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Werner Mittenzwei: Ich überlegte, ob ich über den deutschen Expressionismus oder über Brecht arbeiten sollte. Da starb Brecht, und ich entschied mich für dieses Thema. Vor der Verteidigung habe ich die Arbeit der Weigel zugeschickt. Sie schrieb mir dann, daß sie das »Riesenbaby« noch nicht gelesen habe, und merkte an, daß die Arbeit ja so dick sei wie die ihres Sohnes Stefan über Hegel. Zur Verteidigung war dann auch Brechts langjährige Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann da. Als die Dissertation veröffentlicht werden sollte, setzte Helene Weigel die Hauptmann ein, mit mir Seite für Seite durchzusprechen. Und sie war eine ganz strenge Zensorin.
     Und worin bestand die Hauptmannsche Zensur?
Werner Mittenzwei: Im Streichen. Sie hat die Arbeit bei den Zitaten um etwa ein Drittel zusammengestrichen. Hatte beispielsweise ein Gedicht sechs Verse, meinte sie, da nehmen wir nur zwei. Das war ja alles unveröffentlichtes Material, was ich hatte. Und an der Veröffentlichung war Helene Weigel natürlich selbst interessiert. Das wollte sie nicht einem Doktoranden überlassen.
     »Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln«, diese zweibändige Biographie war damals ein großer Erfolg. Kurz nach dem Erscheinen im Aufbau-Verlag kam sie bei Suhrkamp und in der Büchergilde Gutenberg heraus. War das ein Auftragswerk?

Für Brecht war Berlin das Labor der Moderne

Der Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei über einen der »Götter meiner Jugend«

Werner Mittenzwei, Jahrgang 1927, beschäftigt sich seit vier Jahrzehnten mit Leben und Werk von Bertolt Brecht. Seit 1964 Professor für Literaturtheorie, war er 1969 Gründungsdirektor des Zentralinstituts für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR. In den 70er und 80er Jahren gehörte der Wissenschaftler zu den dramaturgischen Mitarbeitern des Berliner Ensembles. Zum 40. Todestag von Brecht am 14. August sprachen wir mit dem Autor der zweibändigen Biographie »Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln«, 1986 im Aufbau-Verlag erschienen.

Als Sie Ende der 50er Jahre Ihre Dissertation über Brecht schrieben, ahnten Sie sicher nicht, daß bb Sie ein Leben lang begleiten würde. Zur Zeit sind Sie ja Mitherausgeber der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Brecht-Ausgabe in 30 Bänden. Warum haben Sie damals Brecht als Thema gewählt?


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Werner Mittenzwei: Nein. Es begann eigentlich damit, daß der Verlag Volk und Wissen, später auch Reclam, Interesse an einer kleinen Biographie bekundeten. Als Abschluß meiner Beschäftigung mit Brecht, so dachte ich damals, könnte ich das ja machen. Mit Brecht wollte ich nämlich wirklich mal zum Abschluß kommen, ihn beim Lesen genießen können. Für mich ist es am schönsten, Dichter zu lesen, über die ich nicht schreiben muß. Dann kann ich unbefangen lesen und muß nicht gleich notieren, wie man diesen oder jenen Gedanken in die Literaturtheorie einbauen kann. Mit dieser kleinen Biographie habe ich auch angefangen, sie aber bei Seite 180 wieder weggeworfen. Einen Zusammenschnitt des schon Bekannten wollte ich nicht machen, für etwas Neues aber mußte die Sache ganz anders angefaßt werden. Dann habe ich noch einmal angefangen. Dabei kamen mir natürlich meine vorausgegangenen Arbeiten sehr zugute, die verschiedenen Aufsätze, die theoretischen Arbeiten zum epischen Theater. Vor allem aber die ständige Verbindung mit dem Berliner Ensemble. Mehrere Jahrzehnte gehörte ich, obwohl bei der Akademie der Wissenschaften angestellt, zu den Mitarbeitern des Theaters, habe für bestimmte Inszenierungen Vorarbeiten oder Stückanalysen gemacht, war mit Manfred Wekwerth sehr befreundet. Während dieser konkreten Arbeit konnte ich mich natürlich gut in den Stoff einarbeiten, es gab viele Ge spräche mit Leuten, die noch mit Brecht gearbeitet hatten. So setzte sich über die Jahre ein Bild wie ein Puzzle zusammen.
     Brecht unternahm 1920 seine erste Reise nach Berlin, war dann noch einige Male in der Stadt, bis er Anfang September 1924 übersiedelte und sich bei Helene Weigel einquartierte. Was zog ihn außer der Weigel, die einen Monat später den gemeinsamen Sohn Stefan zur Welt brachte, in die Stadt?
Werner Mittenzwei: In den 20er Jahren fanden die wesentlichen Entwicklungen auf dem Gebiet des Theaters in Berlin statt. Was München vor dem Ersten Weltkrieg war, wurde nun Berlin. Die besten Regisseure gingen nach Berlin. Jeder, der in der Kunst etwas sein wollte, wollte auch nach Berlin. Berlin war der Test. Nur hier konnte man in die erste Reihe gelangen.
     Hat die Stadt die Entwicklung von Brechts ästhetischen und philosophischen Anschauungen beeinflußt?
Werner Mittenzwei: Natürlich. Berlin war ja nicht nur Metropole des Theaters, sondern auch des Sports, der neuen Technik, der neuen Medien, der Presse, des Rundfunks. Das hat Brecht enorm angezogen. Auch die politischen Massenkämpfe spielten sich hier in ganz anderer Weise ab, als in München. Das waren für Brecht schon entscheidende Eindrücke. Brecht nannte Berlin die Hauptstadt der Neuen Sachlichkeit, für ihn war diese Stadt das Labor der Moderne.

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Bertolt Brecht im Februar 1938 in Stockholm, fotografiert von Curt Trepte


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Brecht verließ Berlin 1933, lebte dann in Dänemark, Schweden, Finnland, ab August 1941 in Santa Monica, USA. Einen Tag, nachdem er vor den Ausschuß für unamerikanische Tätigkeit zitiert wurde, am 31. Oktober 1947, verließ er die USA und ging fürs erste in die Schweiz. Hat es ihn zu dieser Zeit schon nach Berlin gezogen?
Werner Mittenzwei: Sicher, denn in Berlin, in der sowjetischen Besatzungszone, waren seine wichtigsten Freunde. Wie etwa Herbert Jhering, damals Chefdramaturg am Deutschen Theater. Brecht hat seine Rückkehr beinahe generalstabsmäßig vorbereitet. Dazu gehörte, daß er verbot, seine Stücke zu spielen. Vor allem den »Galilei« durfte niemand spielen. Er wollte nicht, daß seine Stücke irgendwie gespielt wurden. Es ging ihm darum, seine Spielweise durchzusetzen. Das probierte er zuerst am Zürcher Schauspielhaus. Hier erarbeitete er den »Puntila« mit Steckel in der Hauptrolle, der sie dann auch in Berlin gespielt hat.
     Was gab dann den konkreten Anlaß, im Oktober 1948 nach Berlin zu gehen?
Werner Mittenzwei: Eine Einladung des Kulturbundes. Aus dem Westen kamen ja keine Angebote, dort sah man in Carl Zuckmayer den größten Dramatiker der Gegenwart. In Berlin hatte Brecht eine Lobby. Zu der gehörten Wolfgang Harich, Herbert Jhering und in den Jahren bis 1947 auch Friedrich Luft. Die wollten den Brecht un

bedingt in Berlin haben, ebenso der sowjetische Literaturwissenschaftler Alexander Dymschiz, damals Leiter der Kulturabteilung der Sowjetischen Militäradministration. Vor allem er hat dafür gesorgt, daß Brecht in Berlin heimisch wurde und ein Theater bekam. Brecht wiederum war daran interessiert, sich dort niederzulassen, wo etwas Neues gemacht wurde. Aber es gab nicht wenige, zu ihnen gehörte auch Walter Ulbricht, die Brecht sehr skeptisch beurteilten.
     Was war denn an dem Brecht so störend?
Werner Mittenzwei: Die SED-Kulturpolitik ging davon aus, daß sich die neue Literatur an den Werten der deutschen Klassik zu orientieren hätte. Es ging darum, die Experimentiererei der 20er Jahre schnell zu überwinden, möglichst gar nicht mehr daran erinnert zu werden. Zu diesen Experimenten gehörte natürlich Brecht, darum befürchteten einige in der SED Ärgernisse.
     Als Brecht nach Berlin kam, war die sogenannte Formalismus-Diskussion in vollem Gange. Worum ging es da?
Werner Mittenzwei: Diese Formalismus-Diskussion kam aus der Sowjetunion.
     Shdanow, damals führender Ideologe der KPDSU, hatte einen Artikel geschrieben, in dem er gegen sowjetische Komponisten zu Felde zog, gegen Schostakowitsch, Chatschaturian und Prokofjew. Er wetterte gegen ihre Musik und fand, sie sollten doch lieber so schöne schreiben wie Glinka und

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Tschaikowski. Dieser Shdanow-Artikel wurde ins Deutsche übersetzt und zur politischen Praxis in Kunst und Kultur gemacht.
     In dieses Klima kam Brecht im Januar 1949 mit dem Stück »Mutter Courage und ihre Kinder«, das er am Deutschen Theater herausbrachte. Wie wurde es aufgenommen?
Werner Mittenzwei: Zunächst war es ein großer Erfolg für Brecht und Helene Weigel, das Theaterereignis, Berlin war begeistert. Dazu muß man wissen, daß sich das Berliner Nachkriegstheater auf keinem guten Niveau befand. Da war die »Mutter Courage« erst recht eine Sensation, etwas Einmaliges, der Durchbruch zu etwas ganz Neuem. Und dann erschien der Artikel von Fritz Erpenbeck, damals Herausgeber von »Theater der Zeit«, der führenden Theaterzeitschrift. Unter der eher beiläufigen Überschrift »Einige Bemerkungen zu Brechts >Mutter Courage<« fielen am Ende des Artikels die verhängnisvollen Worte von volksfremder Dekadenz. Damit war die Schlacht um die »Mutter Courage« eröffnet. Damals war es noch nicht üblich, daß ein »Generalartikel« erschien, dem sich dann alle anderen unterordneten. Es gab wirklich eine große Auseinandersetzung, in der sich vor allem Wolfgang Harich, damals Kritiker bei der »Täglichen Rundschau«, sehr für Brecht schlug.
     Hat Brecht in diese Auseinandersetzungen auch selbst eingegriffen?
Werner Mittenzwei: Kaum, er war so klug,
die Polemik anderen zu überlassen. Er formierte seine Schüler, die er natürlich mit den besseren Argumenten ausrüstete.
     Brecht schrieb 1948, daß ein befohlener Sozialismus besser sei als gar keiner. Bei dieser Haltung blieb er auch am 17. Juni 1953.
     Werner Mittenzwei: Brecht ging davon aus, daß die deutsche Arbeiterklasse durch den Faschismus eine vernichtende Niederlage erlitten hatte, von der sie sich auch nach dem Krieg noch nicht erholt hatte. Während seines Exils hatte er ja bis zuletzt gehofft, daß sich die Arbeiter erheben würden. Und nun sah er, daß ihnen eine Revolution geschenkt worden war, von der sie aber keinen Gebrauch machten. Hinzu kam für ihn eine fehlende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Im deutschen Fall wäre es lohnend, so sagte er, einmal ernsthaft die sozialistischen Elemente aufzuspüren, die der Nationalsozialismus pervertiert hat. Er fand, daß man darüber hinweggeht und versucht, die Massen mitzureißen, statt Widersprüche aufzuklären. Bei der Beurteilung des 17. Juni sagte er: »Dieses Berlin ist in einem geistigen Zustand, in dem es anscheinend in der Nazi-Zeit war.«
Brecht ist am 16. und 17. Juni selbst auf die Straße gegangen, um sich anzuschauen, was da passiert. Im Gegensatz zu manch anderem Künstler.
     Werner Mittenzwei: Als er bei Kuba anrief, Kurt Barthel, dem Sekretär des Schrift

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stellerverbandes, und fragte, ob der nicht zur Reinhardstraße kommen könne, lehnte dieser unter Hinweis auf die Gefährlichkeit der Situation auf der Straße ab. Daraus entstand in späterer, pointierter Erzählung die Anekdote, in der Herr B. amüsiert äußert: Ein deutscher Schriftsteller in Erwartung seiner Leser.
     Brecht ist nicht nur auf die Straße gegangen, er hat die Ereignisse dann drei Tage lang im Berliner Ensemble mit allen Mitarbeitern diskutiert. Und er kam dabei zu einer historisierenden Einschätzung. Im Osten wie im Westen gab es damals ja nur ganz einseitige Betrachtungen: der von Provokateuren angezettelte Putsch beziehungsweise der Arbeiteraufstand gegen kommunistische Willkür. Für Brecht stimmte weder das eine noch das andere. Diese dreitägige Diskussion nach dem 17. Juni hat für mich drei wesentliche Gesichtspunkte: Brecht sprach ganz klar von der Berechtigung des Streiks der Arbeiter, übersieht zugleich aber nicht ihren geistigen Zustand, der sich darin äußert, daß sie die Losungen des Westens aufgreifen. Außerdem setzt er sich mit dem unbefriedigenden Zustand der Kunstkritik auseinander, die ja mehr Phrasendrescherei als fundierte Kritik war. Und schließlich war er dafür, die zahllosen Fälle von Willkür, das Versagen der Justiz genau zu erfassen. Er wollte das sogar auf die Bühne bringen, um Veränderungen zu bewirken.
Brechts große Enttäuschung waren nicht die Ereignisse am und um den 17. Juni, sondern die Tatsache, daß danach in der Politik nichts verändert wurde. Deshalb seine sarkastische Reaktion auf Kuba, der ja dann meinte, daß sich das Volk nun bei der Regierung entschuldigen müsse. In dem Gedicht »Die Lösung« sagt Brecht: »Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?« Brechts depressive Stimmung, hervorgerufen durch das Ausbleiben von Veränderungen, wird auch in den »Buckower Elegien« sehr deutlich.
     Brecht starb am 14. August 1956 an den Folgen eines Herzinfarktes. Was im Falle seines Todes geschehen sollte, hatte er festgelegt, so auch, daß er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben werden
wollte. Während einer Trauerfeier im Berliner Ensemble sprach auch Georg Lukács, sein großer Kontrahent in der marxistischen Ästhetik. Zu dieser Rede schreiben Sie, daß der Nachruhm Brechts so begann, wie die Aufnahme seines Werkes zu Lebzeiten, mit einem Irrtum. Warum?
Werner Mittenzwei: Lukács kam in dieser Rede natürlich auf den Punkt, in dem sich Brecht und er unterschieden, auf die aristotelische Katharsis, die läuternde oder reinigende Wirkung, die, nach Aristoteles, Tragödien haben sollen. Weil Brecht dies seiner Meinung nach in seinen besten Werken verwirklicht hatte, sah er in ihm

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einen wirklichen Dramatiker. Was aber beweist, daß Lukács über das Gesamtwerk Brechts nicht informiert war. Denn Brecht hatte ja gerade eine nichtaristotelische Dramaturgie entwickelt.
     »Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln« ist 1986 erschienen. Aus heutiger Sicht einigermaßen erstaunlich, weil ja nicht nur die Kulturpolitik der SED kritisch betrachtet wird, es ist auch von Menschen die Rede, die zu DDR-Zeiten Unpersonen waren, wie zum Beispiel Robert Havemann.
     Werner Mittenzwei: Als das Buch fertig war, erschien es ja auch nicht. Es zählte länger als ein Jahr zu den nicht zur Veröffentlichung zugelassenen Büchern. Als ich das Buch beim Aufbau-Verlag abgegeben hatte, gab Klaus Höpcke vom Kulturministerium die Druckgenehmigung nicht. Der war wegen eines Parteiverfahrens gerade selbst in einer schwierigen Situation und taktierte nun, obwohl ein zustimmendes Gutachten vorlag. Er forderte ein neues Gutachten über die politischen Teile an. Darin hieß es dann, über das Literarische könne man sich kein Urteil erlauben, aber bestimmte Darstellungen in der Geschichte der Arbeiterbewegung seien nicht richtig.
     Was wurde denn vor allem kritisiert?
Werner Mittenzwei: Die meisten Änderungsvorschläge betrafen das Verhältnis zur Sowjetunion und meine Darstellung
der Person Ulbrichts. Daß er so persönlich geschildert war, das mißfiel außerordentlich.
     Und wie ging das mit den gewünschten Änderungen vor sich?
Werner Mittenzwei: Mit dem Chef vom Aufbau-Verlag, Elmar Faber, war ich mir einig, daß eine Haltung der offenen Konfrontation nicht klug wäre, uns beiden war ja am Erscheinen des Buches gelegen. So reichte Faber die Änderungsvorschläge, die er vom Ministerium bekam, an mich weiter. Von den 22 Änderungswünschen habe ich dann vielleicht acht berücksichtigt und Streichungen vorgenommen. Dann reichte das aber nicht, und ich bekam eine neue Liste dessen, was zu ändern ist. So ging das immer hin und her. Elmar Faber und ich, wir richteten uns auf eine lange Wartezeit ein. Das hatte ja auch den Vorteil, daß ich in dieser Zeit an dem Buch weitergearbeitet habe. Das Protokoll über die dreitägige Diskussion am Berliner Ensemble nach dem 17. Juni habe ich beispielsweise erst in die Hände bekommen, als das Buch schon bei Höpcke lag. Das habe ich natürlich eingearbeitet. So kam es zu dem merkwürdigen Umstand, daß das Buch einerseits entschärft, an anderen Stellen aber verschärft wurde. Mir war ja vollkommen klar, daß man im Kulturministerium nicht immer wieder 1700 Seiten neu lesen kann. Dicke Bücher hatten schon zu Zeiten von Friedrich dem Großen eher eine Chance als dünne.

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Bis es dann zur erlösenden Druckgenehmigung kam, waren aber noch einige Interventionen notwendig, die von Manfred Wekwerth kamen, damals Intendant des Berliner Ensembles und Präsident der Akademie der Künste. Nicht etwa von der Akademie der Wissenschaften, bei der ich angestellt war.
     Sie haben das Buch ja unter Umständen geschrieben, die Ihnen bekannt waren. Ging das ohne die berühmte Schere im Kopf?
Werner Mittenzwei: Es ging bei diesem Buch. Alle Veröffentlichungen davor waren entstanden, um etwas zu bewirken, zu verändern. Das begann schon mit der Dissertation. Als mein Betreuer in der Kulturabteilung des ZK einmal vom Dissertationsthema sprach, bekam er zu hören: Den Brecht muß man behandeln, wie die Partei jetzt Richard Wagner behandelt.
     Das Gesamtwerk ist dekadent, aber die »Meistersinger« sind volkstümlich. Bei Brecht war das einzige nicht dekadente, das volkstümliche Werk »Die Gewehre der Frau Carrar«.
     Bei der Dissertation nahm ich mir also vor, die Partei mit Brecht zu versöhnen.
     Ich wollte nachweisen, daß dieser große Dramatiker auf der gleichen Seite steht.
     Immerzu mußte man Brecht verteidigen, auch gegen Kritik aus dem Westen. Immerzu war das ein Teil meiner Arbeit. Als ich dann mit der Biographie begann, habe ich mir gesagt, jetzt verteidigst du mal nicht,
jetzt beschreibst du den Brecht so, wie du den siehst. Ich wollte meine Beichte zu Brecht ablegen, zum Abschluß kommen mit dem Mann, der zu den Göttern meiner Jugend zählte.
     Die Brecht-Forschung in Ost und West ist ja in den letzten 40 Jahren zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Gibt es heute so etwas wie eine vereinigte Brecht-Betrachtung?
Werner Mittenzwei: Nein, das ist gar nicht möglich, aber auch nicht notwendig oder wünschenswert. Als wohltuend empfinde ich allerdings, daß sich in der Brecht-Forschung statt der Polemik Sachlichkeit und solide Quellenarbeit durchgesetzt haben.
     Das Gespräch führte Jutta Arnold

Bildquelle:
Privatbesitz Mittenzwei
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 8/1996
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