34   Berliner Gespräche Hauptstadt Berlin  Nächstes Blatt
Wir sollten nicht glauben, in Berlin müsse alles einmalig werden

Minister Klaus Töpfer: Die Qualität einer Stadt zeigt sich auch in der Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln

Als Klaus Töpfer, Jahrgang 1938, vor fünf Jahren im Bundestag für den Berlin-Antrag stimmte, wußte er noch nicht, daß er als Minister für Stadtentwicklung auch der Verantwortliche für den Umzug der Bundesregierung nach Berlin werden würde.

Sie gehörten am 20. Juli 1991 zu der knappen Mehrheit, die sich für eine Bundeshauptstadt Berlin aussprach. Die Umsetzung dieser Entscheidung hat Ihnen nicht nur sehr viel Arbeit, sondern auch viel Ärger eingebracht. Würden Sie sich heute genauso entscheiden?
     Klaus Töpfer: Mich persönlich haben die letzten fünf Jahre nur bestärkt in der Entscheidung, die ich damals getroffen habe. Alle Entwicklungen im wiedervereinten Deutschland zeigen die dringliche Notwendigkeit, diese Entscheidung auch umzusetzen. Vielleicht hätten wir uns das eine oder andere leichter gemacht, wenn das schneller geschehen wäre.


Deshalb darf auch jetzt keine Verzögerung mehr eintreten.

Berlin ist eine verrückte Stadt, in der man es nur aushält, wenn man sie liebt. Was lieben Sie an Berlin?
     Klaus Töpfer: Gott sei Dank ist Berlin eine verrückte Stadt. Langweiliges haben wir ja eigentlich genug. Und wer Verrücktes nicht aushält, der wird sicherlich in der Dynamik dieser gesellschaftlichen Entwicklung sehr schnell kurzatmig. Für mich bedeutet das Verrückte an Berlin Vielfalt, Buntheit, auch das nicht ganz Gewöhnliche. Und es heißt, daß man sich immer wieder aufrütteln lassen kann, wenn man es zu routiniert angeht. Das ist es, was mich immer an Berlin fasziniert hat. Vielleicht hatte diese Atmosphäre in den Jahren der getrennten Stadt etwas nachgelassen. Aber sie zeigt sich jetzt in ganz besonderer Weise in dieser unglaublichen Herausforderung, Unterschiedliches zu überwinden. Diese Atmosphäre bleibt einer der Gründe, warum ich diese Stadt ins Herz geschlossen habe.
     Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Berlin?
     Klaus Töpfer: In den letzten Kriegstagen war ich mit meiner Mutter bei Verwandten in Potsdam. Mein Onkel hatte dort eine Bäckerei. Ich sehe mich noch tagsüber in seinem kleinen Boot sitzen. Er brachte nämlich die Schrippen auf die andere Halbinsel.

BlattanfangNächstes Blatt

   35   Berliner Gespräche Hauptstadt Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Und nachts rannte ich mit meiner Mutter in einen Keller. Wir sahen, wie die Christbäume vom Himmel kamen, die Leuchtsignale für die Fliegerangriffe auf Berlin. Das waren für mich die ersten Eindrücke: die unendlich schöne Harmonie des im Wasser gleitenden Bootes mit dem Geruch der frischen Brötchen, auf der anderen Seite dieser Alptraum der Kriegszerstörungen.
     Meine nächste Begegnung mit Berlin hatte ich als Schüler, in der Untersekunda. Ich bin in Schlesien geboren und nach der Vertreibung in Höxter aufgewachsen. Da gab es die Berlin-Reisen. Damals fand gerade die Interbau statt. Wir sind durch Berlin gezogen, immer noch ein bißchen mit dem Kribbeln im Nacken, weil wir ja durch die Zone gekommen waren und man sah, wie sich diese Stadt gegen ihr Schicksal stellte. Es war für meine Begriffe damals eine großartige Idee, mit dieser gebauten Ausstellung der besten Baumänner der Welt zu zeigen: Guckt auf Berlin!
     Ich bin immer wieder gerne nach Berlin gekommen, auch beruflich. Im Saarland war ich ja auch für die Presse zuständig, wurde zum Berliner Presseball eingeladen. Das waren schöne Erlebnisse, die meine Frau und ich in unseren jungen Ehejahren gehabt haben. Das war aufregend, die vielen Prominenten wie Martin Held, den meine Frau sehr verehrte.


Klaus Töpfer

Das ist eben das Schöne an Berlin, die unterschiedlichsten Zugänge, Verbindungen bis hin zum jährlichen Pokalendspiel im Olympia-Stadion.

Die Entscheidung für Berlin als Bundeshauptstadt war knapp, und die Skeptiker sind wohl auch noch längst nicht überzeugt.

BlattanfangNächstes Blatt

   36   Berliner Gespräche Hauptstadt Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
     Klaus Töpfer: Das ist sicher auch schwer. Da taucht immer wieder die Frage auf, ob wir uns das leisten können. Wenn doch überall gespart werden muß, könne man das ja verschieben, warum müssen dafür Milliarden ausgegeben werden. Auf der anderen Seite gibt es die Besorgnis, in einer brodelnden Stadt in die Regierungspolitik eher Unruhe und Unsicherheit einzubringen als Kontinuität und Beständigkeit. Da gibt es aus den verschiedensten Bereichen Strömungen, die sich mischen, bis hin zu der menschlich nachvollziehbaren Beharrung derjenigen, die in Bonn leben und in der Bundesregierung, im Parlament arbeiten. Manche können sich nur sehr schwer vorstellen, ihren Lebensmittelpunkt noch einmal zu verändern. Da darf man sich nicht wundern, daß es eher Vorbehalte statt Beifall gibt, wenn man im Zeitplan bleibt.
     Ich gehöre allerdings nicht zu denjenigen, die da sagen, nun analysieren wir erst mal die Probleme, und wenn sie die dann kennen, sagen sie, schade, da gibt es ja Probleme. Analysen müssen zu Ansatzpunkten führen, die Probleme zu lösen. Jede politische Entscheidung erfordert es, Voraussetzungen zu schaffen, diese Entscheidung auch umzusetzen.

Wenn Sie die Geschichte der Stadt bedenken, was würden Sie denn aus der Vergangenheit gerne wiederbeleben oder zumindest erhalten?

     Klaus Töpfer: Ich würde lieber davon ausgehen, was wir aus der Gegenwart in die Zukunft einbringen müssen. In der Vergangenheit gab es nicht die großartige Chance eines sich einigenden Europas. Diese Chance für einen friedlichen Kontinent kann nur verwirklicht werden, wenn wir auch Mittel- und Osteuropa einbinden in unsere Entscheidungen. Für eine solche Politik ist Berlin geradezu prädestiniert.
     Wenn jemand sagt, Bonn liegt näher an Brüssel, bleibt er in dem alten Vorstellungsmuster von Europa. Im Kalten Krieg ist dies immer ein westeuropäisches Europa gewesen. Wir haben jetzt die großartige Chance, ureuropäische Städte wie Krakau, Warschau, Budapest, Prag oder Breslau mit ihrer kulturellen Qualität und ihrem Beitrag zu einer europäischen Vielfalt mit einzubinden.
     Was wir zusätzlich nutzen müssen, das ist die föderale Qualität Deutschlands.
     Der Stadt Berlin soll man ansehen, daß sie die Hauptstadt eines Bundesstaates, der Bundesrepublik Deutschland, ist. Einer Republik, die ihre Stabilität aus der Vielfalt gewinnt. Wir haben 16 Hauptstädte in Deutschland, meiner Meinung wären 15 auch genug, und vielleicht bringt das ja der Volksentscheid über die Fusion von Berlin und Brandenburg. Aber so soll es bleiben. Diese Vielfalt war die absolute Stärke der Entwicklung in der alten Bundesrepublik.
BlattanfangNächstes Blatt

   37   Berliner Gespräche Hauptstadt Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Ich wohne zwei Kilometer von der deutsch-französischen Grenze entfernt. Fragen Sie mal in Elsaß-Lothringen nach, was dort über die föderale Qualität gesagt wird.
     Also ich möchte Berlin als die gesamteuropäische Metropole sehen, als die Hauptstadt des föderalen Gebiets der Bundesrepublik Deutschland. Und ich möchte die Stadt sehr viel stärker auch wieder sehen als den Ort pulsierenden Lebens, als einen Mittelpunkt von Kultur und Kunst, wie das in den vielzitierten »goldenen Zwanzigern« war.
     Jemand hat mal den schönen Satz gesagt: »In Berlin kann man von allem leben, was man kann.« Ich möchte gerne die »Berliner Schnauze« erhalten, die Unbekümmertheit gegenüber Königsthronen. Berlin bedeutet nicht Preußen, nicht Obrigkeitshörigkeit. Berlin - das ist für mich der Mann auf der Straße, der einem auf die Schulter schlägt, mit dem man in der Kneipe ein Bier trinken kann und der kein Blatt vor den Mund nimmt. Man hört in der Kneipe mehr, als einem die Mitarbeiter sagen. Egal, ob in Prenzlauer Berg, in Kreuzberg oder in Zehlendorf.

Berlin ist keine organisch gewachsene Stadt und hat beispielsweise kein eigentliches Zentrum. Sehen Sie darin einen Mangel oder eher Möglichkeiten für die Zukunft?
     Klaus Töpfer: Diese dezentrale Konzentration ist eine Stadtqualität ganz eigener Art. In Berlin ist man eben aus dem Wedding, oder von Kreuzberg.

Wenn die Berliner draußen sind, dann sind sie alle Berliner, aber in Berlin sind sie von Kreuzberg, vom Prenzelberg oder auch von Marzahn, um das nicht zu vergessen und so zu tun, als sei das so ein ungeliebtes Kind.
     Für die Stadtentwicklung wird eine der ganz großen Herausforderungen sicher die Organisierbarkeit von Megacities sein. So eine große Stadt wird nur organisierbar sein in vielfältiger dezentraler Konzentration. Dafür habe auch ich kein Patentrezept. Aber für mich gehört dazu, daß wir uns auch die funktionalen Bereiche in der Vielfalt leisten. Wenn Sie einen Franzosen fragen, wo ist die Zentralbank, na in Paris. Und wo sind die Obersten Gerichte? In Paris. Wo sind die Wirtschaftsverbände? Alle in Paris. Man hat dort den schönen Satz »Paris et le désert«, Paris und die Wüste. Wir werden uns auf Dauer die Bundesbank in Frankfurt »leisten«. Wir werden auf Dauer Oberste Gerichte in Leipzig und in Karlsruhe haben. Das ist nicht etwas, was man hinnehmen, sondern was man als Qualität begreifen muß. In der Vergangenheit ist aus der Vielfalt der Fürstentümer, Herzogtümer, Königreiche mit ihrer jeweiligen Hauptstadt, die architektonisch und merkantil entwickelt wurden, für Deutschland viel Stabilität gekommen. So eine Entwicklung ist eben nicht kopflastig, sondern auch ein Signal für kreative Architekten und Stadtplaner. Wir müssen ihnen den Raum geben und mitteilen, was wir denn wollen, und das dann in der Demokratie diskutieren.
BlattanfangNächstes Blatt

   38   Berliner Gespräche Hauptstadt Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Ich glaube schon, daß wir dann viel mehr Antworten von kompetenten Leuten bekommen. Wir sollten auch ein bißchen mehr Mut haben und nicht alles auf einmal machen wollen. Nicht nur aus finanziellen Überlegungen, sondern aus Überzeugung, daß da vielleicht insgesamt etwas Besseres entsteht.

Als Berlin noch königliche Residenz und ab 1871 Reichshauptstadt war, gehörte es zu den sympathischen Seiten der Stadt, daß die Politiker gewissermaßen noch zum Anfassen waren. Die Ministerien lagen so dicht beieinander, daß alles per pedes erledigt werden konnte, im hautnahen Kontakt mit den Berlinern. Die räumliche Nähe der Ministerien und des Kanzleramtes soll ja daran anknüpfen. Wie paßt da ein totales Sicherheitskonzept hinein? Wird es ein Raumschiff Bonn unter Großstadtbedingungen geben?
     Klaus Töpfer: Wir müssen erreichen, daß jeder, welches politische Amt er auch gerade bekleidet, sich ohne Sorgen um seine Gesundheit bewegen kann. Es ist ja nicht gerade Ausdruck von Lebensqualität, wenn man Sicherheitsbeamte haben oder mit einem gepanzerten Mercedes fahren muß. Es geht also um Toleranz in der Gesellschaft. Und Raumschiff Bonn? Wer einmal da war, weiß, daß der Vorplatz des Bundestages ständig voller Menschen ist, ständig Besuchergruppen da sind, mit denen es sehr viele Kontakte gibt.

Irgendwelche Abschottungstendenzen sind da wirklich nicht zu bemerken. Trotzdem gibt es natürlich einzelne Bereiche, wo wir gesagt haben, das soll uns bitte nicht noch einmal passieren. Als wir beispielsweise um den Asylkompromiß diskutierten, mußte ich mit einem Schiff über den Rhein zum Bundestag fahren, weil es da Sicherheitsvorkehrungen gegen gewaltsame Demonstranten gab. Der Kollege Kinkel mußte mit dem Hubschrauber einfliegen. Das ist wirklich eine Katastrophe. Darum müssen wir alles daransetzen, daß diese Gesellschaft tolerant wird, daß sie auch ihre Bereitschaft zeigt, mehrheitliche Entscheidungen zu akzeptieren. Solange das nicht so ist, wird Sicherheit wohl immer mißverstanden werden als Abschottung gegenüber dem Volk oder den Bürgern, die uns gewählt oder auch nicht gewählt haben.

Alle Welt hofft auf einen enormen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung für Berlin, wenn der Umzug beendet ist. In Erwartung dessen erlebt die Stadt einen Bauboom, der höchstens mit dem der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts vergleichbar ist. Dem damaligen Gründerboom folgte allerdings der Gründerkrach.
     Klaus Töpfer: Wenn Sie die zur Zeit leerstehenden Büroräume meinen, möchte ich anmerken, daß ich solche zeitlichen Verschiebungen nicht für unnormal halte. Nirgendwo in der Welt sind solche Dinge synchron gelaufen, überall gab es Übergänge, Abbrüche, Friktionen.

BlattanfangNächstes Blatt

   39   Berliner Gespräche Hauptstadt Berlin  Voriges BlattArtikelanfang
Wir müssen alles daransetzen, daß diese Friktionen Reibungen bleiben und keine krisenhaften Entwicklungen mit sich bringen.

Berlin in fünfzig Jahren - haben Sie bei dem Gedanken mehr Alpträume oder Träume?
     Klaus Töpfer: Ich träume davon, daß wir es schaffen, Berlin erneuerungsfähig zu halten, daß wir nicht so viel Abschließendes, Endgültiges, Starres machen. Wolfgang Thierse hat einmal gesagt, daß sich die Qualität einer Stadt in der Ungleichzeitigkeit zeigt. Wenn wir zu vieles rigide, nicht variabel machen, dann habe ich Sorgen. Die Qualität einer Stadt liegt für mich in der Fähigkeit, daß sie sich weiterentwickeln kann, daß sie recyclefähig ist. Das bedeutet natürlich auch, daß wir uns nicht so fürchterlich ernst nehmen, daß wir - trotz der historisch einmaligen Situation - nicht glauben, alles historisch einmalig machen zu müssen. Das wird uns sowieso nicht gelingen, denn wir müssen jetzt die Funktionsfähigkeit gewährleisten. Deshalb: Laßt auch anderen noch ein bißchen davon übrig, ihre Vorstellungen von der Stadt zu gestalten.

Sie pendeln zur Zeit nicht nur zwischen Bonn und Berlin, Sie wohnen ja in Saarbrücken. Wollen Sie nach Berlin ziehen?
     Klaus Töpfer: Mir geht es nicht darum, persönliche Entscheidungen zur Bestätigung meiner politischen Glaubwürdigkeit zu treffen. Schließlich bin ich als Politiker in diesem Amt auf Zeit.

Unsere Neigung zu Berlin, vor allem auch die meiner Frau, geht weit darüber hinaus. Da gibt es allerdings einige private Entscheidungen, die man nicht so en passant treffen kann. Unsere jüngste Tochter geht jetzt ein Jahr nach Kostarika, die beiden anderen studieren. Und die Schwiegereltern, 91 und 88 Jahre alt, leben bei uns. Aber wir haben Berlin wirklich ins Herz geschlossen.
     Das Gespräch führten Jutta Arnold und Hans-Jürgen Mende
BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/1996
www.berlinische-monatsschrift.de