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die mehr durch die Originalität der einzelnen Mitglieder zusammengeschweißt wurde als durch ein einheitliches architektonisches Programm.

In der Tradition von
Werkbund und Bauhaus

Schönheit und Zweckmäßigkeit sollten nicht länger Gegenpole sein, konstruktive Klarheit und harmonische Proportionen sollten im Einklang stehen. Für die Ring-Architekten war modernes Bauen ohne Typisierung und Rationalisierung undenkbar. Sie wollten die Industrialisierung des Wohnungsbaus im großen Maßstab durchsetzen. Das Neue Bauen beinhaltete aber nicht nur einen funktionalistischen Ansatz für die Architektur, sondern das Ineinandergreifen von baulichen und sozialen Fragen.
     Bereits 1923 hatten sich zehn der bedeutendsten Berliner Vertreter des Neuen Bauens zusammengefunden und den »Zehnerring« gegründet. Die Mitglieder - Walter Gropius, Hans Poelzig (1869-1936), Walter-Curt Behrendt (1884-1945), Ludwig Mies van der Rohe, Erich Mendelsohn (1887-1953), Ludwig Hilberseimer (1885-1967), Otto Bartning (1883-1959), Hugo Häring (1882-1958) und die Brüder Bruno (1880-1938) und Max (1884-1967) Taut - merkten sehr schnell, daß ihre Ziele nicht nur auf Berlin lokalisiert werden durften, daß vielmehr ein Bündnis mit

Dagmar Claus

»Der Ring« - eine Elite im Aufbruch

»Der Ring« - Sinnbild für einen festen, unlöslichen Zusammenschluß, für einen Körper, bei dem Anfang und Ende ineinanderfließen und bei dem ausgewogene ästhetische Form und Symbolgehalt eine Einheit bilden - war nicht zufällig als Name der neuen Architektenvereinigung gewählt worden, die am 4. Juli 1926 gegründet wurde. Zu den Gründern gehörten bekannte Leute wie Walter Gropius (1883-1969), Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969) und Hans Scharoun (1893-1972). Ihr Anliegen war es, ein neues ästhetisches und funktionales Baukonzept auf den Weg zu bringen und sich mit ihrer vom Expressionismus geprägten Architekturauffassung gegen althergebrachte, traditionelle Ansichten durchzusetzen. Sie sagten der konservativen Kulturpolitik der Stadt Berlin ihren Kampf an. Erfüllt von dem Sendungsbewußtsein, den Baustil des neuen Jahrhunderts zu prägen, das Antlitz Berlins zu verändern, die Vorstellungen ihrer Zeitgenossen von dem, was in der Architektur als schön und modern galt, zu revolutionieren, war »Der Ring« eine Vereinigung von Individualisten,


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Gleichgesinnten aus anderen Städten notwendig war, um die neuen, kühnen Vorstellungen tatsächlich in die Baupraxis einzuführen. So entstand drei Jahre später aus dem »Zehnerring« »Der Ring«, zu dem 27 Mitglieder gehörten. Neu hinzugekommen waren u. a. Heinrich Tessenow (1876-1950), Hans Scharoun, Hans (1890-1954) und Wassili (1889-1972) Luckhardt, Adolf Meyer (1881-1929), Bernhard Pankok (1872-1943), Otto Haesler (1880-1962) und Ernst May (1886-1970).
     Der Verein sollte die Arbeit der Mitglieder fördern, die Prinzipien und Ergebnisse der modernen Architektur publik machen. In Ausstellungen wurden Ideen und Baumodelle einem breiten Publikum vorgestellt, in der Fachpresse erschienen regelmäßig Bildberichte, Filme entstanden, die über die Fortschritte in der Bautechnik informierten. Die Mitglieder des »Rings« waren gleichzeitig führend im Deutschen Werkbund und in dessen Zeitschrift »Die Form« tätig. Einige von ihnen hatten lehrende und leitende Positionen im Bauhaus Weimar, Dessau und Berlin inne. Beim bereits 1907 gegründeten Werkbund ging es ja nicht nur um Fragen der Architektur, sondern gleichberechtigt um das Kunsthandwerk und die Industrieformgebung. Erklärtes Ziel des Werkbundes war es, Künstler und Industrieunternehmen zusammenzuschließen, um die handwerkliche und industrielle Produktion ästhetisch ansprechender zu gestalten
und die deutschen Produkte auf dem Weltmarkt attraktiver zu machen. Das 1919 unter der Leitung von Walter Gropius entstandene Bauhaus fühlte sich diesem konzeptionellen Ansatz verpflichtet, wenn auch die konkreten Aufgaben mehr auf dem Gebiet der künstlerischen und praktisch-handwerklichen Ausbildung lagen. Das Bauhaus war zunächst »nur« eine Kunstschule, die die Trennung von freien und angewandten Künsten aufheben wollte.
     »Der Ring« war geistig eng mit den durch Werkbund und Bauhaus entwickelten Ideen verbunden. Er war als Architektenvereinigung jedoch auf das Bauen konzentriert.
     Vertreter des »Rings« wie Max Taut hatten schon zu Beginn der 20er Jahre im Stil der »Neuen Sachlichkeit« gebaut und eine der ersten Stahlbetonrahmenkonstruktionen in Berlin errichtet (Gewerkschaftshaus in der Wallstraße). Die Neue Sachlichkeit war um 1925 in Auseinandersetzung mit dem Historismus entstanden und strebte in Architektur und Kunstgewerbe eine vom Zweck bestimmte Gestaltung an.
     Die »Ring«-Architekten wollten darüber hinausgehen. Ihnen ging es nicht mehr nur um den Einklang von Bautechnik und Wirtschaftlichkeit. Ihre funktionalistische Architektur bezog gleichberechtigt die sozialen, psychologischen und ästhetischen Bedürfnisse der Bewohner ein. Großstadtsiedlungen wie die Siemensstadt, von 1929-1932 durch Architekten des »Ring« erbaut

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(Walter Gropius, Hugo Häring, Fred Forbát [1897-1972], Otto Bartning, Gesamtplanung Hans Scharoun), zeigen dieses neue soziale Anliegen, das Bemühen, die Beziehungen zwischen Gemeinschaft und Individuum neu zu ordnen. Die Siedlung sollte nicht nur als Wohnraum funktionieren, sondern als Lebensraum, der individuellen Bedürfnissen durch zentrale Einrichtungen mehr Raum, mehr Zeit bietet. Gefördert durch den damaligen Stadtbaurat Martin Wagner (1885-1957, siehe BM 11/95), entstand ein Komplex von 1 800 Wohnungen mit Schule, Läden, einem zentralen Heizwerk und einer Wäscherei. Die Siemensstadt, die zu den besten Leistungen des Neuen Bauens zählt, zeigt, daß Massenwohnungsbau und einprägsame architektonische Raumbilder keine Gegensätze sind.
     Neben der Siemensstadt war die Waldsiedlung »Onkel Toms Hütte« eines der bedeutendsten Projekte des Neuen Bauens in Berlin. Die Siedlung wurde von 1926-1928 von den Architekten Bruno Taut, Hugo Häring und Otto Rudolf Salvisberg (1882-1957) angelegt und beispielgebend in das natürliche und urbane Umfeld eingebunden.
     Neben den Großstadtsiedlungen entstanden in den 20er Jahren die ersten Hochhausentwürfe der »Ring«-Architekten für die Berliner Innenstadt. Auch in der City sollte durch eine aufgelockerte und moderne Bebauung Arbeit und Erholung möglich sein. Berlin sollte als Weltstadt entstehen
und, ohne ihren nationalen Charakter zu verleugnen, ein internationales Flair erhalten. Die Amtszeit des Stadtbaurats Martin Wagner (1926-1933), der diese Projekte unterstützte, kann als Blütezeit des Neue Bauens in Berlin bezeichnet werden.
     Die 1922 vorgelegten Pläne Hugo Härings für den Königsplatz, der Entwurf für ein Büro- und Geschäftshaus am Kemperplatz, die Umgestaltungskonzeptionen von 1927 für den Platz der Republik (Hugo Häring, Hans Poelzig), die Skizzen einer Hochhausstadt in der Friedrichstadt (Ludwig Hilberseimer, 1929/30) und der Bebauungsvorschlag für den Leipziger Platz (Erich Mendelsohn, 1931) galten damals als avantgardistisch und brachten der Stadt internationale Beachtung ein. Nur für wenige dieser städtebaulichen Projekte, die radikale Veränderungen vorsahen, waren allerdings tatsächlich auch die finanziellen Mittel vorhanden.

Mitglieder des »Rings«
gingen ins Ausland

Zwar vertraten alle Mitglieder der Architektenvereinigung des »Rings« die Linie des Neuen Bauens, aber sie setzten innerhalb dieser durch Expressionismus, Bauhaus und Werkbund geprägten Auffassungen unterschiedliche Schwerpunkte. Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, Vertreter des funktionellen Rationalismus, versuch


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ten, in ihrer Architekturauffassung Kunst und Technik möglichst eng zu verbinden, und schätzten die industriellen Möglichkeiten einer rationalistisch geprägten Architektur sehr hoch ein. Andere, zu denen vor dem Zweiten Weltkrieg auch Hans Scharoun gehörte, gingen vom sogenannten Organischen Bauen aus und wollten stärker regionale, klimatische und individuelle Gegebenheiten berücksichtigt wissen. Wichtigster Vertreter dieser Richtung war Hugo Häring, bereits Mitglied im »Zehnerring«, später Sekretär im »Ring« und dessen Vertreter bei der internationalen Architektenvereinigung CIAM. Für ihn war das Haus Organ seiner Bewohner, und deshalb mußte die äußere Form sich der Funktion - der »Wesenheit des Objekts« - anpassen. Härings Vorstellungen von einem organischen Funktionalismus führten zu der Frage, ob Typisierung und Industrialisierung im Massenwohnungsbau dem einzelnen Individuum wirklich nützen.
     Die Differenzen zwischen Häring auf der einen und den an ihren rationalistischen und internationalen Orientierungen festhaltenden Vertretern auf der anderen Seite unterhöhlten schon Anfang der 30er Jahre die Vereinigung und führten 1933 zu ihrer endgültigen Auflösung. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, die die Auffassungen des »Rings« mit dem Bolschewismus in Zusammenhang brachten, beendete dann für zwei Jahrzehnte den frucht
baren, zukunftsweisenden Ansatz des Neuen Bauens in Berlin. Viele ehemalige Mitglieder des »Rings«, die linke politische Strömungen vertraten, gingen ins Ausland. Gropius und Mies van der Rohe lebten in den USA und verwirklichten dort zum Teil ihre bereits in Berlin konzipierten Ideen.
     Nach dem Krieg haben vor allem Gropius mit der Buckow-Rudow-Siedlung (Gropiusstadt), Mies van der Rohe mit der Neuen Nationalgalerie und Scharoun mit der Philharmonie und der Staatsbibliothek sich und den Ideen der Architektenvereinigung »Der Ring« in Berlin ein bleibendes Denkmal gesetzt.

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/1996
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