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glaubten, das unübersichtliche Gelände als Verbündeten nutzen zu können. Auch S und Fernbahnzüge wurden hier per Notbremse zum Stehen gebracht. Durch kam keiner der Flüchtlinge.
     Mehr Glück - und bessere Chancen - hatten diejenigen, die im »Nassen Dreieck« zu Arbeiten eingesetzt waren. Das betraf Bauarbeiter, Eisenbahner und Transportpolizisten. Auch den Grenzposten gelang häufig die Flucht.
     Vom 13. August 1961 bis 31. Januar 1963 flüchteten nach Unterlagen der Polizeiinspektion Wedding 617 Menschen aus Pankow und dem Prenzlauer Berg in den Wedding. 142 von ihnen überkletterten die Sperren, 78 seilten sich aus Wohnungen ab, 78 sprangen in Sprungtücher der Westberliner Feuerwehr, 22 benutzten Leitern, 59 kamen durch die Kanalisation. Anderen wieder gelang die Flucht auf »sonstige Art«.
     Unter »sonstige Art« verstand die Polizeiinspektion Wedding Fluchten mit gefälschten Papieren und durch Tunnel. Aus Sicherheitsgründen wurden sie in den Akten seinerzeit so nicht ausgewiesen. Diese Fluchten bedurften immer der Hilfe von außen. Bekannt ist der Fall einiger Westberliner Studenten, die auf diese Art Freunde, Freundinnen, Verlobte und Familienangehörige in den Westen schleusten.
     Die Benutzung geliehener ausländischer
Pässe (der Inhaber mußte dem Flüchtling ähnlich sehen) funktionierte nur kurze Zeit.
Joachim Rechenberg
Fluchten am Pankower Abschnitt der Mauer

Als am 13. August 1961 die Grenzen nach Westberlin geschlossen wurden, waren auch für die Pankower die traditionellen Wege in den Wedding und nach Reinickendorf versperrt. Anfangs gab es in der Wollank- und Klemkestraße noch Übergangsmöglichkeiten für wenige berechtigte Personen, dieses Zwischenspiel aber dauerte nur kurze Zeit. Auch die Mauer selbst war in den ersten Monaten noch durchlässig.
     So war es anfangs z. B. in der Pankower Bahnhofstraße (heute Straße am Bürgerpark) noch relativ einfach, den löchrigen Zaun zum schon in Westberlin gelegenen Güterbahnhof Schönholz zu durchklettern. Mehrere Durchbrüche durch die Sperranlagen in der Wollankstraße mittels Kraftfahrzeugen führten schnell zu wirksamen Maßnahmen, die dies für die Folgezeit verhinderten. Die komplizierte Lage im durch drei Bahndämme gebildeten »Nassen Dreieck«, einer früheren Kleingartenanlage, verleitete manchen an dieser Stelle zum Fluchtversuch. Insbesondere Ortsunkundige


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Grenzsicherungsanlage im Pankower Abschnitt der Berliner Mauer, 1988
Die Fluchthelfer suchten nach anderen Wegen.
     Nachdem das Zerschneiden der Stacheldrahtsperre in der Pankower Bahnhofstraße zu gefährlich wurde, der junge Wolfgang W. war dabei angeschossen worden, beschlossen die jungen Leute, es mit dem Bau eines Tunnels zu versuchen.
     Sie gruben im September 1961 in zwei Wochen den einzigen in Pankow vollendeten
Tunnel. Er führte von einer verlassenen Lagerhalle der früheren Fouragehandlung Gellert in der Bahnhofstraße (heute Straße am Bürgerpark) unter dieser hindurch zum Städtischen Friedhof Pankow III, wo er unmittelbar hinter der später im Rahmen der Schaffung von Schußfeldern beseitigten Backsteinmauer endete. Die seit der Grenzschließung verlassenen und heute noch

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   28   Probleme/Projekte/Prozesse Die Mauer in Pankow  Voriges BlattNächstes Blatt
als Ruinen vorhandenen Gebäude waren ideal für das Vorhaben. Sie lagen schon auf Westberliner Gebiet und boten ausreichend gedeckte Arbeitsmöglichkeiten.
     Gut 25 Meter lang, etwa 80 cm hoch und 60 cm breit, verlief der Tunnel, solide abgestützt mit Balken und Brettern, knapp unter der festen, nun wenig befahrenen Straße. Alle 15 Minuten patrouillierte die Grenzpolizei. Sie bemerkte nichts.
     Drei Mann »bedienten« den Tunnel. Der Späher signalisierte, ob die Luft rein war. Der Mann am Tunneleingang stand mittels einer Leine mit dem dritten Mann am friedhofsseitigen Einstieg in Verbindung. Ein Ruck, und die »Trauergesellschaft« konnte im Boden verschwinden. Über mehrere Wochen gelangten Flüchtlinge derart geleitet in den Westteil der Stadt.
     Entdeckt wurde der Tunnel erst am 20. Dezember 1961, als ein leerer Kinderwagen auf dem Friedhof stehenblieb. Eine junge Frau hatte die Fluchtgelegenheit zufällig entdeckt und die Möglichkeit sofort genutzt.
     Die Grenzer schütteten den Tunnel ohne viel Aufsehen zu. Honecker, dem die Information darüber zu spät auf den Tisch kam, beschwerte sich eine Woche später beim Innenminister Maron darüber, das man diese »Provokation« nicht propagandistisch ausgewertet habe. Die verantwortlichen Offiziere hätten hier »unpolitisch gehandelt«, meinte er und verlangte, »in Zukunft
ein verantwortungsbewußtes, politisches Handeln zu gewährleisten«. Die Gelegenheit dazu ergab sich schon wenig später. Die Tunnelgräber waren nur knapp 500 Meter weiter südwärts zum Bahnhof Wollankstraße umgezogen.
     Am 27. Januar 1962 gegen 17.15 Uhr bemerkte die diensthabende Aufsicht des S-Bahnhofes Wollankstraße, daß sich auf dem Bahnsteig das Mosaikpflaster an einer Stelle gesenkt hatte. Bei näherer Begutachtung brach das Pflaster an dieser Stelle im Durchmesser von ca. 1,20 Metern ein. Bereits in der vorangegangenen Nacht waren vom Aufsichtsführenden Risse bemerkt worden.
     Die Überprüfung der darunterliegenden Stadtbahnbogen, in denen bis zum Mauerbau kleine Handwerksbetriebe und Gemüsehändler ihr Domizil hatten, zeigte den besorgten Eisenbahnern schnell die Ursache.
     Im Bogen 12 fanden sie einen senkrecht gegrabenen, drei Meter tiefen Einstiegschacht von 0,90 Meter Breite und 1,50 Meter Länge. Davon ging rechtwinklig zu den Bahngleisen ein waagerechter Gang ab, der etwa 0,90 Meter hoch und 0,80 Meter breit war. Nach drei Metern bog er mit einer Rechtskrümmung von 30 Grad in Richtung Schulzestraße ab. Gut zwei Meter nach dieser Biegung war er durch lockere Sandmassen verschüttet.
     Die Ermittler des MfS mußten sich erst

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durch eine eilig geschlagene Öffnung unter der Bahnbrücke Zugang verschaffen (ihnen war der Weg der Eisenbahner über die Westberliner Nordbahnstraße nicht möglich). Sie fanden dann alle zugemauerten Verbindungen zwischen den 15 Bogen aufgebrochen sowie in den Bogen 7, 8 und 10 weitere begonnene Einstiegschächte. Die
Diese Zeichnung erhielten die Teilnehmer der Internationalen Pressekonferenz vom 1. 2. 1962.

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Bogen 13, 14 und 15 bargen die ausgehobenen Erdmassen.
     Der projizierte Tunnelverlauf ließ den Schluß zu, daß er nach rund 30 Metern in der Schulzestraße 40 auf dem Gelände der Ostberliner Schlosserei Fermum enden sollte. Ständige Erschütterungen durch überfahrende Züge und Oberflächenwasser von der nahen Panke führten aber offenbar zum Einsturz, ohne daß jemand zu Schaden kam, und verhinderten die Fertigstellung des Tunnels. Zurückgelassene Zeitungen und frischer Sandaushub zeugten von eiliger, aber organisierter Flucht der Amateurbergleute.
     Mielkes Bericht, der an Walter Ulbricht, Paul Verner und Erich Honecker ging, sprach von frischen Schnittflächen an aufgefundenen Brettern und Holzstempeln, von zurückgelassenen Zeitungen vom 26. Januar und einer Skizze vom Tunnelbau. Anlaß zu gehässigen Kommentaren gab ein Zettel der Tunnelbauer, auf dem die Rede von »neuen Platten« war. Irgend jemand fand heraus, daß »Platten« im US-amerikanischen Gangsterjargon Dollar bedeuteten. Die Tunnelgräber aber meinten ganz sicher Holzplatten zur Verkleidung der Wände, denn sie finanzierten die Arbeiten selbst. Kommerzielle Praktiken zogen erst bei späteren Tunnelbauten ein.
     Am 1. Februar wurde die spektakuläre Aktion auf Weisung des Ministers für Staatssicherheit, Mielke, in einer internationalen
Pressekonferenz propagandistisch »verkauft« und insbesondere der Umstand der Verkehrsgefährdung dramatisch dargestellt. Schließlich verlief über dem Tunnel auch das sogenannte Alliiertengleis. Merkwürdigerweise stimmen sowohl Zeitangaben als auch Werte der Abmessungen nicht immer mit dem Bericht des MfS überein.
     So wurden die Stollenabmessungen für die Presse fast verdoppelt dargestellt und die Auffindung in die Mittagsstunden vorverlegt.
     Die Tunnelgräber hatten indes nach dem Einsturz des Stollens noch die wichtigsten Materialien abtransportiert und begannen mit neuen Arbeiten in der Bernauer Straße ...
     Ein dritter Tunnel in Pankow, gegraben von einer anderen Gruppe, wurde ebenfalls kurz vor Fertigstellung am 12. Juni 1962 auf dem Gelände des damaligen VEB Bergmann-Borsig entdeckt. Von Westberlin aus war er durch den Lehmboden unter dem Postenweg hindurch gegraben worden. »Auf Grund der vorgefundenen Gegenstände ist zu vermuten, daß die Täter im letzten Moment gestört und unter Zurücklassung dieser Gegenstände nach Westberlin flüchtig wurden«, ist in der Lagemeldung zu lesen.
     Parallel zu den ersten Tunnelbauten liefen Versuche, durch die weitverzweigte Kanalisation nach Westberlin zu gelangen. Doch fanden sich begehbare Kanäle unter den Sektorengrenzen hinweg nur wenige.
     Studenten hatten sich unter dem Vorwand

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von Belegarbeiten zur Geschichte der Berliner Kanalisation Einsicht in einschlägige Pläne verschafft.
     So wurde in Pankow - an der Grenze zum Stadtbezirk Prenzlauer Berg - der gut begehbare Regenwasserkanal in der Esplanade zur organisierten und teilweise zufälligen Schleuse für viele Flüchtlinge. Herausgesägte Gitter machten den Weg in die Weddinger Grüntaler Straße frei, in Ost und West von »Deckelmännern« abgesichert, die nach dem letzten Flüchtling wieder für einen
ordentlichen Verschluß des Kanals zu sorgen hatten.
     In der Wilhelm-Kuhr-Straße beobachtete Klaus-Egon G. mehrfach solch nächtliches Treiben von seinem Fenster aus. Morgens fand er heraus, daß der Kanaldeckel gelockert worden war, und vermutete einen funktionierenden Fluchtweg. Mit einem Freund wagte er am 28. Januar 1962 um 3.00 Uhr den Einstieg und kroch fast 400 Meter in der 60 cm starken Abwasserröhre westwärts.
     Als die Signalanlagen Alarm auslösten, drohten die Grenzer am offenen Kanaldeckel mit Handgranatenwurf und gaben einen Warnschuß in die Luft ... Daraufhin brachen die beiden den Fluchtversuch ab und wurden verhaftet.
     Die direkten Fluchtversuche über die Pankower Westgrenze endeten oft tödlich. Am 27. November 1961 wurde Gerhard Kayser am Bahnhof Wilhelmsruh um 4.25 Uhr
zwischen den Grenzzäunen niedergeschossen. Er verstarb wenige Tage später.
     Dorit Schmel starb am 19. Februar 1962 am Wilhelmsruher Damm. Sie wollte gegen 1.40 Uhr gemeinsam mit ihrem Verlobten, der unverletzt festgenommen wurde, flüchten.
     An der Klemkestraße versuchte am 29. April 1962 Horst Frank gegen 00.30 Uhr, die Sperren zu überwinden. Von Schüssen getroffen, verstarb er am gleichen Tag im VP-Krankenhaus.
     Dietmar Schulz sprang am 25. November 1963 am »Nassen Dreieck« um 21.40 Uhr aus einer fahrenden S-Bahn. Er erlitt einen Schädelbruch und verstarb noch am Unfalltag im Krankenhaus.
     Versuchten bis 1963 noch verhältnismäßig viele Menschen an der Pankower Mauer ihr Heil in der Flucht, so wurde die Grenze mit jedem Jahr ihres Bestehens undurchlässiger.
     Aufgerissene Straßenpflaster und kreuzweise verschweißte Schienenstücke sollten Durchbrüche mit Kraftfahrzeugen verhindern. Abwasserkanäle wurden vergittert, Schienen auf den Bahndämmen abgebaut ... Alles, was die Blick- und Schußfeldfreiheit behinderte, wurde abgerissen. Mit deutscher Gründlichkeit und einem enormen finanziellen Aufwand wurde die »Staatsgrenze West« nach und nach technisch perfekt ausgebaut. Nur unter Lebensgefahr war sie zu überwinden. Das wußte

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auch, wer vom Bezirk Pankow aus eine solche Flucht wagte.
     Schon der erste Schritt in das Grenzgebiet wurde in der Regel bemerkt, ein perfektes Überwachungssystem half, Verdächtige bereits im Vorfeld abzufangen. Wer hier nicht auffiel, mußte als nächstes die fast vier Meter hohe »Hinterlandsicherungsmauer« überwinden. Gelang das, befand sich der Flüchtling im Blick- und Schußfeld der Posten und stand wenige Meter vor dem Grenzsignalzaun. Dieser war zwar relativ problemlos zu überwinden, eine stabile Zange reichte aus, um den (aus extra für diesen Zweck aus Schweden importiertem Chrom-Nickel-Stahldraht hergestellten) Stacheldraht zu zerschneiden ... Aber mit dem Schnitt löste der Flüchtling die »Disco« aus. Der Begriff »Disco« galt als Sammelbegriff für alle optischen und akustischen Alarmeinrichtungen. Nach dem Signalzaun folgten Trittsperren, d.h. Stahlgittermatten mit nach oben gerichteten Spitzen. Wer sich dort nicht schwer verletzte, hatte noch einige Meter Kolonnenweg und Kontrollstreifen (regelmäßig frisch geharkt) zurückzulegen. Dann kam das vordere Sperrelement, die eigentliche Grenzmauer. Sie war ohne fremde Hilfe nicht zu überwinden.
     Minenfelder, wie an der Grenze zur BRD, gab es in und um Berlin nicht. Die Schußfelder der Posten und Turmbesatzungen waren festgelegt, ebenso, von wem, wie und auf
welchem Weg der Grenzverletzer abzutransportieren sei ...
     Wie vielen Menschen exakt die Flucht aus Pankow in den Westen gelang, ist noch nicht endgültig erforscht. Die Akten der Grenztruppen der DDR weisen zwar akribisch jede Grenzverletzung aus, ständiger Wechsel in der Zuordnung der Grenzabschnitte zu unterschiedlichen Einheiten erschwert aber die Aufarbeitung in den Archiven ebenso wie die teilweise Vernichtung während der Auflösung der Grenztruppen.
     Heute, sieben Jahre nach der Öffnung der Grenzen, ist in Pankow nur noch schwer zu erkennen, wo die Mauer verlief.

Bildquellen:
Archiv Koch, Archiv Autor


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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 8/1996
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