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Schuh- und Reifenabdrücke in Gips gegossen

Die Polizeihistorische Sammlung

Selbst der Nichtkriminalist weiß, hat er wenigstens eine Handvoll Folgen irgendeiner »Kommissar«-, »Derrick«- oder »Miami Vice«-Serie gesehen, daß allen Anfang der kriminalistischen Arbeit das Sammeln darstellt: Sammeln von Spuren, Sammeln von Tatwaffen, Sammeln von Alibis, Zeugen, Verdächtigen und, wenn alles getan ist: Tätern. Das Sammeln, so kann man sagen, ist des Kriminalers Lust. Und die muß schon recht früh ein Kollege entdeckt haben, der das Gesammelte seines temporären Zwecks, nämlich der Dingfestmachung eines straffällig gewordenen Mitbürgers, entkleidet und mit neuem Sinn versehen hat: das Sammeln als institutionelle Selbstschau.
     Ebenso wie unsereins die Vergänglichkeit fürchtet und schon zu Lebzeiten das Zerrinnen der Zeit durch das Sammeln irgendwelcher, meist nutzloser Dinge aufzuhalten versucht, so plagt die Polizei offenbar auch der Gedanke, zwar immer dazusein, indes in der Geschichte nichts die jeweilige Gegenwart Überdauerndes der Welt zu hinterlassen.
     Die Crux steckt zweifellos in ihrem Wesen, nicht Taten hervorzubringen, sondern (Un-)Taten zu verhindern. Also bleibt ihr nur das Sammeln. Gesammelt wird alles, was wichtig scheint. Und wie irgendwann jeder Sammler stolz seine Schätze dem Freundeskreis präsentiert, so lädt uns auch die Berliner Polizei in ihre Polizeihistorische Sammlung ein.
     Was gibt es dort nun alles zu sehen: Begrüßt und stets begleitet durch die Jahrhunderte (und vielleicht auch bewacht) werden wir durch Puppen in ihrer jeweiligen zeitgenössischen Polizeiuniform.

Wir gehen vorüber an einer frühen Personenbildanlage der Jahrhundertwende, in Gips gegossenen Schuh- und Reifenabdrücken, die uns in die Themen Erkennungsdienst, Daktyloskopie etc. einführen. Komplementär dazu sind Beispiele früher Fälschungskunst ausgestellt. Plastik-Wilhelm-Voigt weist auf seinen auf Texttafeln dokumentierten »Hauptmann von Köpenick«-Coup hin. Staunend blicken wir auf in Glaskästen liegende, reichhaltige Sammlungen von »Tötungswerkzeugen«: »Faustfeuerwaffen« der Polizei von 1910 bis heute, »Hieb-, Schneid- und Stichwerkzeuge«, die eher ihren Gegenspielern zuzuordnen sind. Vitrinen bergen »illegale Glücksspielutensilien aus den 50er und 60er Jahren«, d. h. vorwiegend Spiel-Chips. Das Thema »Rauschgift« (»Tod auf Raten!«) stellt sich uns in Form von Spritzen, LSD-Trips und einer beachtlichen Pfeifensammlung dar. Wir begutachten eine Vielzahl von Dienstrangabzeichen der Polizei der ehemaligen DDR wie BRD, Helme, Mützen, Schlagstöcke, aufgesprengte Tresortüren diverser Größen nebst Einbrecherutensilien, eine Druckerpresse und dazugehöriges Falschgeld, polizeiliche Kommunikationstechnik von damals bis heute. Alles, was einen richtigen Polizisten so ausmacht.
     Eine unfreiwillige Komik entwickeln dagegen Exponate wie z. B. eine beklebte Kaffeebüchse (»Mit dieser Sammelbüchse wurden humanitäre Anliegen vorgetäuscht!«), eine ungeschickt imitierte Pistole aus Pappe (die, um einer Zuführung zum Gericht zu entgehen, Anwendung fand) oder ältere Geschäfts- und Vereinsmitgliedsbücher (»Material, das einst dem >Sparverein Südost<, einem Unterweltverein, gehört hat!«). Hinzuzufügen ist noch eine an beiden Enden abgeknickte Röhre: »Mit diesem selbstgebauten >Spiegelfernrohr< beobachtete ein >Spanner< das Privatleben seiner Nachbarn und erhoffte sich sexuelle Szenen!«
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Nicht weniger aussagekräftig ist eine gesprungene Panzerglasscheibe nebst dazugehörigem Hammer.
     Dagegen demonstrieren Panzerfäuste, Handgranaten und Minen, allesamt unter Glas und zu einem gesonderten Ausstellungsteil über die »Beseitigung, Untersuchung von Kampfmitteln, Explosivstoffen« gehörig, den Ernst des Sprengstoffspezialisten-Alltags. Ein vierter und letzter Ausstellungsraum, von der Größe einer kleinen Kammer, beherbergt seit Mitte April ein ganz besonderes Kleinod. Hinzugekommen sind ca. 1,5 Meter jener Tunnelröhre, die zu den Tresorräumen einer Zehlendorfer Commerzbank-Filiale führten, aus denen noch vor kaum einem Jahr einige Millionen DM verschwanden.
     Der genial geplante und ausgeführte Coup, der dem Ansehen der Berliner Polizei nicht gerade zuträglich war, hielt den vergangenen Sommer hindurch nicht wenige Berliner Biergärten bei guter Laune. Das Lachen verstummte jedoch bald, als nach kurzer Zeit schon die ersten Verdächtigen ausgemacht und mittlerweile dem Richter vorgeführt werden konnten. Vielleicht hatte man es mit diesem Ausstellungsteil deswegen nicht ganz so eilig gehabt. Dafür läßt man uns nun neben erwähnter holzbalkenverschalter Röhre die dazugehörigen Tatwerkzeuge (Klappspaten, Schaufel, Stützpfeiler), etliche Fotos vom Tatort und diverse Türchen der entleerten Schließfächer bestaunen.
     Bevor wir jedoch unseren Rundgang beenden, werfen wir noch einen Blick auf das unauffällig in einer Ecke sich befindende und in liebevoller Kleinarbeit hergestellte Modell, das, wie geschaffen für eine Kindereisenbahn in H-Spur, die Polizei im Einsatz zeigt. Die dem richtigen Leben naturgetreu nachempfundene Szene, die man betiteln könnte mit: »Wir stürmen ein besetztes Haus«, zeigt trotz Miniaturgröße höchst anschaulich, wie vermummte Autonome Barrikaden bauen, Steine von Hausdächern auf die arbeitenden Polizisten werfen und vieles andere mehr. Ein Spalier uniformierter Vopo- und Kripo-Puppen - darunter die einzige Polizistinnen-Puppe in
einem seltsamen weißen Umhang, neben einem Kollegen, deren Anblick an eine Szene vor dem Traualtar erinnert - bildet den Abschluß der polizeihistorischen Sammlung.
     Soweit zu den ausgestellten Exponaten. Da jedoch unsere Sammlung, die gesammelten Gegenstände allein stumm sind und dem kontemplativen Betrachter weder Geschichte noch Geschichten erzählen, hat man Tafeln aufgehängt. Berichtet werden u. a. diverse Kriminalfälle, wobei das Exemplarische und Besondere an ihnen nicht so recht aufscheinen will. Die dazugehörigen Fotos verschiedener Mordopfer sowie Nahaufnahmen von Schuß- oder Stichwunden lassen dagegen manchen Magen flau werden.
     Aber auch Geschichte wird erzählt. Und zwar von Anfang an, nämlich von den bewaffneten Landsknechten des Hochmittelalters, die im Dienste der Landesherren als »Policey« die Staatsgewalt incl. der Sicherheits- und Wohlfahrtspflege vertraten.
     Daß die Verantwortlichen als Medium der Wissensvermittlung jedoch das wenig originelle und anschauliche Modell »Geschichte zum Lesen« anwenden, ist wohl den fehlenden technischen Mitteln geschuldet. Lediglich die »Zwanziger Jahre« hat man als in eine Litfaßsäule versteckte Tonbildschau >multimedial< aufbereitet. Erzählt wird deutsche Geschichte der Neuzeit, wobei die beiden letzten Jahrhunderte intensivere Betrachtung erfahren. Der den deutschen Nationalsozialismus behandelnde Teil der Sammlung räumt auf mit der (ähnlich wie bei der deutschen Wehrmacht) bequemen Vorstellung, die Kriegsverbrechen hätten alleine Hitler und die Waffen-SS zu verantworten; genauso wie die Wehrmacht wurden auch Polizeikräfte in nicht geringer Zahl zur Vernichtung jüdischer, russischer oder polnischer Zivilisten rekrutiert. Bei Befehlsverweigerung drohte allenfalls Versetzung. Doch selten genug kam es zu dieser »Bestrafung«. Die Polizei im Nationalsozialismus funktionierte im großen und ganzen reibungslos.
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     Diese erfreulich intensive Beschäftigung mit eigener Geschichte erlahmt leider mit Kriegsende und bricht unerklärterweise plötzlich mit dem Jahr 1949 ab, so als seien die letzten vier Jahrzehnte der Betrachtung nicht wert bzw. als jedem bekannt vorauszusetzen. Ob und welche Lehren die Polizei aus der Zeit des Nationalsozialismus gezogen hat, muß sich der Besucher somit selbst zusammenreimen. Wie so manches andere übrigens auch. Einen Einblick in die Arbeitsweise der Polizei darf man sich jedenfalls nicht versprechen. Das behält sie dann doch lieber für sich.
     Thomas Rothermel

Polizeihistorische Sammlung, Platz der Luftbrücke 6, 12096 Berlin, Mo. - Mi. 9.30 Uhr bis 11.30 Uhr und 13 Uhr bis 15 Uhr, Do. und Fr.: nur für Gruppen nach vorheriger Vereinbarung

 
Dieter K. Huzel
Von Peenemünde nach Canaveral

Vision Verlag, Berlin 1994

Dieses Buch erzählt - der Titel macht es deutlich - die Geschichte der deutschen Raketentechnik von den letzten Kriegsjahren des Zweiten Weltkrieges bis zu den Wiederanfängen in den USA. Aber dieses Buch hat auch selbst eine Geschichte. Es ist nicht das Ergebnis detaillierter Recherchen, sondern die genaue Erinnerung eines Mannes, der in leitenden Positionen sowohl in Peenemünde als auch in Cape Canaveral dabei war. Huzel hat dieses Buch zu Beginn der 60er Jahre geschrieben und 1962 in den USA veröffentlicht. Nun kommt es nach über 30 Jahren nach Deutschland. Den Hauptgrund für diese Verspätung sieht der Autor darin, daß nach der deutschen Wiedervereinigung ein

neues Interesse an Peenemünde erwacht sei: Der Ort ist wieder öffentlich zugänglich, und es gibt sogar Enthusiasten, die Peenemünde rekonstruieren möchten. Um das zu erleichtern, hat der Autor für die deutsche Ausgabe seines Buches »eine Reihe aufschlußreicher Szenen sowie eine Anzahl kleiner Einzelheiten hinzugefügt«, die ihm »im Hinblick auf die Rekonstruktion in Peenemünde wichtig erschienen«. (S. 12) Ansonsten aber ist der Text unverändert geblieben, der das Ziel verfolgt, »zum besseren Verständnis der enormen technologischen Bedeutung von Peenemünde« (S. 12) beizutragen. Und um es vorwegzunehmen: Im Nachwort des Autors von 1992 wird diese Bedeutung exakt bestimmt: »Ohne die in Peenemünde erfolgreich betriebene Entwicklung und Anwendung des Flüssigkeitstreibstoff-Raketentriebwerks in großem Maßstab wären die späteren russischen Satelliten und die nachfolgende erste bemannte USA-Landung auf dem Mond sowie die sensationellen unbemannten Besuche der meisten Planeten unseres Sonnensystems für lange Zeit nicht möglich gewesen.« (S. 304)
     Kein Geringerer als Wernher von Braun (1912-1977), seit 1970 Leiter der NASA-Planungsabteilung, hat das Vorwort zu Huzels Buch verfaßt. Er begrüßte es, daß jemand über Peenemünde schreibt, der dabei war, der es »auf der Höhe seiner geschichtlichen Bedeutung« erlebte. Und er bestätigte nachdrücklich die Authentizität des Berichts; es sei die »vollständigste Beschreibung der dortigen Vorgänge«, die er bisher gesehen habe.
     Dieter K. Huzel (1912) hatte nach dem Studium seine Ingenieurlaufbahn bei Siemens-Schuckert in Berlin begonnen und von jeher Interesse für die Raketenforschung gezeigt. 1942 als Soldat eingezogen, wurde er im Juli 1943 nach Peenemünde versetzt. Nach kurzer Zeit übernahm er die Leitung des Prüfstandes VII, auf dem die V2-Raketen geprüft wurden. 1944 machte ihn Wernher von Braun zu seinem technischen Direktionsassistenten.
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Nach 1945 kam er mit der Gruppe unter Leitung von Wernher von Braun in die USA, wo er weiterhin auf dem Gebiet der Raketenantriebsforschung tätig war.
     Was er über Peenemünde zu erzählen hat, ist also ein zwar kurzer, aber entscheidender Abschnitt seines Lebens. Die drei Jahre von der Ankunft in Peenemünde 1943 bis zur Ankunft in den USA 1946 sind wohl auch deshalb so plastisch in der Erinnerung des Autors geblieben. Zugleich darf man nicht übersehen, daß hier ein Techniker über technische Wunderwerke berichtet, an deren Produktion er mitgewirkt hat. Daß zu dieser Zeit ein barbarischer Krieg tobte, wird vor allem unter dem Aspekt der die Entwicklung hemmenden Luftangriffe gesehen. Daß für den Bau der Raketen Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, nimmt der Autor mehr am Rande wahr, so wenn er eine »gigantische unterirdische Fabrik« besucht, die für Peenemünde produziert (S. 110), oder wenn ihm unbehaglich zumute wird, als er bemerkt, daß die arbeitenden KZ-Häftlinge vorwiegend »politische Gefangene« sind und nicht mehr - wie er es noch von Siemens in Berlin kannte - »Mörder, Diebe, Sittlichkeitsverbrecher und dergl«. (S. 146) Allerdings stellt er nachdrücklich fest, daß er sich an keinen Fall von Sabotage erinnern kann. Vor allem aber fällt auf, daß das Verhältnis zu den Raketen als Waffe vorwiegend technikinteressiert ist. Typisch dafür ist, wie Huzel die Reaktion des Teams beschreibt, als es am 8. September 1944 aus der Presse vom Einsatz der V2 gegen London erfährt. Von Braun habe die Begeisterung (!) gedämpft, sei realistisch geblieben.
     In ebendiesem Sinne, für ein neues Zeitalter zumindest das Fundament gelegt zu haben, beschreibt der Autor begeistert die verschiedensten Versuche, die daran beteiligten »Superingenieure« (S. 98), analysiert die 282 Erprobungsabschüsse der V2 und rechnet detailliert die im militärischen Einsatz verschossenen V auf: 1 115 gegen London, 1 775 gegen Antwerpen und andere Festlandziele, 640 Versager (S. 170).
     Als am 31. Januar 1945 für Peenemünde der Evakuierungsbefehl eintraf, ging es vor allem darum, die gesamten Dokumente -»die Summe und Substanz der gesamten deutschen Raketenforschung« (S. 197) - zu retten, d. h. sie sicher zu verbergen. Auch dafür wurde Huzel als Leiter ausgewählt. Ein Bild im Buch zeigt den Stollen der Grube Georg Friedrich in Dörnten bei Goslar, wo der beste Platz gefunden wurde.
     Am 2. Mai 1945 erfolgte die ideelle Übergabe Peenemündes an die Amerikaner durch Wernher von Braun, seinen Bruder Magnus von Braun, General Walter Dornberger, Dieter K. Huzel, Hans Lindenberg, Bernhard Tessmann und Oberstleutnant Herbert Axter. Die Art und Weise des nun folgenden USA-Gewahrsams für die deutschen Raketenspezialisten ließ beim Autor die vage Hoffnung auf den Vogel Phönix wach werden, der aus seiner eigenen Asche wiedererstand. Und er sollte sich nicht täuschen. In Garmisch-Partenkirchen untergebracht, wurden mehr als 400 ehemalige Peenemünder versammelt, die von sich wußten, daß sie mit ihren Erfahrungen und dem vergrabenen Schatz der Dokumente »die einzige bedeutende Gruppe in der ganzen Welt (waren), die das technische Knowhow für die Raketenforschung besaß«. (S. 250) Als in den folgenden Monaten im Rahmen der Nutzbarmachung deutscher Spezialisten (»Operation Paperclip«) nahezu 700 Personen in die USA gebracht wurden, waren darunter auch 118 Peenemünder Raketenforscher. Und sie setzten ihre Arbeit dort fort, wo sie in Peenemünde aufgehört hatten: Zwischen April 1946 und September 1952 verschossen sie zu Versuchszwecken etwa 70 V2-Raketen, die von den Amerikanern erbeutet worden waren. Und so enden denn die drei für Dieter K. Huzel so bedeutsamen Jahre mit einer Erkenntnis, die den Leser nach der Lektüre des Buches nicht mehr überrascht: »Trotz vieler Unterschiede in kleinen Dingen war die Atmosphäre in Cape Canaveral der von Peenemünde verblüffend ähnlich.« (S. 298)
     Walter Unze
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/1996
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