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Der Aufklärung den Weg ebnend, war er selbst einer der strahlendsten Aufklärer, der in der Bildung des Geistes die Voraussetzung dafür erblickte, daß der Mensch sich zu sich selbst freisetzt und seine menschlichen Möglichkeiten ungehindert entfalten kann.
     Sich mit Leibniz zu befassen, ist stets schon die Versuchung zum Schwelgen in Superlativen gewesen. Dabei bilden die Umstände seines äußeren Lebens wahrlich wenig Anlaß, von einem souveränen, von der Gunst des Schicksals geebneten Lebensweg zu sprechen. Wie so manch Großem vor ihm blieb auch Leibniz ein Ende in physischer und psychischer Not nicht erspart. Notzeit herrschte aber bereits im Jahr seiner Geburt und danach. In Leipzig, wo er als Sohn des Moralprofessors Friedrich Leibniz und seiner Ehefrau Catherina, geb. Schmuck, am 1. Juli 1646 geboren wurde, herrschte noch der Kriegszustand; die Wirren des Dreißigjährigen Krieges hatten Wirtschaft und Kultur zerrüttet. Das schwedische Besatzungsheer verließ die zerstörte Stadt erst im Jahre 1650. Bereits zwei Jahre darauf verstarb der Vater; ein herber Schlag für den hochbegabten und bildungshungrigen Gottfried. In der Bibliothek des Vaters stöberte er bebilderte Ausgaben des Livius und Herodot auf, begann lateinische und griechische Texte zu buchstabieren und hatte sich mit bald zwölf Jahren - völlig unabhängig von schulischer Unterweisung - das Lateinische völlig und das Griechische in
Reinhard Mocek
G. W. Leibniz - eine ganze Akademie in einer Person

Zum 350. Geburtstag des Gründers der Sozietät der Wissenschaften zu Berlin

Als Genius der Menschheit zu gelten, unwidersprochen in allen Kulturkreisen unseres Erdballs, wohin sein Ruf gedrungen war, ist wahrlich eine Ehrenbezeugung der besonderen Güte. Nur wenigen wurde sie zuteil.
     Zu diesen Auserkorenen zählt Gottfried Wilhelm Leibniz, einer der ganz großen Polyhistoren seiner Zeit, Erneuerer der Wissenschaft im Übergange des späten Mittelalters in die erkenntnisgeöffnete Neuzeit, Jurist und Staatstheoretiker, Philologe, Theologe und Mathematiker, Anreger der geologischen Wissenschaft, Erfinder und Konstrukteur einer leistungsfähigen Rechenmaschine. Und nicht zuletzt gilt Leibniz als Schöpfer eines der umfassendsten philosophischen Systeme, das durch die Kraft seiner ganzheitlichen Sicht auf diese Welt in der Geschichte des philosophischen Denkens vor Kant insbesondere in den deutschsprachigen Ländern zu einer beispiellosen geistbeherrschenden Wirksamkeit gelangte.


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Umrissen angeeignet. Mit dreizehn Jahren machte er seine Lehrer Staunen durch originelle Überlegungen zur Prädikamentenlehre, einer speziellen Abteilung der Logik, und begab sich auf die Suche nach den Urelementen aller Sprachen, aus denen durch kombinatorische Gesetze die aktuelle Sprachvielfalt erklärbar werde. Mit Vierzehn wurde er Student an der Leipziger Universität und geriet mitten in den denkerischen Umbruch der mit Galilei eingeleiteten wissenschaftlichen Revolution der zweiten Jahrhunderthälfte. Descartes, Hobbes, Gassendi, dann der große Newton schrieben ihre Zeit mit mathematischen Lettern. Demgegenüber vermittelten dem Studenten der Jurisprudenz und der Philologie in Leipzig ein Jakob Thomasius, der Vater des bedeutenden Christian, und A. Scherzer die geistigen Anstandsregeln der überkommenen, auf scholastischen Traditionen basierenden Wissenschaft. In diesem Zwist zwischen der alten, religiös geprägten Weltsicht und dem Erklärungsanspruch der neuen Wissenschaft entschied sich der im protestantischen Geist gläubig erzogene Gottfried Wilhelm - motiviert auch durch den Jenenser Mathematiker Erhard Weigel - für die neue Wissenschaft. Der Bruch mit der Autorität der Kirche aber war für Leibniz kein Bruch mit dem tiefverwurzelten Glauben an die mathematisch eingerichtete göttliche Weltordnung - Elemente seiner erst um das Jahr 1686 Gestalt annehmenden Philoso
Gottfried Wilhelm Leibniz
phie waren hier bereits vorgeformt.
     Als die Leipziger Universität sein Ansinnen, als Zwanzigjähriger zu promovieren, mit dem Hinweis, daß erst ältere Kandidaten vorzuziehen wären, ablehnte, verläßt Leibniz seine Heimatstadt; ein Entschluß, der durch den Tod seiner Mutter 1664 erleichtert wurde. Nie wieder betrat sein Fuß die Stadt seiner Jugend. Die Universität im fränkischen Altdorf promovierte ihn und lockte

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mit dem Anerbieten einer Professur. Doch Leibniz lehnt ab; zu früh schien ihm die Rast auf sicherem Posten. Er zieht weiter, eine neue Umgebung suchend, mit neuen Menschen und neuen Problemen. Er findet sie in Nürnberg, wo der ehemalige kurmainzische Minister Johann Christian von Boineburg ihn in seine diplomatischen Dienste stellt, auf welchem Wege der tathungrige Jurist bald an den Mainzer Hof gelangt, als Protestant in einem strenggläubigen katholischen Milieu, um an der Neufassung des Gesetzbuches mitzuwirken. 1671 wird er dort zum »Kanzleirevisionsrat« ernannt - welch Einfallsreichtum schon damals in der Erfindung von Beamtentitulationen, aber ganz unbeamtisch widmet er sich philosophischen Problemen, ficht für klaren Stil und deutsche Sprache auch in der Metaphysik, und entwickelt in einer den Wissenschaftsakademien in London und Paris gewidmeten Schrift eine Hypothese der Entstehung der Körperwelt aus dem ewig sich drehenden Weltäther. Damit war der Sprung in die Wissenschaftshauptstadt der Welt, Paris eben, programmiert; aber es bedurfte eines politischen Auftrags, um auch dahin zu gelangen.
     Im Auftrag Boineburgs 1672 losgeschickt, ausgerüstet mit mehreren politischen Denkschriften aus eigener Feder, sollte Leibniz Ludwig dem XIV. den Plan der Eroberung Ägyptens schmackhaft machen, um die Aufmerksamkeit des starken Frankreich vom noch immer geschwächten Deutschland ab
zulenken. So ergebnislos diese Mission auch verläuft, so schafft sie für Leibniz die Möglichkeit, den Aufenthalt in Paris ständig zu verlängern und, da von Boineburg und der Kurfürst kurz nacheinander starben, schließlich auf vier Jahre auszudehnen, nahezu frei von beruflichen Pflichten. Ganz seinen wissenschaftlichen Studien hingegeben, dringt er in die höhere Mathematik ein, angeleitet von dem bedeutenden Antoine Arnauld, um andererseits im praktischen Teil im Lande des berühmten Blaise Pascal, der die erste zuverlässig funktionierende Rechenmaschine erfunden hatte, nun sein Wundergerät zu bauen, das nicht nur, wie das Pascalsche, addieren und subtrahieren kann, sondern auch multiplizieren, dividieren und gar Wurzel ziehen.
     Gegen Ende seiner Pariser Tage bricht aus jahrelangem Nachdenken über das Phänomen der »unendlich kleinen Größe« die Idee der Integralrechnung hervor; am denkwürdigen 29. Oktober 1675 taucht in seinen Schriften erstmals das Integralzeichen auf, bald schon das Formelzeichen dx. Doch gestalten sich die ferneren Umstände dieser seiner wohl genialsten Entdeckung für ihn äußerst negativ. Isaac Newton hatte vorher schon seine Analysen zur Fluxationsrechnung publiziert, ein Infinitesimal unter anderem Namen, und damit bereits erfolgreich gerechnet. Der in seinen unendlich vielen Diskussionen und Polemiken - allein sein Briefnachlaß umfaßte noch vor den jüngsten

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Neuentdeckungen von Leibnizbriefen 15 300 Briefe mit vorwiegend wissenschaftlich-polemischem Inhalt - stets wohl höflich, aber auch überaus selbstgewiß auftretende Leibniz hatte mit manchen unvorsichtigen Äußerungen an der Zuspitzung des Streits um die Priorität seinen nicht geringen Anteil. Als die Königliche Sozietät der Wissenschaften in London - der Schiedsrichter am Genius loci, gewiß kein für Leibniz glücklicher Umstand - am 24. April 1712 ihre Entscheidung gegen Leibniz und für Newton verkündete, war das vier Jahre vor Leibnizens Tod in einer Zeit, da er nachgerade ohne Freunde dastand, so etwas wie ein wissenschaftliches Todesurteil. Die heutige Forschung ist sich einig, daß Leibniz' Verdienst, völlig unabhängig auf anderem Wege und mit anderem Formelwerk als Newton diese Rechnungsart erfunden zu haben, würdig und gleichberechtigt neben der gleichwohl ein wenig früheren Leistung des Engländers einzuordnen ist.
     Doch zurück zu den wissenschaftlichen Wanderjahren des Mathematicus und Technicus Leibniz, der sich zunehmend physikalischen und philosophischen Fragen zuwandte. Im steten Disput mit dem Werk des von ihm gleichwohl verehrten, aber auch theoretisch bekämpften Descartes formulierte Leibniz den Kraftbegriff als physikalische Konstante und gelangte - das cartesische Gesetz von der Erhaltung der Bewegung vehement bestreitend - zur Aufstel
lung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft im Universum; einer der fundamentalen Sätze der allgemeinen Mechanik.
     Doch Naturtheorie und Philosophie nähren wohl den Universitätsprofessor, nicht aber den freien und ungezwungenen wissenschaftlichen Weltenbummler. So folgt er dem Ruf an das Herrscherhaus der Welfen, wo der feinsinnige Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg seiner Bildung und Erfahrung bedarf, wird Hof- und Kanzleirat wie herzoglicher Bibliothekar, verpflichtet, die Geschichte des welfischen Geschlechts zu schreiben, wie er als erfahrener Diplomat die vielfältigen internationalen Bindungen des Welfenhauses - immerhin wird bald einer der Söhne Johann Friedrichs den britischen Thron besteigen - zu beraten hat. Die Rückreise aus Paris wird zur europäischen Kultur-Rundfahrt, ihren Höhepunkt findend im Zusammentreffen mit dem geistigen Vater des 17. Jahrhunderts, dem so unermeßlich folgenreichen Baruch Spinoza in Den Haag, nur kurze Zeit vor dessen Tod.
     Die hannoversche Zeit Leibnizens umfaßt vierzig Jahre rastlosen Schaffens als Diplomat und Politiker, Philosoph und Staatstheoretiker, aber auch Geologe und Bergbautechniker. Letzteres als Ergebnis eines ursprünglich reizvollen Auftrags für den stets den praktischen Nutzeffekt von Theorie (so sein Leitspruch »theoria cum praxi«) würdigenden Leibniz, in den Silbergruben

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Leibniz im Gespräch mit Sophie Charlotte. Kupferstich von Adolph Menzel.

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in Clausthal und Zellerfeld die eingestürzten Wassermassen abzupumpen, was aber letztlich mißlingt; nicht ohne daß ein theoretischer Ertrag rausgesprungen wäre; eine Schrift über die Urgeschichte der Erde, die »Protagäa«.
     In der Beziehung des hannoverschen Hauses zu Brandenburg entstand eine neue personalpolitische Konstellation, die für Leibniz eine immense Bedeutung erlangen sollte. Nach dem Tod des Großen Kurfürsten herrschte Friedrich III., der sich selbst 1701 zum König Friedrich I. krönte. Friedrich war vermählt mit Sophie Charlotte, der Tochter von Ernst August, dem Nachfolger Johann Friedrichs, und Sophie, die Leibniz in tiefer Freundschaft zugetan war. Diese Sympathie übertrug sich auch auf die Tochter, und wenn persönliche Beziehungen Geschichte machen, dann hier, denn Sophie Charlotte erlangte bald einen solchen Einfluß auf die Regierungsschwerpunkte ihres Gatten, daß die Intentionen Leibnizens über kurz oder lang ihren Niederschlag finden mußten. Über Sophie Charlotte gelang es Leibniz, seine Idee einer Sozietät der Wissenschaften in die Tat umzusetzen. Die Gründung dieser Sozietät im Sommer des Jahres 1700 bildete den Anbeginn einer im großen und ganzen glanzvollen Geschichte akademischer Wissenschaft in deutschen Landen. Leibniz entwarf die Satzung, bestimmte die wichtigsten Arbeitsrichtungen - deutsche Sprache und Geschichte, die nützlichen Künste und
Wissenschaften, und die Vorbereitung von Missionen, um den evangelischen Glauben in der heidnischen Welt zu verbreiten. Zeitgeist und der Anspruch nutzenorientierten Wissens vereinigen sich, gepaart mit geschäftlichen Konsequenzen, indem an die pekuniäre Verwertung gedacht und entsprechende Monopole gesichert werden.
     Das alles ändert sich schlagartig, als die Leibniz treu verbundene Sophie Charlotte am 1. Februar 1705 stirbt. Vom hannoverschen Hause sowieso schon voller Unzufriedenheit kritisiert, weil die Welfengeschichte nicht vorangeht, wird er nun von der brandenburgischen Seite beargwöhnt, gar als Spion verdächtigt. Die Sozietät verkümmert, geht unter Friedrich Wilhelm I. dem Abgrund entgegen. Erst Friedrich der Große warf den Rettungsanker, und das ließ noch über vierzig Jahre auf sich warten.
     Ganz überraschend schien eine neue Möglichkeit auf, einen Akademieplan umzusetzen - die Begegnung mit Zar Peter in Torgau 1711, als ein Sohn des Zaren sich mit einer welfischen Prinzessin vermählte, läßt Hoffnungen reifen. In Teplitz, Karlsbad und Dresden erneuern sich diese Begegnungen, und der Zar nimmt die Anregungen von Leibniz begierig auf. Auch aus Wien kommt ein Echo, aber die Akademiegründung scheitert. Immerhin brachte die Wiener Reise die Freundschaft mit Prinz Eugen von Savoyen, für den Leibniz extra einen Abriß seines Systems der Philosophie verfaßt.

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Dann folgen Vereinsamung, fast das Vergessen. Ein mißtrauischer Fürst, der spätere König Georg I. von England, läßt Leibniz seine Abhängigkeit spüren. Leibniz stirbt am 14. November 1716, von der Gicht geplagt, in einer ihm fremd gegenüberstehenden Umwelt. Sein Sarg steht vier Wochen irgendwo in einer Kirchenkrypta, ehe er, heute würde man sagen unter Ausschluß der Öffentlichkeit, am 14. Dezember in Hannover beigesetzt wird. Die Prediger »schalten öffentlich auf ihn«, da er zu wenig dem Kirchgang frönte. Die Erben waren enttäuscht. Was er hinterließ, war allerdings nicht in Taler und Gulden zu fassen. Die Menschheit hatte einen ihrer würdigsten und reichsten Geister verloren. Nur die Pariser Akademie würdigte ihn; Bernard de Fontenelles Lobrede am 13. November 1717 dokumentierte das wissenschaftliche Gewissen der Welt im Gedenken an einen ihrer Größten.
     Über Leibnizens Philosophie zu berichten kann nur andeutungsweise geschehen. Sein System der Metaphysik ist in der Geschichte des 17. Jahrhunderts verwurzelt; in gewisser Weise ist es eine Synthese der großen Ansprüche, aber auch eine Kritik der tiefgreifenden Mängel der philosophischen Entwürfe seiner Zeit. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat jede Epoche ihren tragenden philosophischen Begriff und ihr spezifisches Erkenntnisinteresse; das siebzehnte Jahrhundert kreiste um den Substanzbegriff. Und das nicht von ungefähr. Die Wissen
schaften von der Natur handelten von den Dingen und ihren Beziehungen, nicht mehr von Ideen oder Potenzen. Die Substanz schien dem Geist das Wasser abzugraben. Das war der Tenor des aufkommenden Materialismus, der sich in den physikalischen Wissenschaften, aber auch mit Blick auf die sozialen Verhältnisse etwa bei Thomas Hobbes zeigte. Demgegenüber hat Descartes einen Kompromiß gesucht, indem er beiden Prinzipien ihre Berechtigung zusprach. Danach existieren sowohl Körper als auch Geist; und ihre Beziehung zueinander bildet das Wesen des Seins. Anders hat der schon genannte Spinoza die Substanz zu packen gesucht, indem er ihr sowohl die materiale Natur als auch die göttliche Schöpfungskraft zusprach. Gott war gleich Natur; und das Tote gab es ebensowenig wie den reinen Geist. Leibniz knüpfte an Spinoza an, kritisierte jedoch die weitgehend auf das Sein der Dingwelt bezogene Dimension der spinozistischen Substanz. Für ihn war die menschliche Seele in ihr viel zu wenig berücksichtigt. So wird er zum Begründer des Begriffs der seelischen Substanz. Und um diesen Begriff gegen die schier übermächtige Konkurrenz der die stoffliche Seite der Dinge in den Mittelpunkt stellenden Philosophien zu verteidigen, macht er zwei Zusatzannahmen, die jede für sich genommen ungeheuren Sprengstoff in die Philosophie trugen. Dies ist zum einen die auf seine Überlegungen zum Infinitesimal zurückge

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hende logische Konsequenz, daß, wenn man auf immer stetigere Untergliederungen von Zahlen ausgeht, man stets auch neue Zwischenglieder findet. Die unendlich kleine Größe, das unteilbare Atom also, sei aus rein mathematischen Erwägungen eine widersinnige Annahme. Folglich könne man auf die Ausgedehntheit der Körper als konstantes Prinzip philosophisch nicht bauen! Die zweite Annahme ist logischer Natur. Der Satz, wonach jedes von einem Subjekt ausgesagte Prädikat im Subjekt bereits enthalten sein muß, führt ihn zu der Feststellung, daß die seelische Substanz das Prädikat eines seelischen Subjektes sein muß, das sich nicht anders als in der schöpferischen Ausgangskraft eines göttlichen Prinzips fassen läßt. Die seelische Substanz ist nichts anderes als das prädikative In-Erscheinung-Treten der übergeordneten Seele, also Gottes. Für die Vielheit der erscheinenden Seelen wählt Leibniz nun den Begriff der Monade. Obwohl die Hierarchie der Monaden - zu denen auch die menschliche Seele und Körperlichkeit gehört - die Vielgestalt der Welt darstellt, sind sie doch, dem logischen Satz zufolge, Geschöpfe und Erzeugnisse der göttlichen Monade. Und daraus folgert Leibniz, daß die göttliche Harmonie sich unbedingt auch in einer Harmonie der untergeordneten Monaden zeigen muß - die vielgepriesene, aber auch vielgescholtene These der prästabilierten Harmonie der Welt hat hier ihren Ursprung. Und von da ist der philosophische Weg nicht weit bis zu der Annahme, daß wir in der besten der möglichen Welten leben - eine logische Konsequenz aus der Leibnizschen Prämisse auch dies, aber zugleich ein Satz, der durch die Unbeweisbarkeit seines Gegenteils die nachfolgenden Philosophengenerationen auf die Palme gebracht hat.
     Kant war es schließlich, der in dieser Philosophie den überwuchernden Anspruch des metaphysischen Systemdenkens par exzellence erblickte, dem nicht die partielle, sondern die systematische, das Ganze in Frage stellende Kritik zu gelten hat. So ist Leibnizens Philosophie seit Kant als System in der Philosophie erledigt - geblieben ist die Anregungskraft eines Denkens, das die Individualität, aber auch Weltverantwortlichkeit jedes Individuums betont. Mit Leibniz sind wir nicht aus dieser Welt entlassen, sondern haben in ihr unsere auf ein humanes, will heißen göttliches Ganzes bezogene Pflicht zu erfüllen, denn diese Welt ist wohl harmonisch, aber durchaus nicht vollkommen, also durch die Tat vollkommen zu machen! Da dieses göttliche Prinzip so gar nicht auf den religiösen Gott-Vater geprägt ist, sondern als höchstes Prinzip in der Welt der Monaden gilt, richtet es sich auf die Selbstvergewisserung von Handeln - und keineswegs auf die Delegierung von Verantwortung auf einen imaginären Geist. So mag es schon stimmen, daß Leibniz nicht aus purer Trägheit, sondern aus philosophischen

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Erwägungen heraus den Kirchgang vernachlässigt hat.

Denkanstöße:

Ich finde, daß die meisten, welche sich zu den Lehren der Mathematik hingezogen fühlen, eine Abneigung gegen die Metaphysik hegen, weil sie bei jenen Licht, bei dieser dagegen Dunkelheit wahrnehmen. Der Hauptgrund für diese Erscheinung ist meines Erachtens der, daß die allgemeinen Begriffe, die von allen für am meisten bekannt angesehen werden, infolge der Oberflächlichkeit und Unbeständigkeit der Menschen im Denken zweideutig und unklar gemacht worden und daß die davon gegebenen Definitionen nicht einmal Nominaldefinitionen sind und daher nichts erklären. Dies Übel hat sich unzweifelhaft auch in die übrigen Wissenschaften eingeschlichen, die jener ersten und aufbauenden untergeordnet sind. Daher haben wir statt klarer Definitionen kleinliche Unterscheidungen, statt wahrhaft umfassender Axiome topische Regeln, die häufiger durch Gegengründe entkräftet als durch Beispiele bestätigt werden. Und dennoch wenden die Menschen die metaphysischen Ausdrücke infolge einer gewissen Notwendigkeit allenthalben an und schmeicheln sich mit dem Glauben, das zu verstehen, was sie auszusprechen gelernt haben. In Wahrheit aber sind offenbar die wahren und ergiebigen Begriffe nicht bloß der

Substanz, sondern auch der Ursache, der Tätigkeit, der Beziehung, der Ähnlichkeit und vieler anderer allgemeiner Ausdrücke gewöhnlich unbekannt. Daher darf es denn niemand wundernehmen, daß jene Hauptwissenschaft, die unter dem Namen der ersten Philosophie auftritt und von Aristoteles die ersehnte oder gesuchte genannt ward, noch heute zu den gesuchten gehört.
     Von welcher Wichtigkeit aber dies alles ist, erhellt aus dem Begriff der Substanz, wie ich ihn aufstelle, der so ergiebig ist, daß sich daraus die obersten Wahrheiten ergeben, auch in betreff Gottes und der Seelen, wie der Natur der Körper, Wahrheiten, die zum Teil bekannt, doch wenig bewiesen, zum Teil aber bis jetzt unbekannt sind, wennschon sie für die übrigen Wissenschaften von dem größten Nutzen sein werden. Um eine Probe davon zu geben, will ich vorderhand nur sagen, daß der Begriff der Kraft oder der virtus (welche die Deutschen Kraft, die Franzosen la force nennen), zu dessen Erklärung ich die besondere Wissenschaft der Dynamik bestimmt habe, sehr viel zur Erkenntnis des wahren Begriffs der Substanz beiträgt.
     Aus: Über die Vervollkommnung der ersten Philosophie und über den Begriff der Substanz

Bildquelle: Archiv Autor; Der Bär, 1884
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/1996
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