 1807 beeinträchtigt, das die Erbuntertänigkeit für die Landbevölkerung aufgehoben und die Freizügigkeit eingeführt hatte. Rechtlich bestand damit die Möglichkeit der Abwanderung der Landbevölkerung in die Stadt, was auch in der Entwicklung der Bevölkerung von Berlin nachweisbar ist. Sie hat von 1800 bis 1846 um 130 Prozent zugenommen; der Geburtenüberschuß spielte dabei eine sekundäre Rolle. Ein beträchtlicher Teil der Zuwanderer wie auch der ständig wachsenden Zahl der beschäftigungslosen Unterschichten in der Stadt strömte in das Kleingewerbe.
     Gewerbegesetzgebung und Zollgesetz waren von entscheidender Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung Preußens und Berlins in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aber auch die negativen Folgen dieser Entwicklung sollten bald in Erscheinung treten ...

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/1996
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