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Horst Wagner
8. Juli 1911:
Säuglingskrankenhaus Weißensee eingeweiht

Die Weißenseer Liedertafel sang Besinnliches, und die Kapelle des zweiten Dragonerregimentes spielte flotte Marschmusik.
     Auf der Ehrentribüne am Eingang sah man neben zahlreichen Professoren und Medizinalräten Reichsgesundheitsamts-Präsident Bumm und den Kammerherrn von Beltheim in Vertretung der um Wohlfahrtseinrichtungen sehr bemühten Kaiserin Auguste Viktoria. So wurde am Vormittag des 8. Juli 1911, einem Sonnabend, »in feierlicher Weise«, wie die »Vossische Zeitung« am nächsten Morgen berichtete, »das von der Gemeinde Weißensee errichtete Säuglingskrankenhaus in der neuen Parkanlage an der Falkenberger Straße eingeweiht«. Eine Einrichtung, die, äußerlich wenig verändert, noch heute als Städtisches Säuglings- und Kinderkrankenhaus Weißensee unter der Adresse Hansastraße 180 fortbesteht.
     Bei der Einweihung vor 85 Jahren betonte der damalige Weißenseer Bürgermeister Dr. Woelk in seiner Festansprache, daß es

Das Weißenseer Säuglingskrankenhaus im Jahre 1911
sich um »das erste kommunale Säuglingskrankenhaus in ganz Preußen« handele. Freilich gab es auf dem Territorium des heutigen Berlin auch damals schon Säuglingsbetten, so zum Beispiel im Städtischen Kaiser und Kaiserin Friedrich-Krankenhaus oder im neuen Waisenhaus am Waldeckpark, aber eben kein eigenes Säuglingskrankenhaus. Als Initiator wurde der von Dr. Julius Ritter begründete Verein Säuglingskrankenhaus Berlin gewürdigt. Der habe »bescheidenerweise in Mietsräumen in der Invalidenstraße mit einer kleinen Säuglingsklinik begonnen« und später »in Weißensee eine Zweiganstalt betreiben« können. Das habe der Gemeinde die Anregung gegeben, für 375 000 Mark »im großen Stil ein Säuglingskrankenhaus zu errichten, wobei sie von dem Kreis Niederbarnim wirksam unterstützt wurde«.

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Dr. Ritter wurde dann auch gleich als Chef des neuen Krankenhauses vorgestellt, einer, wie die »Vossische« schrieb, »architektonisch anmutigen und in klinischer Beziehung vollkommenen Anstalt«, in der 60 kleine Patienten im Alter bis zu eineinhalb (in Ausnahmefällen bis zu zwei) Jahren betreut werden konnten. Die Anstalt gliederte sich in die chirurgische Abteilung mit einem »kleinen, aber vorzüglich eingerichteten Operationssaal« sowie die Abteilungen für Haut-, für Hals-Nase-Ohren- und für Augenkrankheiten. Der Pflegedienst wurde von Schwestern des Roten Kreuzes versehen.
     Besondere Erwähnung fand, daß das Krankenhaus inmitten eines großen Parkes gelegen ist, daß allen Krankenzimmern Veranden für Freiluftkuren vorgelagert und daß reichlich Baderäume vorhanden sind. Als Besonderheit wurde der abseits vom Krankenhaus gelegene Isolationspavillon genannt, in dem »die Abteilungen für Keuchhusten, Diphtherie usw. völlig voneinander geschieden sind und eigene Eingänge besitzen«. Eine weitere Novität: der krankenhauseigene »Musterkuhstall« mit seinen »getrennten Raufen und verdeckten Wassertrögen, die von den Kühen selbst aufgeklappt werden«, wie dem Reporter der »Tante Voss« auffiel. »Das Melken geschieht in einem besonderen Raum, dem ein >Toilettenzimmer< zur Reinigung der Kühe vorgelagert ist.« Neben dem Stall, in dem 38 Kühe Platz fanden, befindet sich
der Kühl- und der Verarbeitungsraum zur Zubereitung der Säuglingsmilch.
     Zum Krankenhaus gehörte auch eine Mütterabteilung mit acht Säuglingsbetten, ein Stillzimmer für die Ammen, Schwesternzimmer und ein Hörsaal. Gleichfalls hier untergebracht waren eine Säuglingsfürsorgestelle und das Büro der Ziehkinderanstalt. Alles in allem ein Haus, in dem, wie die »Vossische« abschließend bemerkte, »alle Zweige der Säuglingsfürsorge vereinigt sind«. Das Ganze war offenbar auch als eine Art Paradebeispiel für den III. Internationalen Kongreß für Säuglingsschutz gedacht, der im September 1911 in Berlin stattfand. Die Eröffnung des Krankenhauses war jedenfalls noch rechtzeitig geschehen, so daß es mit Foto und ausführlicher Beschreibung in das für die Teilnehmer des Kongresses bestimmte Buch »Säuglingsfürsorge in Groß-Berlin« aufgenommen werden konnte. Dem war übrigens noch zu entnehmen, daß das Säuglingskrankenhaus »mit seinen Nebenanlagen einen Wert von weit über einer halben Million Mark repräsentiert« und daß es außer dem Kuhstall auch einen Pferdestall für sechs stolze Rösser nebst »Knechtstube« und einer »Remise für drei Wagen« gab.

Bildquelle:
Säuglingsfürsorge in Groß-Berlin. Für die Besucher des III. Internationalen Kongresses für Säuglingsschutz, Berlin 1911
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/1996
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