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Gerhard Keiderling
Als »Rosinenbomber« Kohle brachten ...

Eine Betrachtung zur Berliner Luftbrücke 1948/49

Im Berliner Volksmund hießen sie »Rosinenbomber«: die zweimotorigen »Dakotas« (C 47) und die viermotorigen »Douglas Skymasters« (C 54) der U.S. Air Force sowie die viermotorigen »Hastings« und »Yorks« der Royal Air Force, die von Ende Juni 1948 bis Herbst 1949 über das Berliner Häusermeer hinwegdonnerten und die drei Westsektoren mit Gütern und Lebensmitteln versorgten. Wie diese Flugzeuge zu ihrem phantasievollen Namen gekommen sind, weiß man nicht mehr genau. Vielleicht wollten die Berliner ihre schlimmen Erinnerungen an die todbringenden Bombennächte des Krieges vergessen, vielleicht war es die Schlagzeile eines einfallsreichen Journalisten, oder es lag an folgender Begebenheit: Leutnant Gail Halvorson, »ein bescheidener Mormone aus Provo, Utah«, kam zu besonderem Ruhm, »als er als erster Pilot - andere folgten seinem Beispiel - Süßigkeiten für Westberliner Kinder abwarf. Er machte aus Taschentüchern Miniaturfallschirme, band Süßigkeiten oder Schokoladetafeln daran und ließ das


Schirmchen aus der Signalluke der C 54 niederschweben.« 1)
     Eines steht fest, so harmlos, wie die Bezeichnung »Rosinenbomber« vermuten läßt, war die westalliierte Luftbrücken-Aktion keineswegs. Es handelte sich um den ersten gefahrenträchtigen Höhepunkt des Kalten Kriegs zwischen Ost und West, bei dem die Frage von Krieg oder Frieden auf des Messers Schneide stand.
     Drei Jahre nach dem gemeinsamen Sieg über Hitlerdeutschland standen sich die Verbündeten von damals als erbitterte Feinde gegenüber. Ihr Zerwürfnis hatte fatale Folgen für die Viersektorenstadt Berlin. Als die drei Westmächte 1948, sich am Ende des Weges von Potsdam sehend, die Errichtung eines westdeutschen Staates mit einer Währungsreform einleiteten und in letzter Minute auch Westberlin in sie einbezogen, fühlte sich die Sowjetunion provoziert. Sie ordnete zum Schutz der notwendig gewordenen Währungsreform für die SBZ am 19. Juni 1948 die Sperrung der Verkehrsverbindungen zwischen den Westzonen und Westberlin zu Lande und zu Wasser an. Damit begann, was als »Berliner Blockade« in die Geschichte einging. Stalins Absicht war es, entweder die Westmächte zur Einhaltung der für die Durchsetzung seiner Deutschlandpolitik vorteilhaften Potsdamer Beschlüsse zu verpflichten oder sie zum Abzug aus Westberlin zu zwingen.
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Die Amerikaner erwogen zeitweise einen Rückzug, doch der harte Standpunkt des US-Militärgouverneurs in Deutschland, General Lucius D. Clay, setzte sich durch. In mehreren Telegrammen nach Washington beschwor er ein »Festbleiben« in Berlin, sonst wäre ganz Westeuropa der »roten Flut« aus dem Osten schutzlos ausgeliefert. In den kritischen Tagen Ende Juni/Anfang Juli 1948 wollte Clay mit einem Panzerkonvoi den Weg nach Westberlin »freischießen«, was höchstwahrscheinlich Krieg bedeutet hätte. Die US-Regierung verwarf diesen abenteuerlichen Plan und empfahl, die von sowjetischer Kontrolle freien Luftverbindungen zwischen den Westzonen und Westberlin zur Abwehr der sowjetischen Blockade zu nutzen.
     Der Beginn der nun folgenden Luftbrücke ist von Politikern, Journalisten und Historikern in nimmermüder Dramatik geschildert worden. Nach dieser Legende hätte ein völlig überraschter General Clay zum Telefonhörer gegriffen und Hilferufe ausgesandt; er sei in Ernst Reuter, den er zu gleicher Stunde als Sprecher der Berliner zu sich bestellte, gedrungen, die Bevölkerung zum »Freiheitskampf« zu mobilisieren.
     Auf die Sperrung der Verbindungswege zwischen Westberlin und den Westzonen waren die Westmächte seit Frühjahr 1948 vorbereitet. Nach dem Ende des Alliierten Kontrollrates am 20. März 1948 hinderten die Sowjets Anfang April in Marienborn westalliierte Militärzüge tagelang an der Weiterfahrt nach Berlin.
Die Anglo-Amerikaner organisierten daraufhin als »kleine Luftbrücke« deklarierte Versorgungsflüge und deuteten damit an, wie sie auf künftige sowjetische Verkehrssperren antworten wollten. Daß die Sowjets ihre Sperrmaßnahmen vom Juni/Juli 1948 nicht auf die 1945 vereinbarten drei Luftkorridore ausdehnten, hing mit technischer Unausführbarkeit zusammen. Doch kann man sehr wohl davon ausgehen, daß eine totale Abschnürung der Westsektoren Berlins nicht in den Intentionen des Kremls lag. Stalin wollte zwar Macht demonstrieren, aber keinen Krieg riskieren.
     Am 24. Juni 1948 traten die sowjetischen Sperrmaßnahmen mit der Unterbrechung des Landverkehrs nach Westen und mit der Abschaltung der Elektrizitätsversorgung Westberlins in Kraft.
     Die Westalliierten blieben zunächst gelassen, in der Annahme, dies sei nur vorübergehend. Nachdem General Clay in Washington kein grünes Licht für einen bewaffneten Durchbruch zu Lande erhalten hatte, forderte er am 25. Juni bei General Curtis LeMay, Kommandeur der US-Luftstreitkräfte in Europa, die Entsendung sämtlicher verfügbaren Flugzeuge nach Westberlin an. Am nächsten Tag brachten US-Flugzeuge rund 80 Tonnen ausschließlich für die eigene Garnison, die Briten flogen 8,5 Tonnen ein. In den Folgetagen zogen die USA Maschinen aus Nordamerika und von Stützpunkten auf Hawaii und den Azoren in ihrer Besatzungszone zur »Operation Vittles« zusammen.
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Die Briten starteten ihre »Operation Planefair« am 28. Juni. Die Franzosen, die eine offene Konfrontation mit den Sowjets in Berlin nicht wünschten, begnügten sich mit einer Zustimmung, weil alle ihre Flugzeuge im Indochina-Krieg eingesetzt seien.
     Die Sowjets wagten es nicht, den intensiven Flugbetrieb in den Luftkorridoren von und nach Berlin zu stören. Sie machten auch sonst keine aggressiven Anstalten. Die USA-Regierung entschied daher Anfang Juli 1948, die Luftbrücke zur Hauptantwort auf die Politik Moskaus zu machen. Als Ende Juli 1948 General William H. Tunner, der damals erfahrenste Experte in Sachen Lufttransporte, nach Deutschland kam, »fing die Luftbrücke - wie die Militärs sagen - wirklich zu rauschen an«. 2) General Clay, der sich in seinen 1950 erschienenen Memoiren zum »Vater der Luftbrücke« ernannte, war damit die Angelegenheit aus der Hand genommen worden.
     Ende Juni 1948 fanden in Berlin viele politische Kundgebungen und Versammlungen zur Währungsreform statt. Das Thema »Blockade« spielte noch keine Rolle, den Begriff »Luftbrücke« kannte noch keiner. Beides wurde von Politikern und Presseleuten erst im Juli 1948 - dann aber mit erheblichem Propagandaaufwand - ins öffentliche Bewußtsein getragen. Erst jetzt, als auch die Vorräte aufgebraucht waren, begriff die Bevölkerung in den Westsektoren, daß sie versorgungsmäßig von den Westzonen abgetrennt war und einer düsteren Zukunft entgegensah.
Der damalige amtierende Oberbürgermeister Dr. Ferdinand Friedensburg (CDU) bezifferte den täglichen Grundbedarf Westberlins mit ca. 25 000 Tonnen, davon mindestens 3 000 Tonnen zur täglichen Sicherung des Minimums an Ernährung. Die Luftbrücke erbrachte dies in keiner Weise, ihre Transportleistungen lagen zwischen 4 000 und 6 000 Tonnen pro Tag. Die sogenannte Leistungsprobe vom 16. April 1949 stellte mit 12 849 Tonnen eine einsame Spitze dar. Je näher der Winter heranrückte, desto besorgter wurden die Gesichter. Als Friedensburg aus der Not heraus mit sowjetzonalen Behörden über die Lieferung von Brennmaterialien sprechen wollte, bestellte ihn der britische Militärkommandant zu sich und drohte, »bebend vor Wut, mich wegen Ungehorsams umbringen zu lassen«. (»I shall kill you.«) 3)
     Der auf Berlin fokussierte Ost-West-Konflikt schlug direkt auf die Lebensbedingungen in der nun geteilten deutschen Hauptstadt durch. Die Sowjets, die eine »Aushungerung« der Westberliner nicht wollten, erkannten zu spät die Aussichtslosigkeit ihrer Sperrmaßnahmen. Sie boten Mitte Juli 1948 die Übernahme der Lebensmittelversorgung Westberlins mit über 100 000 Tonnen an.
     Doch Westmächte und Magistrat lehnten kategorisch ab. Der »Telegraf« vom 25. Juli 1948 schrieb die Verhaltensnorm vor: Man werde »geringere, aber wertvollere Nahrungsmittel in den Westsektoren lieber nehmen als im Ostsektor das mit Futtermitteln gemischte Brot.
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Vor allem aber werden die Berliner durch ihre Haltung beweisen, daß sie sich nicht mit einer Scheibe Brot und einigen Krümeln Zucker locken lassen, ihre Gesinnung zu verkaufen.«
     Man schätzte, daß rund 100 000 Westberliner ihre »mit Futtermitteln gestreckten« Lebensmittel im Ostsektor einkauften. Dieser Kreis sah sich vielfältigen Diffamierungen ausgesetzt. Es hieß: »Wenn du dir deine Lebensmittelkarten nicht hier holst, entziehst du dich indirekt der Blockade. Geh doch rüber, wenn du meinst, da lebt man besser.« 4)
     Im Spätsommer 1948, als sich die Speicher leerten und die Luftbrücke die Versorgungsleistung noch nicht voll erbrachte, zeichnete sich eine kritische Situation ab. Bis dahin waren über viele unkontrollierte Kanäle Lebensmittel in die Westsektoren gekommen. Auf Lkw und Fuhrwerken brachten Bauern trotz Hindernissen Gemüse und Kartoffeln und wurden als »Blockadebrecher« gefeiert. Mit Regionalzügen und S-Bahnen fuhren Tausende Westberliner zum »Ährenlesen«, »Kartoffelstoppeln« oder zu Tauschgeschäften ins Umland. Die brandenburgische Landesregierung schätzte die von Juli bis September 1948 nach Westberlin verbrachte Warenmenge auf rund 73 000 Tonnen Lebensmittel, darunter 37 000 Tonnen Gemüse, 30 000 Tonnen Kartoffeln, 3000 t Mehl und 2000 t Fleisch. Auch über die Wintermonate hielten Hamster- und Schiebergeschäfte an.
     Für die Westberliner begann ab Herbst 1948 eine harte Zeit der Not und Entbehrung. Oft gab es nur zwei Stunden Haushaltsstrom, meist in der Nacht. Auch Gas war streng rationiert. Viele Betriebe stellten die Arbeit ein, die Arbeitslosigkeit stieg sprunghaft an. Die Luftbrücke brachte keine Entlastung, obwohl täglich, ja stündlich die Flugzeuge Güter einflogen. Viele Westberliner ließen sich von Verwandten und Bekannten aus dem Osten versorgen. Einer erinnerte sich: »Meine Familie hat durch die Beziehungen zu den Verwandten innerhalb Ostberlins, in Pankow und Prenzlauer Berg, sowie in Potsdam überhaupt nur überleben können. In meiner Erinnerung lag die Grundlage unserer Ernährung in den Kontakten zu den Ostberliner Verwandten, die uns unterstützt haben. [...] Von ihnen holten wir regelmäßig Brennstoff und Lebensmittel. [...] Wir hätten für die ganze Familie mit etwa 40 Kilo Kohlen auskommen müssen, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Wie hätte man damit über einen ganzen Winter lang heizen können? Deshalb war für uns der Brennstoff aus dem Osten lebensnotwendig. Unsere Großmutter kam häufig rüber, vollgepackt mit Eßbarem und Holz.
     Natürlich war es generell heikel, weil jeder Gefahr lief, an der Grenze kontrolliert zu werden. Wenn es einen dann erwischte, wurde einem das ganze Zeug abgenommen. Trotzdem ist man immer wieder hin- und hergefahren, weil es unmöglich war, mit den zugeteilten Rationen zu überleben.« 5)
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Glücklicherweise war der Winter 1948/49 mild. Außer Nebeltagen gab es keine Behinderungen für die Luftbrücke. Die Flugzeuge, die täglich Tempelhof, Gatow und Tegel ansteuerten, brachten hauptsächlich Kohle, Industriegüter und letztlich Lebensmittel. Eigentlich hätte man sie »Kohlebomber« nennen müssen. Über die Hälfte der Luftfracht benötigte die rund 20 000 Mann starke Garnison der Westmächte. »Der Rest«, so der Politische Berater Clays, Robert Murphy,« ist für die Bedürfnisse der deutschen Bevölkerung bestimmt.« 6) Da blieb nicht viel übrig; »ganze 12 1/2 kg Kohle, dazu 3 Kasten Holz, konnten jedem Haushalt für den ganzen Winter zugeteilt werden, eine Menge, die nicht einmal ausreichte, um den Bedarf der auf Kohlenfeuerung eingestellten Küchen zu decken, geschweige denn die Öfen zu versorgen.« 7) Im Tiergarten, im Grunewald und in vielen Straßen wurden Bäume abgeholzt. In Reinickendorf grub man nach Braunkohle.
     Die Lebensmittellieferungen der Luftbrücke - insgesamt nur 27,9 Prozent der Totalfracht - bestanden vorwiegend aus Trockenkartoffeln, Trockenmilch, Eipulver, Dörrgemüse und Konserven. Da konnte man ohne Schwarzmarkt und Beziehungen zum Osten schwerlich überleben, selbst wenn die Lautsprecherwagen des RIAS zu westlicher Solidarität und zum Boykott der Sowjets aufriefen.
     Es zeigte sich, daß der Westen die Blockade Berlins (niemand sagte damals und danach Westberlin) zu einem guten Teil selbst gemacht hatte, indem er eine Verhandlungslösung fast ein Jahr lang ausschlug.
Als die vier Mächte zum 12. Mai 1949 ihre wechselseitig verhängten Sperrmaßnahmen nach 462 Tagen aufhoben, jubelten die Westberliner. Doch die Folgelasten der Luftbrücke mußten sie noch lange tragen.
     Die Luftbrücke, die bis Herbst 1949 weitergeführt wurde, blieb im Gedächtnis der Berliner als Ausdruck der klaren Absage an das sowjetische System, ihres mit Not und Entbehrung verbundenen Durchhaltewillens. So empfinden es noch immer viele, wenn sie die am Rande des Flughafens Tempelhof abgestellten »Rosinenbomber« betrachten.

Quellen:
1 Mark Arnold-Forster: Die Belagerung von Berlin. Von der Luftbrücke bis heute, Berlin-Frankfurt am Main 1980, S. 144
2 ebenda, S. 62 f.
3 Ferdinand Friedensburg: Es ging um Deutschlands Einheit. Rückschau eines Berliners auf die Jahre nach 1945, Berlin 1970, S. 242
4 Detlef R. Mittag/Detlef Schade: Die amerikanische Kaltwelle. Geschichten vom Überleben in der Nachkriegszeit, Berlin 1983, S. 234
5 Sylvia Conradt/Kirsten Heckmann-Janz: Berlin halb und halb. Von Frontstädtern, Grenzgängern und Mauerspechten. Berichte und Bilder, Frankfurt am Main 1990, S. 47 f.
6 Mark Arnold-Forster: a. a. O., S. 63
7 Ferdinand Friedensburg: a. a. O., S. 242

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/1996
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