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Hermann Simon
325 Jahre Berliner
Jüdische Gemeinde

Nachdem Kurfürst Friedrich Wilhelm am 21. Mai 1671 in einem Edikt fünfzig Familien der aus Wien vertriebenen Juden in seinen Landen Asyl gewährt hatte, räumte er am 12. und 14. September desselben Jahres den beiden österreichischen Juden Benedict Veit und Abraham Ries mit ihrem Familienkreis das Recht ein, sich in Berlin niederzulassen. Die Septembertage des Jahres 1671 hat die Berliner Jüdische Gemeinde stets als die Zeit ihrer Gründung betrachtet. Wir haben uns also in diesem Herbst des 325jährigen Jubiläums zu erinnern.

Juden werden erstmals
im Jahre 1295 erwähnt

Dies ist welthistorisch eine kurze Zeitspanne. Betrachten wir die Geschichte der Stadt Berlin, so sind diese 325 Jahre fast die Hälfte der Dauer ihres Bestehens. Überdies sind Zeugnisse jüdischer Existenz in Berlin sehr viel älter. Sie reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück: Archäologische Grabungen auf dem Gebiet der Spandauer Zitadelle förderten in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe mittelalterlicher jüdischer Grabsteine des

Spandauer Judenfriedhofs zutage. Hier findet sich die wohl älteste Spur jüdischen Lebens auf dem heutigen Gebiet Berlins. Es handelt sich um den Grabstein, der einem im Jahre 1244 verstorbenen Jona ben Dan gesetzt worden ist. Es ist möglich, daß dieser Mann in Spandau, einer Stadt, die erst seit 1920 zu Berlin gehört, beheimatet war. Es kann aber auch sein, daß dieser Jona Sohn des Dan in Berlin oder einem anderen Spandau benachbarten Ort gestorben und hier beigesetzt worden ist.
     Erstmals erwähnt werden Juden in Berlin im Jahre 1295: In einem Innungsbrief des Rates von Berlin vom 28. Oktober 1295 wurden den Berliner Wollenwebern u. a.
     untersagt, »sich bei Juden Garn zu verschaffen«. Bereits diese frühe Erwähnung zeigt, daß das Verhältnis der Juden zur Umwelt durch den Widerspruch zwischen Eingliederung in sie und erzwungener Ausgliederung aus ihr bestimmt war.
     Hätten die Wollenweber nicht das benötigte Garn bei Juden gekauft, so wäre es überflüssig gewesen, diesen geschäftlichen Kontakt ausdrücklich zu verbieten. Daraus zu schließen, daß die Juden, von denen in dem Verbot die Rede ist, in Berlin ansässig waren, ist nicht unbedingt notwendig: Es mögen auch wandernde Händler gewesen sein.
     Der Wunsch nach Eingliederung in die Umwelt einerseits und die Judenfeindschaft andererseits sind ein Charakteristikum für die Geschichte der Juden in Berlin in den

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kommenden Jahrhunderten. Die jüdische Bevölkerung, die im wesentlichen wenig geliebt war, wuchs nach 1671 ständig, wenngleich die Herrschenden den Zuzug von Juden immer regulieren und beschränken wollten.

Ein deutscher Aufklärer
und gesetzestreuer Jude

Wer heute das in den vergangenen Jahren entstandene Centrum Judaicum betritt, sieht, noch bevor er die restaurierten Räume der Neuen Synagoge betritt, als erstes Ausstellungsstück eine Büste von Moses Mendelssohn. Originalsockel und Kopie der berühmten Büste von Tassaert sind in dem Exponat vereint. Wenn man über Juden
in Berlin schreibt oder spricht, muß ein Name immer genannt werden, und zwar der des deutschen Aufklärers und gesetzestreuen Juden, des Weltweisen Moses Mendelssohn.
     Sein Geburtsjahr (1728 oder 1729) ist im Zusammenhang mit der Weihe eines neuen Grabsteins durch die Ostberliner Jüdische Gemeinde am 23. 5. 1990 wieder diskutiert worden. Dem Berliner liberalen Rabbiner Ernst M. Stein ist nur zuzustimmen, wenn er aus diesem Anlaß erklärte: »Das Jahr seiner Geburt ist heute umstritten; es ist möglich, daß es tatsächlich schon ein Jahr früher war. Man entschied sich jedoch, der bisherigen Tradition zu folgen. Auch bin ich sicher,

daß Rabbenu Mosche diesen Punkt als nicht wichtig angesehen hätte.« Sicher ist auf jeden Fall der Geburtsort, und zwar Dessau.
     Mendelssohn starb am 4. Januar 1786 in Berlin. Johann Erich Biester, Herausgeber der »Berlinischen Monatsschrift«, des Organs der deutschen Aufklärung, formulierte im März 1786 auf die selbst gestellte Frage: »Was verdankt Deutschland ihm [Mendelssohn] vorzüglich?« unter anderem in seiner Zeitschrift: »Endlich stehe auch hier das Verdienst: daß er durch seinen untadelhaften Wandel, durch seine hohe Rechtschaffenheit und durch sein eifriges Lehren wichtiger Wahrheiten es dahin brachte, daß man erkannte: auch ein Jude, auch ein Unchrist, könne ein guter Mensch sein, könne Religion haben, könne unter uns Christen Religion und Tugend befördern. Wie lange ist es, daß viele selbst unserer angesehenen Mitbürger dies für unmöglich hielten! Leben nicht noch manche der Gelehrten und Geistlichen, die anfangs, als Mendelssohn aufstand, diese Unmöglichkeit in öfffentlichen Schriften behaupteten und sogar bewiesen? Aber er zwang durch sein unbescholtenes Leben bald allen die Überzeugung ab, daß jene Behauptungen unwahr, jene Beweise lächerlich seien.«
Auch für die jüdische Gemeinschaft war Mendelssohns Wirken von enormer Bedeutung.
     Stets war sich die Berliner Jüdische Gemeinde des Mendelssohnschen Erbes bewußt.
     In seinem Geiste wurden z. B. an der 1826

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geschaffenen Knabenschule der Jüdischen Gemeinde in der Großen Hamburger Straße, vor der sein Denkmal stand, jüdische Kinder erzogen. Der 1906 anstelle des alten Gebäudes eröffnete Neubau steht noch und beherbergt heute einige Grund- und Realschulklassen sowie das Gymnasion der Berliner Jüdischen Gemeinde.

Eine ernst blühende Gemeinde
mit mehr als 170 000 Mitgliedern

Wenn wir über Juden in Berlin sprechen, so müssen auch die Jahre der Verfolgung erwähnt werden. Die einstmals blühende Gemeinde mit ihren über 170 000 Mitgliedern (1925) war im Mai 1945 nur noch ein Schatten ihrer selbst. Wer hätte damals gedacht, daß etwas mehr als 50 Jahre später die jüdische Gemeinschaft durch die Zuwanderung aus Osteuropa wieder mehr als 10 000 Mitglieder zählt?
»Nicht in meinen kühnsten Träumen habe ich damit gerechnet«, schrieb Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Direktoriums des Zentralrates der Juden in Deutschland, im Mai 1988 zur Einweihung der Neuen Synagoge als Centrum Judaicum, »daß Berlins schönste und größte Synagoge ... eines Tages aus den Trümmern wiedererstehen könnte ... Dies lag einfach außerhalb jeglicher Vorstellungskraft.« 1)
     Die Integration der Zuwanderer hat der langjährige Gemeindevorsitzende Heinz

Galinski als größte Aufgabe bezeichnet, die die Jüdische Gemeinde in ihrer Nachkriegsentwicklung zu erfüllen hat. Die Mitglieder dieser alten, neuen Gemeinde sind sich ihrer großen historischen Verantwortung bewußt.

Quellen:
1 Ignatz Bubis, Zum Geleit, in: »Tuet auf die Pforten«, Begleitbuch zur ständigen Ausstellung der Stiftung »Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum«, Berlin 1995, herausgeg. von Hermann Simon und Jochen Boberg, S. 7


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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/1996
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