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Der Schatz aus Troja
Schliemann und der Mythos des Priamos-Goldes

Mit Textbeiträgen von Wladimir P. Tolstikow und Michail J. Trejster
Katalogbuch zur Ausstellung in Moskau 1996/97
Belser Verlag Stuttgart und Zürich, 1996

Die halbe Wahrheit ist auch eine Lüge, und wer sie verbreitet, stellt sich ins Abseits. Die Moskauer Museologen, die seit April 1996 den weltberühmten Schatz des Priamos und andere von Heinrich Schliemann zwischen 1873 und 1890 in Hissarlik, das er für das antike Troja hielt, gefundene Pretiosen zeigen, tun genau dies. Als sei ihnen das trojanische Gold zugeflogen, als hätte es nicht 1945 in Berlin eine zielgerichtete Suche durch die Rote Armee nach Schliemanns Geschenk an das deutsche Volk gegeben.
     Die Direktorin des Puschkin-Museums, Irina Antonowa, weiß es besser, drückt sich im Buch zur Ausstellung aber um die Wahrheit. Als junge Frau war sie dabei, als die im Mai 1945 per Kurierflugzeug nach Moskau transportierten drei Kisten mit der Aufschrift »MVF« (Museum für Vor und Frühgeschichte) aus- und sogleich weggepackt wurden. Im Tresor des Moskauer Puschkin-Museums, gleich neben dem Eingang, schmorten bis jetzt die von deutschen Archäologen während des Zweiten Weltkriegs als »Tresorgut« eingestuften Schätze aus Gold, Silber, Bronze und Halbedelsteinen. Angeblich habe niemand nach ihnen gefragt, behauptete Frau Antonowa in einem Fernseh-Interview. In dem exzellent mit Farbfotografien ausgestatteten deutschsprachigen Buch zur Ausstellung »Der Schatz aus Troja« ist Irina Antonowa noch vorsichtiger. Ohne die im Auftrag Stalins agierenden Schatzsucher in der

Uniform der Roten Armee mit einem Wort zu erwähnen, schreibt sie: »Damals (nach Kriegsende, H. C.) wendete sich abermals das Schicksal des wertvollen Schatzes. Um ihn vor eventueller Gefährdung zu schützen, übergab der Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin den Schatz sowjetischen Militärs. So gelangte er mit anderen wertvollen Kulturgütern nach Rußland.« Verschwiegen wird, daß der damalige Museumsdirektor Wilhelm Unverzagt bis zuletzt um den Verbleib der Spitzenstücke seiner Sammlung in Berlin kämpfte und sie nur widerstrebend herausrückte. In Moskau wird derzeit bei Führungen sogar erzählt, Unverzagt habe die Kisten den Sowjets nicht nur »übergeben«, sondern sogar »geschenkt«.
     Bleibt hinzuzufügen, daß es ein Treppenwitz der Geschichte ist, daß die Sowjetunion sich den Schatz holte, den der Zar einst aus Verärgerung über Schliemann abgelehnt hatte. Der in Sankt Petersburg reich gewordene, aus Mecklenburg stammende Kaufmann hatte das Mißfallen des Herrschers aller Reußen erregt, weil er sich von seiner russischen Frau hatte scheiden lassen. Nach orthodoxem Ritus war das ungesetzlich. Schliemann, der die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, setzte seinen Willen durch. Er bot den Schatz erst dem griechischen Staat und dann dem deutschen Kaiser an, und nicht der Stadt Berlin, wie im Katalog behauptet und durch eine redaktionelle Anmerkung richtiggestellt wird.
     Michail J. Trejster spricht bei der Erläuterung der Exponate ein paar Seiten weiter von »schicksalhaften Umständen«, durch die die Gefäße, Ketten und Anhänger aus massivem Gold, die »Linsen« aus Bergkristall, rituellen Axthämmer aus grünem Stein und die anderen Gegenstände nach Moskau »gelangt« seien. Russische Wissenschaftler haben es eigentlich nicht mehr nötig, die Wahrheit zu verfälschen. Was 1945 in Berlin geschah, ist hinreichend bekannt, und wer sich

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auf das Schicksal beruft, macht sich lächerlich. Das mindert den Wert der Ausstellung.
     Der exzellent ausgestattete Katalog vermeidet ängstlich jeden Bezug auf den eigentlichen Besitzer des trojanischen Goldes, das Museum für Vor und Frühgeschichte. Es wird widerwillig und nur am Rande erwähnt. Der Band ist ein Musterbeispiel für den laxen Umgang mit der historischen Wahrheit. Dabei beschwört Irina Antonowa gerade sie, wenn sie sich über Schliemanns »bewußtes Verschweigen« bei der Schilderung der Grabungen erregt. Im übrigen: Die Ausstellung hätte schon lange gezeigt werden sollen, räumt die Museumsdirektorin ein. »Damals« hätte schon alles entschieden werden müssen. Vermutlich meint sie damit, daß heute kein Hahn mehr über Beutekunst krähen würde, hätte man sie gleich nach dem Krieg zum sowjetischen Staatseigentum erklärt. In gleichem Atemzug wird jegliche Mitwirkung sowjetischer und jetzt russischer Museen an der Gefangennahme der Kulturgüter abgestritten. Hier macht sich Frau Antonowa ganz klein.
     Es ist anzuerkennen, daß die vom Belser Verlag besorgte deutsche Ausgabe mit vielen lesenswerten Informationen über Schliemanns Funde ein eingelegtes mehrseitiges Geleitwort enthält. Darin äußerst der Direktor des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte, Wilfried Menghin, seine Enttäuschung über die mangelnde Kooperationsbereitschaft seiner russischen Kollegen. Daß sich der Berliner Museumsdirektor nur in einem Faltblatt äußern kann und es ihm verwehrt wird, im eigentlichen Buch jene notwendigen Richtigstellungen vorzunehmen, ist bezeichnend für die Spannungen zwischen Moskau und Berlin. Aber immerhin, es gibt diese Ergänzungen wenigstens in der deutschen Ausgabe. Da sie in der russischen Fassung fehlen, werden die Leser und Museumsbesucher im Lande Jelzins über die wirklichen Hintergründe der Kunstentführung weiter getäuscht. Dabei wäre jetzt die Gelegenheit, ein leidi
ges, leidvolles und wenig ehrenhaftes Kapitel der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte mit einem mutigen Bekenntnis abzuschließen.
     Der Katalog vermittle den Eindruck, so Menghin, als seien die Schliemann-Funde »herrenloses Gut« gewesen, das zweimal gerettet wurde - 1945 durch die Rote Armee und später durch russische Restauratoren. Er nennt es mit Blick auf das Puschkin-Museum »befremdlich«, daß sich ein Museum dieses Ranges entgegen internationalem Recht und im Widerspruch zu Inhalt und Geist bestehender bilateraler Verträge vor den Augen der Weltöffentlichkeit zum Eigner des Eigentums eines anderen Museums erklärt, was es im Grunde schon mit der »eigenmächtig veranstalteten Ausstellung« getan hat. Es sei höchste Zeit, daß die Verhandlungen über die beiderseitigen Rückführungen von Kulturgütern aufgrund der vertraglichen Vereinbarungen wieder in Gang kommen und sich das Ganze nicht in Ausstellungen von erbeuteten Kulturgütern erschöpft.
     Helmut Caspar
Berichtigung

Im Beitrag über den Ehrenbürger Herbert von Karajan (Heft 7/96) ist von den Salzburger Opernfestspielen die Rede; es muß natürlich Salzburger Osterfestspiele heißen.


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   108   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Thomas Blees
Glienicker Brücke
be.bra verlag Berlin, 1996

Der junge be.bra (Berlin-Brandenburger) Verlag ist bereits mit einer Reihe von Veröffentlichungen zur Berliner und brandenburgischen Geschichte hervorgetreten; der Publizist Thomas Blees hat in seinem großzügig ausgestatteten Band einen besonderen Ort, eine Nahtstelle ebendieser Geschichte, herausgegriffen und in »ausufernden Geschichten« beschrieben. In sechs großen Kapiteln erzählt Blees mit historischer Akribie alles, was man schon immer über diese Brücke wissen wollte, die eine besondere Rolle in der Geschichte des Kalten Krieges gespielt hat. Daß ein erstes Bauwerk an dieser Flußverengung seine Entstehung der Jagdleidenschaft eines Herrschers verdankt, vermag nach unseren historischen Erfahrungen ebensowenig zu verwundern wie die Nachricht vom Neubau erst nach vielen vergeblichen Klagen anläßlich einer geplanten Militärübung. Wir befinden uns in Preußen, und schon bei ihrer Gründung darf nicht jeder über die hölzerne Brücke, die von invaliden Soldaten bewacht wird.
     Erst Friedrich Wilhelm II. läßt die Verbindungsstraße zwischen den Residenzen Potsdam und Berlin mit einigem Aufwand zu einer preußischen Musterchaussee ausbauen. Die dritte Brücke schließlich baut Schinkel aus Stein. 1834 wird sie mit einem Festakt eingeweiht, aber schon 70 Jahre später ist der Schinkelbau mit den hölzernen Klappen für die Schiffspassage dem steigenden Verkehrsstrom zwischen den preußischen Metropolen nicht mehr gewachsen. Die Duisburger Firma Harkort baut die Metallkonstruktion, die noch heute die Havel überspannt und die als Symbol der deutschen Spaltung 40 Jahre lang den Namen „Brücke der Einheit«

führte. Bis zu ebendieser Einheit. Seitdem heißt sie wieder schlicht Glienicker Brücke.
     Blees hat all das aufgeschrieben, berichtet von der Zerstörung in den letzten Kriegstagen, dem Wiederaufbau und der Namensgebung, die eigentlich nur für die halbe Brücke vollzogen wurde und galt. Hin und wieder unterläuft ihm ein Fehler, den man ihm (Jahrgang 1964) verzeihen mag. Während der Blockade war Westberlin durchaus über die Brücken erreichbar, nur die Versorgung der Bevölkerung erfolgte über die Luftbrücke.
     Selbst nach dem Mauerbau gab es noch Pendler von Ost nach West (was an dieser Stelle geographisch von West nach Ost bedeutet). Blees hat einen davon interviewt. Auch einer der drei Männer, die im März 1988 mit einem Lkw über die Brücke flüchteten, kommt zu Wort, ebenso der ehemalige Kompaniechef der Grenztruppen, der die Öffnung der Brücke am 10. November 1989 miterlebte.
     Am meisten gespannt ist man natürlich auf jenes Kapitel, das die Brücke international berühmt machte: Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke. Nur dreimal, im Februar 1962, 1985 und 1986 haben solche Aktionen wirklich stattgefunden, die Blees sachlich und detailliert beschreibt. Auch hier ist es ihm gelungen, einen unmittelbar Beteiligten ausfindig zu machen, einen „Kundschafter« des Ministeriums für Staatssicherheit, den der Rechtsanwalt Vogel am 11. Februar 1986 auf der Brücke in Empfang nahm. „Das ist eine Brücke jetzt für mich wie jede andere auch«, sagt der heute. Und das ist eigentlich das Beste an all diesen ehemaligen Grenz-Brücken: Sie sind inzwischen Brücken wie jede andere auch.
     Helmut Eikermann

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   109   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
daß sicher viele Leser fragen werden, weshalb die Ansiedlung von Loewe und AEG nicht vorkommt...
     Abgesehen von diesem kleinen Manko, kann die Publikation als ein praktisches und knappgefaßtes Kompendium zu Moabiter Geschichte und Moabiter Firmengeschichte empfohlen werden. Gänzlich neue Aufschlüsse sollte der aufmerksame Verfolger von Berlin-Literatur jedoch nicht erwarten, denn im Kranz der versammelten Autoren findet man alle jene Fachleute, die schon längst als Experten ihres jeweiligen Spezialgebiets ausgewiesen sind (F. Escher für das Verhältnis Berlins zu seinem Umland; K. Dettmer zur Berliner Industriegeschichte; D. Vorsteher für die Borsig'sche Firmengeschichte) und für das vorliegende Werk aus dem Born ihrer schon vorhandenen und an anderen Stellen veröffentlichten umfassenden Kenntnis schöpften. Eine klar gegliederte Zeittafel und eine Auflistung der wichtigsten weiterführenden Literatur unterstreichen den Kompendiumscharakter noch. Daß neben einer etwas breiter gefaßten Geschichte der ersten Industrieansiedlung am Ort (Porzellanmanufaktur Schumann, 1826) und der selbstverständlichen ausgiebigen Würdigung von Borsigs Moabiter Gründungen weit mehr als ein Drittel des fortlaufenden Textes Carl Bolle (1832-1910), seiner Firma und seinem Firmensitz gewidmet ist, nimmt nicht Wunder angesichts des Themas »Spreebogen« und ist im Untertitel ja schon angekündigt. Im Rahmen dieses Themas ist auch der einzige Beitrag zu würdigen, der völlig originär ist: des Architekturhistorikers Lemburg präzise Darstellung der Baugeschichte des Moabiter Bolle-Komplexes von seinen Anfängen im Rahmen der Schumann'schen Manufaktur 1832 bis zum Abbruch vieler Gebäude 1983 mit Ausnahme des Alte-Meierei-Flügels und des einstigen Leute-Hauses (die beide in die Neubauten der Freiberger-Investition einbezogen wurden). Ein dankenswertes Meisterstück in der Darlegung von Fakten und Zusammenhängen ohne das weithin üb-
Helmut Engel/Volker Koop
Der Spree-Bogen, Carl Bolle und sein Vermächtnis

Brandenburgisches Verlagshaus, Berlin 1995

Gesponsort wurde die Veröffentlichung von der Ernst Freiberger Stiftung - und Freiberger ist der Investor, der auf dem einstigen Bolle-Gelände jenes Spreebogen-Bürocenter »mit dem außergewöhnlichen Drumherum« hat erbauen lassen, das heute als attraktiver Blickfang wirkt und nun sogar als künftiges Domizil für ein Bundesministerium durch die Presse geistert. Historiker und Archivare können sich unter heutigen Konditionen nur freuen, wenn ihre Forschungsergebnisse durch ein großzügiges Sponsoring auch in attraktiver Aufmachung ihren Weg in die Öffentlichkeit finden. Neidlos muß anerkannt werden: Mit diesem Buch liegt ein überzeugender Beweis dafür vor, daß unternehmerische Selbstdarstellungsinteressen eine geglückte Symbiose mit der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse eingehen können. Im Ergebnis kann sich die Gemeinde der an Berlin-Geschichte Interessierten an einem neuen Buch delektieren, das neben der wissenschaftlichen Exaktheit der Autorenbeiträge auch noch durch eine großartige und höchst informative Bebilderung besticht!
Wie so oft in der wissenschaftlichen Literatur, wird auch in diesem Falle mit der Titelwahl erheblich untertrieben: Tatsächlich wird eine instruktive Geschichte Moabits geboten, in der Besiedlung und Industrieansiedlung bis in das beginnende 20. Jahrhundert den roten Faden abgeben. Leider wird an keiner Stelle gesagt, daß man sich - mit Recht - auf Moabit in seinen historischen Grenzen beschränkt und das erst seit 1938 zu Moabit gezählte Charlottenburger Industriegebiet Martinickenfelde (westlich der Beusselstraße) nicht berücksichtigt, so


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Blick auf das Industrieviertel Moabit, 1877
liche Fach-Kauderwelsch des Architekturexperten!
Ein letztes Drittel des Buches ist den Leistungen des Investors, der Planer und Architekten bei der Neugestaltung des Spreebogens in den achtziger/neunziger Jahren gewidmet. Gern nimmt man zur Kenntnis, daß auch eine Bürgerinitiative aus der benachbarten Kirchstraße zu Wort kommt, mit der sich Investor Freiberger auf einen Kompromiß hinsichtlich Sichtachse und Geräuschpegel einigte - auch deshalb sei die Publikation der allgemeinen Aufmerksamkeit empfohlen, denn leider wird nicht überall und in jedem Falle in gleicher Weise verfahren. Ein Hauch von Optimismus kommt über den Leser, wenn er zum Ausklang von Volker Koops Hymnus auf die gelungene Neugestaltung des Spreebogens auf des Berlinerfahrenen Publizisten
und Journalisten gedankenschwere Überlegung stößt, daß man eigentlich dankbar sein müsse, daß die Alte Meierei »erst jetzt und nicht schon vor zehn oder zwanzig Jahren restauriert worden ist. Die gußeisernen Stützen, die Preußischen Kappen, die nun wieder freigelegt wurden und zu bewundern sind, wären sicherlich einem früher herrschenden Zeitgeist und architektonischen Verständnis geopfert worden und hätten einer gesichts- und geschichtslosen Gestaltung Platz gemacht.« (S. 137) Vielleicht versteht diese Mahnung gelegentlich der eine oder andere Investor, der sich vorwärtsweisend, aber allzuoft wenig verantwortungsbewußt auf einer der vielen Industriebrachen der neuen Bundesländer anzusiedeln gewillt ist.
     Kurt Wernicke
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 8/1996
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