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im wirtschaftlich und wissenschaftlich gering entwickelten Brandenburg ein weites Betätigungsfeld. Sein Wissen überragte das vieler seiner Zeitgenossen. In alten Quellen wird er »zu den Abenteurern von mässig anständiger Gesinnung gerechnet«. Erst das 20. Jahrhundert läßt mehr Gerechtigkeit walten, stellt Positives und Negatives nebeneinander, ordnet Thurneysser ein in eine bestimmte Zeit, in ein bestimmtes gesellschaftliches Umfeld.

Ein Anhänger der Theorien
des Arztes Paracelsus

Als Leonhard Thurneysser nach Berlin kam, war er, am 6. August 1531 geboren, bereits 40 Jahre alt. Er hatte sich in der Welt umgesehen und in den verschiedensten Berufen gearbeitet: als Goldschmied, Mediziner, Apotheker, Wappenstecher, Soldat, Bergmann, Alchemist, Astrologe, Naturforscher und Schriftsteller. Bei seinem Vater erlernte er in seiner Heimatstadt Basel zunächst das Goldschmiedehandwerk und bekam erste Einblicke in Metallurgie und Chemie, war aber gleichzeitig nebenbei als Famulus bei dem Arzt und Naturforscher Dr. Johann Huber tätig, für den er Kräuter sammelte und sich Grundkenntnisse in der Zubereitung von Arzneien aneignete. Bei seinem Lehrherrn lernte er die Schriften Paracelsus' kennen und war Zeit seines Lebens ein Anhänger dessen medizinischer Theorien.

Susanne Benjamin
Ein Berliner Dr. Faustus?

Geachtet und als Zauberer verteufelt: Leonhard Thurneysser

Am 9. Juli vor 400 Jahren starb ein Mann, über den es bei Literaten, Historikern, Medizinern sehr unterschiedliche, oft konträre Auffassungen gibt. Die widerspruchsvolle Beurteilung von Leonhard Thurneysser, der sich selbst zum Thurn nannte, reizt, ihn neu zu betrachten, zumal eine umfassende Biographie noch aussteht. Thurneysser lebte in einer Übergangszeit, in der sich die Naturwissenschaften schrittweise von mystischen Anschauungen befreiten, in der sich Astronomie, Chemie, Medizin allmählich aus der Umklammerung der Alchemie lösten.
     Die Naturbeobachtung wurde zum Bewertungsmaßstab für Erkanntes, im Leben selbst mußte sich die Diesseitigkeit des Denkens beweisen. Thurneysser wandte diese neue Methode konsequent an, zumal er als Autodidakt unbeschwerter mit der autoritären mittelalterlichen Scholastik, mit der Schulmedizin umgehen konnte als seine studierten und promovierten Zeitgenossen. Er war der geniale Zusammenfasser und Nutzer neuer Erkenntnisse und fand damit


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Mit 16 Jahren ging er auf Wanderschaft, kam nach England und Frankreich (1547 bis 1551). Thurneysser stand von 1551 (oder 1552) bis 1553 als Landsknecht im Dienste des Markgrafen Albrecht von Brandenburg-Kulmbach. In der Schlacht von Sievershausen gegen Kurfürst Moritz von Sachsen am 9. Juli 1553 geriet er in Gefangenschaft, aus der er sich jedoch loskaufen konnte. Anschließend arbeitete er in Deutschland und Rußland in Bergwerken und Schmelzhütten sowie in Straßburg und Konstanz als Goldschmied.
     1555 kehrte er nach Basel zurück und heiratete die ältere, wohlhabende Witwe Margarete Müller(in), die ihn jedoch mit ihrem Vormund betrog. Leichtsinnig hatte 1558 der selbst zahlungsunfähige Thurneysser Bürgschaften für Freunde übernommen, in der Hoffnung, notfalls auf das Vermögen seiner Frau zurückgreifen zu können. Das wurde ihm jedoch von deren Vormund verwehrt. Daraufhin versuchte er, seine Gläubiger mit
einer Stange vergoldeten Bleis, das er als Goldbarren ausgegeben hatte, zu täuschen.

Bevor dieser Betrug herauskam, durch den er das Bürgerrecht einbüßte, verließ er seine Vaterstadt. 1559 verdingte er sich in Tirol als Metallurg im Bergbau und im Hüttenwesen, brachte es später zum Aufseher und Bergbauinspektor, zuletzt sogar zum Minenbesitzer. Seine Bergwerke, Schmelz- und Schwefelhütten zogen viele Menschen an, unter anderen Kaiser Ferdinand I. und dessen zweiten Sohn Erzherzog Ferdinand, seit 1564 Regent in Tirol. In dieser Zeit betätigte er sich auch als Arzt und Schneidekünstler. Die Schneidekünstler standen in der mittelalterlichen Handwerkertradition. Es waren Spezialisten auf einem bestimmten Gebiet der Chirurgie, wie z. B. auf dem Gebiet der Bruch- oder Blasensteinoperationen. Die jeweiligen Kenntnisse waren ein Geheimnis, das nur innerhalb der Familie an die nächste Generation weitergegeben wurde. Schon 1559 erhielt Thurneysser die kaiserliche Erlaubnis zur Sektion einer Leiche, ein besonderes Privileg zur damaligen Zeit.
     1558 hatte Thurneysser in Konstanz Anna,


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   20   Probleme/Projekte/Prozesse Leonhard Thurneysser  Voriges BlattNächstes Blatt
die Tochter des Goldschmieds Huettlin (Hüetlin), kennengelernt. Nachdem er 1563 von seiner ersten Frau geschieden wurde, konnte er sie heiraten und nach Tirol holen. Mit ihr hatte er vier Kinder.
     Durch die Gunst und Förderung des Erz
herzogs Ferdinand II. von Tirol gelang es ihm nach 1560, zum »Meister aller Minen in Tirol« aufzusteigen. Im Auftrag seines Gönners unternahm er zwischen 1560 und 1565 Studienreisen nach England und Schottland, Spanien und Portugal, nach Äthiopien, Ägypten, Syrien und Palästina.
     Über Kreta, Griechenland, Italien und Ungarn ging er zurück nach Tirol. Er sammelte seltene Pflanzen, Mineralien und Rezeptbücher.
     Auf seinen Reisen hatte er so viel Neues gesehen und kennengelernt, daß sein Interesse fortan den Wissenschaften galt. 1570 schied er endgültig aus den Diensten des Erzherzogs aus und machte sich auf die Suche nach einer leistungsfähigen Druckerei für seine Werke. Im Winter 1570/71 hielt er sich in Frankfurt/Oder auf. Während seiner Reise dorthin untersuchte er den Metall- und Mineraliengehalt der Flüsse und des Bodens in der Mark. Diese Untersuchungsergebnisse brachte er in sein neues Werk »Pison«, ein »Wasserbuch«, »Herbario und ein Arztney-Buch« ein, für das er schon die kaiserliche Druckgenehmigung besaß. In der damals bekannten
Inneres der Klosterkirche

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   21   Probleme/Projekte/Prozesse Leonhard Thurneysser  Voriges BlattNächstes Blatt
Eichhornschen Druckerei in Frankfurt wollte er seine Schriften »Archidoxa« und »Pison - Von kalten, warmen, Iminerischen und Metallischen Wassern, sampt der vergleichunge der Plantarum und Erdgewaechsen« drucken lassen. Der Kurfürst von Brandenburg und seine Gemahlin weilten im Frühjahr 1571 ebenfalls in Frankfurt/Oder. Johann Georg (1571-1598) war vom geologischen Werk Thurneyssers beeindruckt, verhieß es doch der Mark Brandenburg bedeutende Heilquellen und Bodenschätze. Als es Thurneysser gelang, die Leiden der Kurfürstin Sabina durch eine Kur zu lindern, war ihm die Gunst des Herrscherpaares sicher. Er wurde zum Leibarzt mit 1 352 Talern Gehalt ernannt, bekam in Berlin im leerstehenden Grauen Kloster (Kapitelsaal) und in den angrenzenden Gebäuden Räume als Wohnung und Laboratorium, eine Kalesche, Kleidung, Deputate und vor allem die uneingeschränkte Unterstützung des Herrscherpaares.

Mediziner und Metallurge,
Astrologe und Botaniker

Sein Auftreten und sein ungewöhnlicher Aufstieg hatten für viele im Ständedenken befangene Bürger der Stadt etwas Unheimliches. Selbstbewußt wie er war, ging er nur in schwarzen samtenen und seidenen Kleidern, goldenen Ketten, aß nur von silbernen Tellern. Bedienen und begleiten ließ er sich

stets von zwei Edelknaben. Bei seinen Fahrten im vierspännigen Wagen liefen Diener nebenher. Auffällig und ungewöhnlich wie sein Auftreten und die Art, sich zu kleiden, waren die Gegenstände, mit denen er sich beschäftigte. Obwohl er kein abgeschlossenes Studium nachweisen konnte, versuchte er sich in den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen, gab sich als Mediziner, als Apotheker, als Metallurge, als Alchemist und Astrologe aus, wirkte als Botaniker und Zoologe.
     So einer mußte einfach mit dem Teufel im Bunde stehen. Mit seinem Streben nach Wissen, seiner scharfen Beobachtungsgabe, seinem Organisationstalent und seiner an Mäzenatentum grenzenden Freigebigkeit war er eine Art Berliner Doktor Faustus.
     Neben beachtlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen verstieg er sich mitunter zu Spekulationen, so z. B., wenn er behauptete, daß im Wasser der Spree Gold zu finden sei, daß es im märkischen Sand beachtliche Bodenschätze, sogar Saphire und Rubine gäbe. Dies und seine spektakulären Erfolge, vor allem die damit verbundenen finanziellen Gewinne, haben die studierten Fachkollegen erbittert, genauso wie seine Welterfahrenheit den durch die Zünfte engen Geist der Berliner Bürger gereizt hat. Ärzte und Professoren der Universitäten Heidelberg, Frankfurt/Oder, Magdeburg, Greifswald waren seine schärfsten Kritiker. Thurneysser mußte sich immer wieder in zermürbenden Rechtfertigungsprozessen gegen Neid

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und Dummheit durchsetzen. Hinzu kam, daß dieser extravagante Mann kein zurückgezogen lebender Büchergelehrter war. Er genoß bei vielen hochgestellten Persönlichkeiten großes Ansehen, stand in Briefkontakt mit Kaiser Maximilian, mit Königen und Fürsten, wurde konsultiert von Ärzten und Wissenschaftlern, die seine Methoden und Arzneien kennenlernen wollten.
     Thurneysser war Handelsherr, Verleger, Buchdrucker, Unternehmer. Als Mediziner entwickelte er auf dem Boden der Alchemie eine eigene Harndiagnostik. Aus destilliertem und resolviertem Urin leitete er seine Therapie ab. Jeder Patient mußte zehn Taler für die Harndiagnose im voraus bezahlen und außerdem die von Thurneysser verschriebenen teuren Medikamente kaufen. Die Medikamente bestanden zum großen Teil aus kostbaren Substanzen und Edelsteinen: Smaragdtinktur, Goldpulver. Aufträge - und damit verbunden Geld - kamen aus ganz Deutschland und sogar aus einigen europäischen Ländern in die Klosterstraße. Da er aber in der Mark Brandenburg für seine Harn- und Mineralwasseranalysen nicht genügend Retorten und Flaschen auftreiben konnte, übernahm er die Leitung einer Glashütte, verbesserte deren Produktionsablauf und stellte feines weißes Glas her. Mit all diesen Projekten förderte er in Berlin die Entwicklung von Technik und Naturwissenschaft und trug viel zur Belebung von Handwerk und Handel bei.
Bald gehörte er zu den reichsten Männern der Stadt

Der Wunsch vieler adliger Damen und Herren nach Jugend und Schönheit ließ ihn zum Hersteller und Händler von kosmetischen Präparaten und Verjüngungsmitteln werden. Er gründete einen Großversand in der Klosterstraße und betrieb einen schwunghaften Handel mit Arzneimitteln, kosmetischen Produkten und astrologischen Almanachen. Sterndeutungen, Prophezeiungen, Horoskope, astrologische Kalender und Talismane brachten im damaligen Berlin mehr Geld ein als aufwendige Studien und deren Publikation. Dennoch - auch Thurneysser veröffentlichte seine Beobachtungen, verallgemeinerte seine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Sie trugen zu seiner Popularität bei und vermehrten sein Ansehen.
     Bald gehörte er zu den reichsten Männern Berlins. Viel Geld verdiente er außerdem mit der Untersuchung von Gesteinsproben und mit Gutachten über Lagerstätten.
     Seine pharmazeutischen und diagnostischen Kenntnisse gab er gegen die Zahlung eines »Ausbildungsgeldes« an Jüngere weiter. In den Gebäuden des Grauen Klosters richtete er eine Teppichweberei und eine Druckerei ein - zwar nicht die erste, wie vielfach behauptet wird, aber durchaus eine, die Berlin über Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannt machte. In dieser Druckerei wurde 1617 die erste Berliner Zeitung


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gedruckt, die sogenannte »Berliner Botenmeister Zeitung« von Christoph Frischmann, direkte Vorgängerin der bekannten »Vossischen Zeitung«.
     Zur Druckerei gehörte ab 1576 eine Schriftgießerei - eine Voraussetzung, um Bücher in hebräischen, griechischen, persi
schen, arabischen, türkischen und lateinischen Lettern drucken zu können. Böse Zungen behaupteten, diese Lettern hätten nur dazu gedient, seine Werke zu schmücken und ihnen einen akademischen Anstrich zu verleihen. Dem widerspricht, daß Gelehrte aus ganz Europa und der Kurfürst im Kloster
Die Klosterkirche mit dem Gymnasium

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Bücher drucken ließen. In seinen Werkstätten beschäftigte er Maler, Schriftgießer, Formschneider, Metallarbeiter, Mathematiker aus vielen deutschen Ländern. Seine eigenen Kräuter- und Arzneibücher konnte Thurneysser nun mit aufwendigen und prachtvollen Holzschnitten illustrieren lassen. Aber nicht nur seine eigenen, sondern alle im Kloster gedruckten Werke sind Zeugnisse großen handwerklichen Könnens, den besten Leistungen früher Buchdruckerkunst ebenbürtig.
     Ab 1572 gab Thurneysser den astrologischen Almanach »Nativitäten« heraus. Jährlich erschienen Kalender, die in verschlüsselter Form Prophezeiungen enthielten. Gegen ungünstige Prophezeiungen konnte man »Gegenmittel« erwerben, sogenannte Talismane, gefertigt aus Metallegierungen, errechnet nach dem Planetenstand der Gestirne bei der Geburt. Sie sollten Krankheiten und Unglück abwenden. Die Kalender, Horoskope, Talismane und Sigillen (Bildchen, die magische Zeichen, Symbole enthielten und Schutz bieten sollen) bedeuteten eine wichtige Einnahmequelle für Thurneysser. Außerdem war er in Berlin im Geld- und Bankgeschäft tätig, verlieh Kapital, wechselte fremde Währungen. Um 1580 soll Thurneysser 1 000 000 Gulden besessen haben. Dieses Geld aber gab er mit vollen Händen wieder aus. Er mußte für viele Beschäftigte sorgen, über 200 Helfer und Angestellte standen bei ihm in Lohn und Brot.
Zum Teil wohnten sie mit ihren Familien bei ihm im Kloster und wurden auch verpflegt.
     Daneben benutzte er seinen Reichtum, um Kulturgüter zu sammeln und zu erhalten. Berichtet wird von einer Gemälde- und Waffensammlung, von wertvollen Silbergeräten. 1583/84 ließ er, kurz vor seinem Weggang aus Berlin - wie ein echter Mäzen - das Innere der Franziskanerklosterkirche weißen und den Klosterkomplex restaurieren.
     Unter seiner Leitung entstand in der Berliner Klosterstraße eine wissenschaftliche Bibliothek mit Werken aus aller Welt.
     Zur Sternbeobachtung hatte er sich ein kleines Observatorium in einem Turm des Klostergebäudes eingerichtet. Ausführlich beschrieb er einen am 19. Oktober 1577 über Berlin gesichteten Kometen.
     In seinem Naturalienkabinett sammelte er Samenarten, ausgestopfte oder getrocknete Tiere, Erze, Mineralien. Im Klostergarten blühten neben einheimischen Arzneipflanzen viele fremde Gewächse. Hier entstand Berlins erster botanischer und zoologischer Garten.

Er führte die Beringung
der Vögel in der Mark ein

Bei seinen frühen Schriften lagen ernstes wissenschaftliches Streben und bewußte Irreführung dicht beieinander. Der »Pison« z. B., aus dem Jahre 1572, enthielt neben der


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Behauptung, im Schlick der Spree gäbe es Gold von 23,5 Karat (24 Karat = reines Gold), durchaus brauchbare Verfahren zur Untersuchung von Wasser. Er verglich das Gewicht des Regenwassers mit dem anderen Wassers, machte sich Gedanken über das Abdampfen, die Kristallisation des Rückstandes und seine Überprüfung in der Flamme. In diesen Details zeigte er sich als genauer Beobachter und ernstzunehmender Naturforscher. In Teilbereichen kam er zu Erkenntnissen, die heute noch Beachtung finden. Für das 16. Jahrhundert waren seine Schlußfolgerungen erstaunlich. Sein Werk »Historia« war das erste umfassende Kräuterbuch der Mark Brandenburg mit vielen hervorragenden Abbildungen. Thurneysser führte umfangreiche anatomische und botanische Studien durch. Er beobachtete den jährlichen Vogelzug und führte in der Mark die Beringung von Vögeln ein.
     1575, auf dem Höhepunkt seiner Erfolge, starb seine zweite Frau. Er zog sich vom öffentlichen Leben weitgehend zurück. Eine Pestepidemie im Berliner Raum zwang ihn 1576, ein Jahr lang aus Berlin fortzubleiben, Besitz und Geschäfte zu vernachlässigen.
     Erneut keimte der Gedanke auf, in seine Schweizer Heimat zurückzukehren. Die immer häufigeren Angriffe studierter Fachkollegen, die zwar seine Heilerfolge nicht bestritten, sie aber einem Bündnis mit dem Teufel zuschrieben, vergällten ihm das Leben in Berlin. 1577 erlitt er einen Schlag
anfall. Sein Wesen veränderte sich, einige Quellen sprechen sogar davon, daß er trübsinnig wurde. In seiner Heimatstadt Basel wollte er Ruhe, Heilung und eine Erneuerung seiner Schaffenskraft finden und seine letzten Lebensjahre als Gelehrter verbringen. Um diesen Entschluß zu bekräftigen, verkaufte er seine Druckerei, aber der Kurfürst genehmigte ihm 1579 nur einen Urlaub nach Basel. Erneut versuchte Thurneysser, für sich und seine Kinder das Baseler Bürgerrecht zu erlangen, hoffte gar, durch eine Heirat sein Anliegen zu begünstigen. Mit 50 Jahren, im November 1580, nahm er die mehr als 20 Jahre jüngere Marina Herbroth (Herbrott), Tochter aus niederem Adel, zur Frau. Es war eine Zweckheirat, er hatte seine Braut vor der Ehe nie gesehen. Sein beträchtliches Vermögen, die Gemäldesammlung, die Bibliothek und das Herbarium sandte er in die Schweiz. Als es zwischen ihm und seiner jungen Frau, nach Thurneyssers eigenen Worten »eine ehrvergessene Blutschandhure und Giftköchin«, zum Zerwürfnis kam, reichte sein Schwiegervater 1582 in Basel Klage wegen Verstoßens der Ehefrau ein. Das Gericht sprach Thurneyssers gesamtes Vermögen seiner Frau zu. Das Urteil wurde 1584 rechtskräftig.
     Im gleichen Jahr benutzte Thurneysser eine Reise des Kurfürsten nach Dresden, um Berlin endgültig zu verlassen. Über Prag reiste er nach Rom. Hier schuf er sich

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   26   Probleme/Projekte/Prozesse Leonhard Thurneysser  Voriges BlattArtikelanfang
als Leibarzt des Kardinals Sittich II. von Hohenems eine neue Existenz, mußte aber zum katholischen Glauben übertreten.
     Erneut gelang es ihm, ein Vermögen anzuhäufen.
     Warum er 1590 Rom verließ und 1594 nach einem Aufenthalt in Konstanz noch einmal nach Deutschland zurückkehrte, ist bis heute unklar. Vergessen und verarmt starb er im Juli 1596 im Alter von 65 Jahren im Hause eines Kölner Goldschmieds. Der Bettelorden begrub ihn im dortigen Predigerkloster.
     Was blieb von Thurneysser in Berlin erhalten, was erinnert an diesen außerordentlich vielseitigen Mann? Die Ruinen seiner Wirkungsstätte in der Klosterstraße wurden 1968 gesprengt. Nur sein Name existiert noch: auf einer Gedenktafel an der Klosterruine, auf einem Straßenschild im Wedding. Die von ihm ursprünglich für die Klosterkirche gestiftete Kreuzigungsgruppe befindet sich heute in der Moabiter Johanneskirche. Das aber dürften nur wenige Betrachter wissen: Thurneyssers Wappen und der auf die Erneuerung der Franziskanerkirche bezogene Spruch »Thurneysser hat mich neu gemacht, da ich alt war und ganz veracht« sind an der Kreuzigungsgruppe heute nicht mehr vorhanden.

Literatur:
Kurt Pomplun: Berliner Häuser. Geschichte und Geschichten, Berlin 1971, S. 7-10
Joachim Kranz: Berliner Chemiker. Lebensbilder und historische Experimente, Berlin 1960
Hans Ludwig's - Berliner Bilderbogen, Berlin, S. 25-28
»Tribüne«, 30. Mai 1983, Artikel von Inge Kiessig
Materialien des Märkischen Museums zur Ausstellung über Thurneysser und seine Zeit, Berlin 1993
J. C. W. Moehsen: Leben Leonhard Thurneyssers zum Thurn, In: Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in der Mark Brandenburg, Berlin/Leipzig 1783, S. 3-198
Paul H. Boerlin: Leonhard Thurneysser als Auftraggeber. Kunst im Dienste der Selbstdarstellung, Basel/Stuttgart 1976
Rolf Winau: Medizin in Berlin, Berlin 1987, S. 3-10
B. Harms: Leonhard Thurneysser in Berlin, In: Berliner Medizin 14, Sonderdruck 1963
Dieter Engelmann: Zum Leben und Werk von Leonhard Thurneysser, In: Jahrbuch des Märkischen Museums VIII/ 1982, S. 83-94
Julius Pagel: Geschichte der Medizin, Berlin 1898

Bildquelle: Paul Lindenberg, "Berlin in Wort und
Bild", 1895 ; Der Bär, 1884


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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/1996
www.berlinische-monatsschrift.de