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Traditionen Preußens verbunden. Über die Chausseestraße führt unser Weg in die Müllerstraße (Bezirk Wedding), die von der weltbekannten Schering AG wie von ansprechend sanierten älteren und gelungenen neuen Wohnanlagen gekennzeichnet ist. Vorbei an einer der ältesten Schinkel-Kirchen, gelangen wir nach etwa zwei Stunden zum Rathaus Wedding.
     Unsere Wanderung beginnt an der Endhaltestelle der Buslinie 157 in der Scharnhorststraße. (1) In unseren Blick gerät am Ende dieser Straße sofort ein größerer Gebäudekomplex - das Bundeswehrkrankenhaus. In dieser nach der Wende 1989 vornehmlich für

Von der Scharnhorststraße zum Rathaus Wedding

Fußtouren durch Berlin

Die frühere äußere Friedrich-Wilhelm-Stadt (heute Bezirk Mitte) ist Ausgangspunkt unserer vier Kilometer langen Wanderung. Die hier vor mehr als 100 Jahren erfolgte Bebauung des Terrains war eng mit militärischen Interessen und

»SOLITÄR«, Nettelbeckplatz

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Bundeswehrangehörige geschaffenen Gesundheitseinrichtung, die auch von zivilen Patienten genutzt werden kann, befinden sich alle medizinischen Fachrichtungen.
     Das umfängliche Gelände wird in den kommenden Jahren weitere neue Krankenhausgebäude aufnehmen. Geplant ist auch, die jetzt am Krankenhaustor endende Scharnhorststraße wieder für die öffentliche Nutzung frei zu machen. Damit wäre - wie früher auch - eine weitere kurze Verbindung zum Wedding gegeben.
     Die alten ursprünglichen Bauten des Bundeswehrkrankenhauses im spätklassizistischen Normannen-Burgenstil gehen auf einen Entwurf von August Ferdinand Fleischinger zurück. Entstanden sind die Gebäude zwischen 1850 und 1853. Vielfach erweitert wurde der Kernbau - eine viergeschossige Dreiflügelanlage mit turmartig überhöhten fünfgeschossigen Flügelenden. Er ist noch heute in seiner Grundstruktur erkennbar. Geschaffen wurden die Bauten seinerzeit für das Garnisons-Lazarett.
     Während der DDR-Zeit war hier das Volkspolizei-Krankenhaus untergebracht.
     Gehen wir nun die Scharnhorststraße einige Schritte zurück, so gelangen wir zum Invalidenfriedhof (Scharnhorststraße 25). Gelegen am Spandauer Schiffahrtskanal, wurde er 1748 als Anstaltsfriedhof für das von Friedrich II. für seine alten Soldaten errichtete Invalidenhaus angelegt. Nach den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 und ab

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1848 wurde er zunehmend zu einem einzigartigen Denkmal deutsch-preußischer und Berliner Geschichte und Friedhofskultur.
     Er diente vor allem dem Begräbnis hochrangiger Militärs. Seit Ende des 19. Jahrhunderts fanden hier auch Zivilpersonen ihre letzte Ruhestätte.
     Auf dem Invalidenfriedhof ruhen viele bedeutende Persönlichkeiten der preußischen und deutschen Armee, so u. a. Angehörige der Familie von Boyen, Friedrich Friesen, Manfred Freiherr von Richthofen, August Friedrich Gerhard Scharnhorst, Alfred Graf von Schlieffen, Hans von Seeckt, Friedrich Graf von Tauentzien, aber auch der Direktor der Frauenklinik der Charité, Walter Stoeckel, der noch 1961 hier beerdigt wurde. Mit dem Bau der Berliner Mauer im gleichen Jahr wurde der Friedhof Bestandteil des DDR-Grenzregimes. Für die Öffentlichkeit von nun an gesperrt, verliefen die üblichen Grenzsicherungsanlagen direkt über die Begräbnisstätte, denn der anliegende Kanal bildete die Grenze. Es kam zur Einebnung von Gräbern und damit zur Beseitigung und Zerstörung eines Teils der kulturhistorisch wertvollen Grabsteine, ganz abgesehen davon, daß das gesamte Terrain verwahrloste. Nunmehr hat sich nach der Wiedervereinigung Berlins der Förderverein Invalidenfriedhof e. V. gegründet, der bereits mit der Restaurierung des Friedhofs begonnen hat.
     Wiederum ein wenig weiter (Scharnhorst

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straße 36/37 bis hin zur Ecke Invalidenstraße 48/49) befindet sich ein großzügig angelegtes Gebäudeensemble, das zu DDR-Zeiten als Regierungskrankenhaus (vor allem der Teil in der Scharnhorststraße) und als Oberstes Gericht (Eckgebäude) genutzt wurde. Jetzt befinden sich dort Bundesbehörden. Errichtet wurden die Gebäude als Militärärztliche Kaiser-Wilhelm-Akademie 1903 bis 1910. Diese Akademie setzte seit 1870/71 die Traditionen der militärmedizinischen Pépinière fort. Architekten des neuen Domizils waren Wilhelm Cremer und Richard Wolffenstein, die für ihren Bau einen Teil des Invalidenparks einbeziehen konnten. Es entstand seinerzeit ein imposanter neubarocker Gebäudekomplex mit rustizierten Sandsteinfassaden.
     Wir wollen jedoch in die Habersaathstraße (2) einbiegen, die 1951 nach dem hier am 9. November 1919 erschossenen sozialistischen Jugendfunktionär Erich Habersaath benannt wurde. Hier lag auf dem Gelände des inzwischen abgetragenen »Stadions der Weltjugend« die Kaserne des Garde-Füsilier-Regiments, der sogenannten »Maikäfer«. Bei diesen holte sich der Schuhmacher Wilhelm Voigt (der legendäre Hauptmann von Köpenick) 1906 die soldatische Begleitung für sein Husarenstückchen, das die Verhaftung des Köpenicker Bürgermeisters und die Übernahme der Stadtkasse zum Gegenstand hatte. Der in dieser Kaserne stationierte Schriftsteller Hans Leip (1893-1983) verfaßte

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hier 1915 den Text »Lili Marleen«, der mit der Musik von Norbert Schultze 1940 ein Welterfolg wurde.
     Auf dem nunmehr zur Zeit riesigen freien Gelände befand sich ursprünglich neben den Kasernen ein Exerzierfeld, welches für das Stadion Mitte genutzt wurde, ehe 1950 nach den Plänen von Prof. Selman Selmanagic der Umbau für die Weltfestspiele der Jugend und Studenten vorgenommen wurde. Der Abriß des 60 000-Zuschauer-Stadions Anfang der 90er Jahre erfolgte im Hinblick auf den Bau einer riesigen Sporthalle für die Oympischen Spiele im Jahre 2000 ... Nun sollen dort Wohnungen entstehen. Wir biegen in die Chausseestraße ein, (3) wo sich in Höhe der Wöhlertstraße von 1961 bis 1989 eine der Grenzübergangsstellen zwischen dem Ost- und dem Westteil Berlins befand. Gleichzeitig erreichen wir den Bezirk Wedding. Er trägt seinen Namen nach dem askanischen Burgmann Rudolfus de Weddinge, der seinen Hof und seine Mühle an der Panke hatte. Weddingplatz und Weddingstraße befinden sich auf dem Gelände des ehemaligen Vorwerks Wedding. (4) Auf dem Platz sehen wir die evangelische Dankeskirche, die August Orth 1884 errichtete. Die Ruine der 1944 durch Luftangriffe zerstörten Kirche wurde 1949 abgetragen. 1970-1972 entstand ein Neubau nach Plänen von Fritz Bornemann. Er wählte eine symmetrische Anlage. Die Außenwand ist an
der dem Platz zugewandten Seite zu einem Glockenturm hochgezogen.
     Gegenüber ein unübersehbares Areal mit Gebäuden - die Schering AG. (5) Das Unternehmen basiert auf der im Jahre 1851 in der benachbarten Chausseestraße 17 vom Apotheker Ernst Schering eröffneten »Grünen Apotheke« (das Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört). 1864 siedelte Schering in der Fennstraße sein chemisches Werk an. Am 23. Oktober 1871 wandelte er es in eine »Chemische Fabrik auf Actien« um. So entstand die erste Aktiengesellschaft im Deutschen Reich. Die Schering AG ist heute ein internationales Unternehmen, zu dessen Produktpalette vor allem Arznei- und Pflanzenschutzmittel gehören.
     Das Verwaltungsgebäude der Aktiengesellschaft befindet sich in der Müllerstraße 178. Das 16geschossige Hochhaus wurde 1970-1974 von den Wettbewerbssiegern, den Architekten Kiemle, Kreidt und Partner, erbaut. In unmittelbarer Nachbarschaft (Fennstraße 22-27) befindet sich das in der gleichen Zeit von den Architekten Hendel, Haseloff und Hotzel erbaute Gebäude, in dem die Zentrale Verpackung und Versorgung untergebracht sind. Die Fennstraße 11/12 beherbergt das Forschungslabor von 1871 und ist heute ältester Gebäudeteil. Für die harmonische Eingliederung der Neubauten in die Stadtlandschaft erhielt die Schering AG 1978 im Bundeswettbewerb »Industrie im Städtebau« eine Goldplakette.

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Über die Schönwalder Straße, die Kunkel- und die Gerichtstraße kommen wir zum Nettelbeckplatz. (6) Sein Umbau war in den 60er Jahren das letzte große Projekt des ersten Stadterneuerungsprogramms im Wedding.
     Zentraler Mittelpunkt ist der von Ludmilla Seefried-Matejkova gestaltete populäre Brunnen »Tanz auf dem Vulkan«. Er stellt einen aus Natursteinplatten gestalteten Vulkan dar, auf dem lebensgroße Bronzefiguren tanzen. Auf dem Platz finden Märkte, Straßenfeste, Weihnachtsbasare u. a. statt. Am Nordrand des Platzes wurde 1988/89 nach Plänen des Büros Fischer/Fromm ein »Solitär« errichtet. Das ist ein siebengeschossiger freistehender Baukörper, konzipiert als Wohn- und Geschäftshaus.
     Gehen wir die Gerichtstraße weiter, so stehen wir auf dem Courbièreplatz, (7) benannt nach dem preußischen Feldmarschall mit dem klangvollen Namen Guillaume René Baron de l'Homme de Courbière (1733-1811). Der Platz ist der Mittelpunkt eines dicht besiedelten Gebietes. Wohnhäuser vom Anfang unseres Jahrhunderts bilden ebenso seine Randbebauung wie die in den folgenden Jahren errichteten Geschäfts-, Verwaltungs- und Sakralbauten. In der Grünanlage am Platz steht seit 1954 die Trümmersäule zum Gedenken an den Wiederaufbau, ein 12 Meter hoher Pfeiler von Gerhard Schultze-Seehof, mit Trümmermosaiken geschmückt.
Gleich nebenan der Städtische Urnenfriedhof (8) (Gerichtstraße 37-38). Das Krematorium wurde 1910-1912 von William Müller als erste Feuerbestattungsanlage Preußens erbaut. Ein säulenumstandenes Atrium dient als Vorhof. Im Warteraum wird ein Marmor von Adolf Brütt »Opus 100« (1909) bewahrt, ein hochreliefartig komponierter weiblicher Akt, wohl eine Trauernde.
     Verlassen wir diesen Ort über die Ruheplatzstraße, stoßen wir auf die Alte Nazareth-Kirche. (9) Wir stehen vor einer der vier nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel erbauten Vorstadtkirchen. Dieser einschiffige Ziegelrohbau mit Apsis, Rundbogenfenstern, Emporen und horizontaler Holzdecke entstand 1832 bis 1835. Die Kirche gehört in ihrer Bescheidenheit und klassischen Strenge zu den schönsten, typischen Bauten der Schinkelzeit. Seit der Errichtung der benachbarten Neuen Nazareth-Kirche zu Beginn dieses Jahrhunderts wird sie vor allem für diakonische und katechetische Arbeit genutzt.
     Wenige Meter weiter in der Nazarethkirchstraße 50 die Neue Nazareth-Kirche (10), 1891-1893 nach Plänen des Baurats Max Spitta errichtet. Der Zeit entsprechend wurden gotische Formen gewählt, die sich an mittelalterliche märkische Backsteinbauten anlehnen. An der Westseite erhebt sich der 78 Meter hohe Turm, der auch den Haupteingang aufnimmt. Das Gemeindehaus mit den Diensträumen des Kirchen

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kreises Wedding wurde von Kurt Schenke 1969-1971 in abgewogenen Formen als Backsteinbau entworfen.
     Vor uns dann der Leopoldplatz, (11) benannt zu Ehren Leopold I., Fürst von Anhalt-Dessau, dem »Alten Dessauer« (1676-1747), preußischer Feldmarschall. 1950 folgte die erste durchgreifende Veränderung der Anlage durch Günther Rieck, zwölf Jahre später (1962) eine weitere Umgestaltung durch Johannes Plonsker. In den Anlagen steht ein Bronzenachguß des Betenden Knaben. Das griechische Original von 325 v. Chr. wurde von Friedrich II. erworben und kann auf der Museumsinsel besichtigt werden.
     Wieder in der Müllerstraße, sind es nur noch einige Schritte bis zum Rathaus Wedding (Müllerstraße 146-47/Ecke Limburger Straße). (12) Es ist ein fünfgeschossiger gerasteter Backsteinbau mit einförmiger Fensterreihung, errichtet 1928-1930 von Friedrich Hellwig und Martin Wagner mit einem zweiten Bauabschnitt 1962-1964 von Fritz Bornemann. Der neugeschaffene 12geschossige Turmbau mit durchgehenden Fensterbändern und dem zur Müllerstraße vorgeschobenen Saalbau, der mit dem Altbau durch einen gläsernen Trakt verbunden ist, ergänzt den kommunalen Zweckbau eindrucksvoll.
     Am Rathaus in der quirligen Müllerstraße endet diese Wanderung.
»Romanze vom Wedding«, gesungen von Claire Waldoff in den 20er Jahren; Text von Leo Hirsch

Sie trug die allerschönsten Kleider auf de Glieder,
Sie trug een echten Florentiner-Hut.
     Und oben druff een echtes Krokodilgefieder,
Und trotzdem stand ihr irgend wat nich gut:
Det linke Been, det mußte es bezeugen,
Det linke Been, daß se vom Wedding stammt.
     Det linke Been, det konnte man nicht leugnen,
Det war noch nicht so recht kurfürstendammt.

Bildquelle und Karte: Archiv LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/1996
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