63 Porträt | Charlotte Stieglitz |
Leipzig, in die besser gelegene
deutsche Handelsmetropole. Dort lernte das
gebildete 16jährige Mädchen auf einem
Gesellschaftsabend Heinrich Stieglitz kennen. Ein
hoffnungsvoller junger Dichter, fünf Jahre
älter als sie. Er, ebenfalls aus einer
Kaufmannsfamilie, einer jüdischen, den aber seine Eltern im 12. Lebensjahr taufen ließen
und der nun wie andere begabte jüdische Intellektuelle - Heinrich Heine, Ludwig
Börne, August Neander, Friedrich Julius Stahl -
der christlichen Konfession angehörte,
fühlte sich zu Großem bestimmt. Er wollte
zeigen, daß er trotz seiner Herkunft zu den
Besten Deutschlands gehörte, und er
beeindruckte Charlotte mit hochfliegenden Plänen - in ihren Augen offenbar ein »Adler, der auf
dem höchsten Gipfel des Parnasses herrscht«, ein »Titan«. 2)
Die beiden verliebten sich ineinander. Heiratspläne entstanden, viel zu schnell eigentlich, aber durchaus üblich in der damaligen Zeit, in der eine Frau unter die Haube gehörte und Charlotte schwärmerisch nach einer beglückenden Bindung suchte. Der Mann, einige Zeit später promoviert und Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium, nebenher an der Königlichen Bibliothek beschäftigt, holte sie nach Berlin. Sie suchten die Brennpunkte des Lebens. Dort war am ehesten Erfolg zu machen. Und mit ersten Erfolgen konnte Heinrich aufwarten. Schon während des Göttinger Philosohiestudiums wurden ihm von einflußreicher | |||||
Olaf Briese
» ... und fühle mich riesengroß« Charlotte Stieglitz
»Seit dem Tode des jungen Jerusalem und dem Morde Sand's ist in Deutschland
nichts Ergreifenderes geschehen als der
eigenhändige Tod der Gattin des Dichters
Heinrich Stieglitz ... Wenige nur ahnen es, daß
hier eine ungeheure Culturtragödie
aufgeführt ist.« 1) So wurde in einer
Zeitungsnachricht vom gewaltsamen Tod einer jungen Frau berichtet. Was veranlaßte diese
ungewöhnlichen Worte von einer Tragödie der Zeit, die ihren Tod bewirkt haben soll? Wer war sie, die da am 29. Dezember 1834 in ihrer Wohnung, Berlin, Schiffbauerdamm 13, zwischen Weihnachten und Silvester auf groteske und auf tragische Weise
freiwillig aus dem Leben schied?
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Seite Hoffnungen auf eine Professur
geweckt; 3) in Berlin galt er als
»bevorzugter Schüler Hegels«.
4) Er erlangte eine Anstellung, und er trat mit einem gelungenen lyrischen Einstand hervor. So konnte endlich 1828, nach sechs Jahren Verbindung, geheiratet werden. Heinrichs reiche Verwandte gewährten materielle Hilfe, die
von Charlotte heimlich mit ihnen abgesprochen war. Sie sorgten, nachdem der
ambitionierte Literat sein Lehramt aufgab und nur
noch zeitweise in der Königlichen Bibliothek arbeitete, sogar weitgehend für den Unterhalt des Ehepaares.
Charlotte will den Weg ihres Mannes ebnen. Nur für ihn möchte sie leben, so hat sie sich entschieden. Der Haushalt wird vorbildlich geführt, kleine Salons werden gegeben. Der Verleger Veit, die Dichter Mundt und Leßmann, wahrscheinlich auch das Ehepaar Hegel (»Lottchen« und »die Hegelin« sind per Du miteinander, Heinrich bedichtet den großen Gelehrten) und später noch der Romantiker Steffens mit Frau sind zugegen. Ein besonders inniges Verhältnis entsteht zu Hegel und seiner Familie, in dessen Wohnhaus am Kupfergraben Charlotte gelegentlich zur Unterhaltung singt, ein Kenner wie Zelter voll des Lobes ist. Dennoch steckt sie alle eigenen Ansprüche an das Leben zurück. Sie richtet sich ganz auf ihren Dichter, ihren Ehemann ein. Doch plötzlich, aufsehenerregend - ihr Freitod. Dazu ein Abschiedsbrief mit der Bitte, ihr Gatte möge | aus diesem Hingang Gewinn ziehen,
möge sich aus seinem bis jetzt beschränkten
Dasein »herausleben« und »in der Welt
herumtummeln«. 5) Was mag Charlotte Stieglitz
in diese Katastrophe geführt haben? Schon seit dem frühen Tod ihres Vaters war Charlotte ein problematisches Kind. Aufmerksamkeit und Zuwendung, die
sie durch diesen Tod verliert, sucht sie alsbald durch asketische Anwandlungen und
religiöse Schwärmereien zu gewinnen. Ihre
Sehnsucht scheint ganz auf Gott gerichtet. Nachdem sie aber Heinrich, ihren
begnadeten Dichter, kennenlernt, gibt es endlich
eine wirkliche männliche Bezugsperson. Gerade erst dem Kindesalter entwachsen, will
sie den damaligen Gepflogenheiten und ihrem innigen Wunsche gemäß als die »Seine« gelten - bereit, sich für ihren Genius
aufzuopfern. Endlich jemand, dem sie dienen kann. »Alles, was das liebende Mädchen Großes und Stolzes von Männern ahnte
... glaubte sie in ihrem Verlobten zu
treffen«, urteilt ein Zeitzeuge.
6) »Ich denke mich die Deine und fühle mich riesengroß«,
gesteht sie selbst in ihren frühen Versen. Und in einem Brief der 16jährigen: »Könnte ich nur einmal recht Großes, recht Schweres für ihn vollbringen, ohne daß er
ahndete, von wo es ausginge! Könnte ich
ungesehn von ihm ein trübes Geschick, ein großes Unheil von seinem geliebten Haupte auf das meinige lenken ...!«
7)
Nach der Hochzeit, mit dem gemeinsamen | |||||
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Leben in Berlin, soll der Mann ihre
Zuwendung noch stärker erfahren. Charlotte
legt sich aufs Praktische, will uneigennützig den Weg zu seinem Erfolg bahnen, wendet sich zum Beispiel ohne sein Wissen mit
einem Bittschreiben an den Kronprinzen, ihren Mann aus dem Bibliotheksdienst mit
einer großzügigen Abfindung zu entlassen.
8) Aber dennoch kommen Unstimmigkeiten auf. Ist es Geringschätzung, die er, in
seine hochfliegenden Pläne verstrickt, ihren Alltagsmühen mitunter entgegenbringt? Kommt er mit der sich selbst
zugedachten Rolle, trotz jüdischer Herkunft die
Höhen der Dichtung und Kultur zu erklimmen, nicht zurecht? Oder ist es sein
körperliches Unvermögen - Charlotte spricht nach
der Hochzeitsreise nur andeutungsweise von einer »Herzerstarrung vor der
Wirklichkeit« - welches das Liebesleben und den
Kinderwunsch unerfüllt läßt? 9)
Manchmal denkt Charlotte sich selbst als die Ursache für diese unbefriedigende Situation, und sie zermürbt sich mit Selbstanklagen: Ihr Bedürfnis nach Zuwendung behindere ihn, das Eheleben binde ihn an den Broterwerb, an die »Büreaugaleere der armseeligen socialen Nothwendigkeit«. 10) Sie verschließt sich, kehrt sich nach innen. Eine unentschiedene Affäre mit dem Freund Theodor Mundt, der, gleichfalls ein Dichter, sich letztlich aber nicht in die Ehe hineindrängen möchte, steigert die innere Zerrissenheit. Ein bedauernswertes Schicksal, ein Einzel | schicksal. Aber was nur veranlaßte die betroffene Nachwelt, über diesen Tod in einer Fülle von Schriften, die »eine halbe Bibliothek« füllen könnte
11), von einem »socialen Drama« 12) zu sprechen? Nicht ohne Grund brachten die Zeitgenossen ihren Freitod mit den
bedrückenden Zeitläufen nach 1830 in Zusammenhang.
Die Explosion des Bevölkerungswachstums, der Zug der Cholera durch Europa, die Mechanisierung der Arbeit durch Arbeitsmaschine, Dampfmaschine und Eisenbahn, die Versachlichung aller Beziehungen durch das Finanzwesen - das alles führt, trotz der Abneigung gegen das Überkommene, bei vielen zu Fortschrittsskepsis. Auch Charlotte hatte die Zeit nach 1830 als bedrückend erfahren. Sie wollte »eine Aufgabe im Leben lösen, und zwar keine geringe«, mußte sich aber eingestehen, über die Fragen nach Konstitution und Republik noch nicht im Reinen zu sein, und sie beklagte: »Eine geniale Skepsis zieht sich schwankend durch das Ganze.« 13) Das war es: Skepsis und Ausweglosigkeit kamen auf. Deshalb nahm die Zahl der Freitode sprunghaft zu. Selbsttötungen wie die von Charlotte Stieglitz galten als eine »jetzt herrschende Seelenkrankheit« 14), die gar ansteckend sei; man verzeichnete »Monomanie des Selbstmordes«, welche sich von Tag zu Tag zu steigern schien. 15) Zeitgenössische Erhebungen belegen, daß »der Selbstmord besonders häufig und immer häufiger | ||||
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in großen Städten« vorkam: 1836 in Paris ein Suizid auf 2 200 Einwohner, in Berlin auf 2 940 Einwohner - hier also sind es etwa 100 Opfer. 16)
Gerade im Zusammenhang mit diesen Tendenzen wurde der Tod Charlottes als eine Kulturtragödie betrachtet. Und dieser Tod verhalf ihr zur Berühmtheit gegenüber vielen Namenlosen. Das erschreckende Verhalten ihres Mannes, der nicht müde wurde, sich zu brüsten, daß ihr Tod nur um seinetwillen geschehen sei, trug zweifellos dazu bei. Aber vielleicht hatte er nicht ganz Unrecht mit dieser Meinung. Denn geradezu kunstvoll hatte Charlotte ihr Ende als einen theatralischen Abgang inszeniert. Entspannt und schwanengleich wollte sie entschlafen. Darüber hinaus bekundete ihr Abschiedsbrief unzweideutig, daß sie diesen Tod als einen »wunderbaren Segen« für ihren Dichter verstehe. 17) Sie gab zu verstehen, daß Heinrich ruhig poetisches Kapital daraus schlagen und sein dichterisches Genie entfalten könne. Es scheint, als wollte sie ihrer Rolle als Dienerin, der sie mit ihren aufkeimenden emanzipatorischen Ansprüchen in der Ehe nicht nachkommen konnte, wenigstens im Tod entsprechen. Quellen: | 2 Ebenda, S. 128
3 Vgl.: Art. Stieglitz, Heinrich, In: Staats- und Gesellschafts-Lexikon, hrsg. v. H. Wagener, Bd. 20, Berlin 1865, S. 1 4 F. Grillparzer, In: Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, hrsg. v. Friedhelm Nicolin, Berlin 1971, S. 316 5 Thomas Mundt: Charlotte Stieglitz. Ein Denkmal, Berlin 1835, S. 310 6 Karl Gutzkow: Charlotte Stieglitz, a. a. O., S. 128 7 Thomas Mundt: Charlotte Stieglitz, a. a. O., S. 8 f. 8 H. H. Houben: Jungdeutsche Lebenswirren. Ein Nachtrag, In: Zeitschrift für Bücherfreunde, 11. Jg., 1907/08, Bd. I, S. 241 (Thomas Mundt an Charlotte Stieglitz, 15. Mai 1834) 9 Thomas Mundt: Charlotte Stieglitz, a. a. O. S. 23 10 Thomas Mundt: Charlotte Stieglitz, a. a. O. S. 20 (Kommentar von Mundt) 11 F. Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution, 3 Bde., Stuttgart 1971 ff., Bd. 1, S. 232 12 H. Marggraff: Deutschland's jüngste Literatur und Culturepoche. Characteristiken, Leipzig 1839, S. 392 f. 13 Thomas Mundt: Charlotte Stieglitz, a. a. O. S. 29, 177 14 Phönix. Morgenzeitung für Deutschland, Nr. 103/1836, S. 410 15 Ebenda, Nr. 220/1835, S. 880 16 Zitat und Angaben für 1836 nach: Meyer's Conversations-Lexicon, Bd. I. 4, Hildburghausen, Amsterdam, Paris 1843, S. 125 f. 17 Thomas Mundt: Charlotte Stieglitz, a. a. O. S. 310 | |||||
© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/1996
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