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Hainer Weißpflug
4. Juli 1871:
Versuch zur Abwasserverrieselung

Der Versuch fand zu einer Zeit statt, als der Berliner Magistrat eine Lösung für das leidige Abwasserproblem suchte. Damals wurde das gesamte Abwasser und aller andere Unrat über die Rinnsteine vor den Häusern entsorgt, bzw. erfolgte dies über Abtrittsgruben auf den Höfen der Häuser, deren Inhalt sehr unregelmäßig nachts in offenen Wagen weggeschafft wurde. Die über die Rinnsteine entsorgten Abwässer gelangten über 25 Ausmündungen in die Spree, 17 in den Schleusenkanal, 13 in den Königsgraben, 28 in den Grünen Graben (Festungsgraben) und zwei in den Landwehrkanal. Neben dem unerträglichen pestilenzialischen Gestank, der über der Stadt schwebte, belastete dieses Übel vor allem die Gesundheit der Berliner; Choleraepidemien, Typhus und andere Seuchen grassierten. Die Spree, ihre Nebenflüsse und Kanäle wurden im Stadtgebiet zu Abwasserkanälen umfunktioniert.
     Ein Anfang der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts vom Geheimen Stadtbaurat Friedrich Wiebe im Auftrage der Preußischen Staatsregierung erarbeiteter Entwurf eines umfassenden Kanalisationssystems, der vorsah,

die in Kanälen gesammelten Abwässer bei Charlottenburg in die Spree zu leiten, wurde nach heftigen Auseinandersetzungen abgelehnt. Magistrat und Stadtverordnetenversammlung setzten 1867 eine »Deputation« unter Leitung von Rudolf Virchow ein, um eine bessere Lösung des Problems zu suchen. »Nachdem die Einfuhr des Schmutzwassers der Stadt in die Spree, mag es die menschlichen Exkremente enthalten oder nicht, als unzulässig erkannt ist, und nachdem eine so vollständige Desinfektion desselben, dass der Abfluss von den Sedimenten als ganz unschädlich angesehen werden könnte, sich als chemisch und finanziell unausführbar erwiesen hat, so bleibt nichts weiter übrig, als dieses Schmutzwasser durch Dampfkraft auf die Felder der weiteren Umgebung zu treiben ...«, heißt es bei Albu Isidor in »Die öffentliche Gesundheitspflege in Berlin« (1877).
     Im Auftrage der Deputation führte der Geheime Rat Prof. Alexander Müller Untersuchungen zur Qualität der Berliner Oberflächengewässer und des Grundwassers durch. Auch war er mit zahlreichen Versuchen zur Lösung des Abwasserproblems betraut und leitete die Untersuchungen zur Leistungsfähigkeit von Rieselfeldern. Dazu hatte die Deputation westlich vom Kreuzberg, unmittelbar am alten Uferrand des Spreetals, ein Versuchsrieselfeld angelegt. Seine »größte Höhe befand sich an der Kreuzbergstraße, da, wo die Anhaltinische


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Die Abbildung zeigt die Radialsysteme (I-IV für die Innenstadt, II A, III B, C, D, E, F, VG für die Außenbezirke), die Pumpstationen und Kanäle, über die das Abwasser auf die Rieselfelder geleitet wurde.

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»Daraus folgt aber, dass auf unserem alluvialen Sandboden überhaupt auf ein Abfließen gereinigten Wassers nicht wird gerechnet werden können, dass vielmehr alles Rieselwasser in den Boden eindringen wird, falls man es nicht im Übermass zuführt.« (Ebenda) Damit war eine wichtige Frage der Entsorgung der Berliner Abwässer geklärt. Es konnte auf Felder in der Umgebung der Stadt geleitet werden und dort versickern, wobei die Reinigung im Boden durch Zurückhaltung der Schadstoffe erfolgte.
     Zwei Jahre später entschied sich der Magistrat auf Empfehlung der von Virchow geleiteten Deputation für den von Baurat James Hobrecht erarbeiteten Entwässerungsplan für Berlin. Er sah vor, die Stadtfläche in zwölf Einzelgebiete (Radialsysteme) aufzuteilen, wobei die Entwässerung über ein ausgebautes unterirdisches Kanalisationssystem und über Pumpwerke erfolgte. Auf Flächen, die in ausreichender Entfernung vom Stadtgebiet lagen, wurden die Abwässer verrieselt und die darin enthaltenen Nährstoffe landwirtschaftlich genutzt. Versuche stellten die Effektivität dieses Systems unter Beweis, und 1907 wurde das zwölfte Radialsystem in Betrieb genommen. Damals besaß Berlin die modernste und leistungsfähigste Abwasserbehandlungsanlage auf dem europäischen Festland.

Bildquelle:
Berlin und seine Bauten. Berlin 1877, Teil 2, S. 107

Eisenbahn diese Straße schneidet, und hier ist auch die Ausflussöffnung der Zuleitungsrohre angelegt« (ebenda). Der Boden war überaus mager, bestand zu großen Teilen aus Dünensanden und besaß so eine hohe Wasseraufnahmefähigkeit. Berlin hatte zur Lösung seiner Abwasserprobleme Londoner Erfahrungen mit der Verrieselung studiert. Bei allen englischen Rieselfeldern wurde der Reinigungseffekt dadurch erreicht, daß das Abwasser über ein Gefälle der Felder abfloß und dabei die Ballaststoffe zurückgehalten wurden. Auf dem Berliner Versuchsfeld fand das Entgegengesetzte statt, denn das Wasser versickerte vollständig im Boden. »Vom 24. Mai bis 1. Dezember 1870 gelangten 1 312 096 Cubikfuss, also durchschnittlich täglich ... 16 198 Cubikfuss Kanalwasser auf das Feld. Die benutzte Fläche hatte noch nicht die Größe von 5 Morgen.« (Ebenda)
Am 4. Juli 1871 ließ Prof. Müller einen besonderen Versuch durchführen, der Aufschluß geben sollte über das Fließbzw. Sickerverhalten des Abwassers, wenn es über eine stark bewachsene Grasfläche geleitet wird. Man hatte eine entsprechende Fläche planiert, mit Lehm verdichtet und mit Gras eingesät. Nachdem sich das Gras üppig entwickelt hatte, wurde eine reichliche Menge Abwasser darüber geleitet. Der Versuch zeigte, daß auch bei starker Bewachsung der größte Teil des Abwassers vom alluvialen Sandboden, der in Berlin und Umgebung überall anzutreffen ist, absorbiert wird.

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/1996
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