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Heidemarie Näther
Eine rote Aristokratin

Lily Braun (1865-1916)

Am 2. Juli 1865 wird dem preußischen General Hans von Kretzschmar in Halberstadt eine Tochter geboren. Bis zum Alter von 25 Jahren führt Lily das leere, aber luxuriöse Leben einer jungen Frau ihrer Gesellschaftsklasse. Ausritte, Picknicks und ländliche Feste füllen die Sommermonate. Besuche, Diners und Wohltätigkeitsveranstaltungen folgen im Winter. Auf glänzenden Bällen ist sie Mittelpunkt. Sie reitet, malt, handarbeitet, arrangiert Feste. Die 23jährige stellt in einem Brief an ihre Kusine fest: »Ich bin ... gesund an Geist und Körper, leistungsfähiger vielleicht als viele, und ich arbeite nicht nur nichts, ich lebe nicht einmal, sondern werde gelebt.« Lily wird auf eine standesgemäße Ehe vorbereitet. »Wir müssen sie unter die Haube bringen, solange sie hübsch ist«, meint ihr Onkel. Was hätte auch sonst aus ihr werden sollen: Gesellschafterin, Gouvernante, Hofdame oder eben Ehefrau. Es gibt keine anderen Möglichkeiten für adelige Töchter.
     Lily liest sehr viel, u. a. Goethe und Zola.



Lily Braun

Die Elendsschilderungen in »Germinal« jagen ihr »Schauer des Entsetzens über den Rücken« (Tagebucheintrag). Heimlich beschafft sie sich die Werke von Ibsen und erkennt sich in der Nora wieder. Im Sommer 1887 schreibt die 22jährige in ihr Tagebuch: »Irgend wie und wann werde ich handeln müssen wie Nora, viele Fesseln, - feine, die ich kaum fühlte, und grobe, die sich mir ins Fleisch schnitten, - umschnüren mich von klein an.

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Aber ich erkenne jetzt, daß ich jedes Jahr einige davon abstreife. Sollte ich nicht auch mit den letzten fertig werden?«
     Sie verliert ihre Fesseln auf unerwartete Weise. 1890 wird der Vater aus der Armee unehrenhaft entlassen. Sozialer Abstieg und Armut folgen. Möbel und Pferde werden verkauft, das Personal entlassen. Die Familie zieht in eine schlichte Wohnung im Berliner Westen. Lily von Kretzschmar schreibt Artikel und Aufsätze, ist kunstgewerblich tätig und arbeitet einige Zeit im Goethe-Archiv Weimar an einem Buch über die Weimarer Gesellschaft. Ein Auftrag des Großherzogs von Weimar, der mit den Kretzschmars verwandt ist.
     Bei einem Spaziergang im Zoologischen Garten in Berlin lernt Lily den Nationalökonomen Georg von Gizycki kennen, den Gründer der »Gesellschaft für ethische Kultur«. Gizycki ist ein schwerkranker Mann, der sich nur im Rollstuhl bewegen kann, aber seine geistige Regsamkeit beeindruckt Lily. Dieser Mann macht sie mit sozialistischen Theorien vertraut. Sie liest Marx und Engels und regelmäßig den »Vorwärts«, die von Wilhelm Liebknecht und Walter Hasenclever gegründete sozialdemokratische Tageszeitung. 1893 heiratet sie Gizycki. Unter seinem Einfluß erhält sie auch Zugang zur ethischen Kulturbewegung, einer idealistischen Strömung, deren Anhänger meinen, mit Einsicht und gutem Willen sei die Not aus der Welt zu verbannen.
Mit diesem emotionalen Idealismus einerseits und sozialdemokratischem Ideengut andererseits trifft Lily von Gizycki auf die radikalen Berliner Frauenrechtlerinnen, Vertreterinnen des linken Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung. Sie engagiert sich zunächst in dem von Minna Cauer angeführten »Verein Frauenwohl«, wird in den Vorstand gewählt und arbeitet an der Schriftleitung der neugegründeten Zeitschrift »Die Frauenbewegung« mit.
     Am 2. Dezember 1894 findet die erste von bürgerlichen Frauen einberufene öffentliche Volksversammlung statt. Im Konzertsaal in der Leipziger Straße 48 herrscht um 11.30 Uhr großer Andrang. Lily von Gizycki spricht über die »Bürgerpflicht der Frauen«. Ihre Rede ist ein flammender Appell an die Frauen und ihre Verantwortlichkeit für Staat, Gemeinde und das soziale Wohl.
     Als erste Bürgerliche fordert sie das Stimmrecht der Frauen. Bis dahin war es nur die SPD, die das Frauenstimmrecht in ihr Gothaer Programm von 1891 aufgenommen hatte. Den Hütern und Hüterinnen »echter Weiblichkeit« hält Lily von Gizycki entgegen: »Gegen die Frau auf dem Throne ist noch nie der Vorwurf der Unweiblichkeit erhoben worden, und die Rücksicht auf die Weiblichkeit hat noch keinen Mann gehindert, Frauen in die Steinbrüche und Bergwerke zu schicken. Ich kann freilich nicht einsehen, daß eine Frau, die ihren Zettel in die Wahlurne wirft, die Weiblichkeit mehr gefährdet, als eine andere, die Steine karrt.
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Und ich kann es nicht begreifen, daß der Anblick einer Frau mit dem Kinde unter dem Herzen im Wahllokal empörender sein soll, als der Anblick einer solchen Frau in den Bleifabriken.« 1)
     Ihre Rede erregt beträchtliches Aufsehen. Zeugen berichten von Beifallsstürmen, aber auch demonstrativer Ablehnung. Für einen Teil der bürgerlichen Frauen war der Tatbestand, daß ein politischer Gegenstand öffentlich verhandelt wurde, Grenzüberschreitung und Provokation zugleich. »Vielen Mitgliedern des Vereins Frauenwohl erschien diese Tat als bedenklich und gefährlich, so daß eine Anzahl deswegen ihre Mitgliedschaft aufgaben.« 2)
     1895 stirbt Georg von Gizycki. Lily verkauft seine umfangreiche Bibliothek, weil sie Geld braucht, und mietet eine kleine Zweizimmerwohnung. Ihren politischen Weg geht sie konsequent weiter. Sie wird 1896 Mitglied der SPD. Im deutschen Kaiserreich verlangt das Mut von einer Frau ihrer Herkunft.
     Für ihre Familie ist sie endgültig in das Lager der Feinde übergelaufen. Von der Presse wird dieser Schritt hämisch kommentiert: »Die Sozialdemokratie kann sich ob dieser ebenso interessanten wie pikanten Akquisition ins Fäustchen lachen.« Lily von Gizycki will jetzt die Probleme erwerbstätiger Frauen untersuchen. Bebel verweist sie an Clara Zetkin.
Diese ist bereit zur Unterstützung und bietet der neuen Genossin an, Mitherausgeberin der »Gleichheit« zu werden, der Zeitschrift für die sozialdemokratische Frauenbewegung. Clara Zetkin empfiehlt ihr auch, Heinrich Braun für ihre Arbeit zu interessieren. Der 1854 geborene Sozialpolitiker ist Herausgeber des »Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik«, der »Neuen Gesellschaft« und anderer Publikationen, ein Anhänger von Eduard Bernstein.
     Bald verbindet die beiden mehr als nur Parteiarbeit, sie heiraten 1896. Die Ehe bietet reichlich Stoff für Tratsch und Klatsch, ein zweimal geschiedener Mann und eine Aristokratin. Braun hatte zwei Söhne aus einer geschiedenen Ehe, und seine zweite Frau erwartete ein Kind, als er Lily kennenlernte. Die adlige Verwandtschaft Lilys, ihre Bekannten und so manche brave Genossin sind empört.
     Doch diese Frau läßt sich nicht beeinflussen, im Gegenteil, sie ist noch selbstbewußter geworden. Sie versucht, sich einen eigenen Wirkungskreis aufzubauen, sie will ein Informationsbüro für die Verbesserung der sozialen Lage der Frau einrichten und dafür eine Kooperation mit der bürgerlichen Frauenbewegung erreichen. Für Lily Braun bedeutet Emanzipation der Frau die Ausdehnung des weiblichen Einflusses innerhalb der Gesellschaft, an Klassenkampf denkt sie dabei weniger.
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     Clara Zetkin beobachtet mit äußerstem Mißtrauen ihre Aktivitäten. Mehr noch: Sie beschimpft Lily Braun als Revisionistin und überhäuft sie in der Öffentlichkeit mit Spott. Clara Zetkin, anerkannte Führerin der proletarischen Frauenbewegung, plädierte immer für eine »Reinliche Scheidung« zur bürgerlichen Frauenbewegung. Sie entwickelte 1889 auf dem Internationalen Arbeiterkongreß zum erstenmal ihre Anschauungen zur Frauenfrage, den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen der »Frauenfrage« und der »sozialen Frage«, zwischen der »Emanzipation der Frau« und der »Emanzipation der Arbeit vom Kapital«. Die Emanzipation der Frauen würde sich mit der Überwindung des Klassenstaates durch den Klassenkampf einstellen.
     Lily Brauns Kontakte zum linken Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung, ihr Plädoyer für eine Kooperation werden zurückgewiesen. Clara Zetkin kennt nur ein »Entweder - Oder«, kein »Und«, für sie ist Lily Braun eine bürgerliche Sozialreformerin.
     Die politisch engagierte Aristokratin wird den Frauen der Berliner Sozialdemokratie unbequem. Ihre Ambitionen einer »frauenrechtlichen« Zusammenarbeit stempeln sie zur Abweichlerin, zur Grenzgängerin zwischen den Fronten.
     Auch in ihrer Ehe gibt es jetzt Schwierigkeiten. Geldsorgen verstärken sich, die Familie lebt über ihre Verhältnisse. Die Geburt des Sohnes Otto bringt neue Probleme.
Lily Braun fühlt sich hin- und hergeworfen zwischen Kind, Schriftstellerei und Politik. Ihr Mann hält ihr vor, sie habe nicht wirtschaften gelernt und sei keine gute Hausfrau. Die Ehe vertreibt die Liebe, klagt sie und gibt Clara Zetkin in einem Punkt recht: »Die ökonomische Selbständigkeit des Weibes ist die glückliche Voraussetzung einer glücklichen Verbindung der Geschlechter, sie hilft so manche andere Klippe der Ehe umschiffen.« (Zetkin in einem Artikel der »Gleichheit«)
     Lily Braun schreibt Artikel für Zeitungen und Zeitschriften, um Geld heranzuschaffen, und sie arbeitet an einem Buch. »Die Frauenfrage, ihre geschichtliche Entwicklung und wirtschaftliche Seite« erscheint 1901 im Hirzel Verlag Leipzig und wird ein Standardwerk der Frauenbewegung. Clara Zetkin verreißt das Buch und kündigt Lily Braun die Mitherausgabe der »Gleichheit«.
     Lily Braun schlägt zurück, sie nennt Clara Zetkin eine Fanatikerin und attackiert später in ihren Memoiren diejenigen, die Marx stets im Munde führen, ihm aber nicht folgen. Denn, so vermerkt sie: »Es war die befreiendste Lehre, die Marx hinterließ, daß - da >alles fließt< - auch die Theorien sich entwickeln müssen, entsprechend den Wandlungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. In diesem Sinne war der Revisionismus marxistisch und der Radikalismus reaktionär.« 3)
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     Lily Braun bleibt eine Außenseiterin, in ihrer Gesellschaftsklasse nicht mehr zu Hause, von den Genossinnen abgelehnt. Noch 1901 wird sie aus der Berliner Frauenorganisation ausgeschlossen. Dieser Beschluß wird zwar später rückgängig gemacht, aber Lily Braun zieht sich zurück.
     Sie nimmt weiterhin an Parteitagen und Frauenkonferenzen teil, setzt sich in Wahlkämpfen ein, aber widmet sich mehr und mehr schriftstellerischen Arbeiten. Gesundheitlich geht es ihr nicht besonders gut.
     Mit ihrem Mann hat sie sich auseinandergelebt. Freude bringt ihr der begabte, Gedichte schreibende Sohn. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldet sich der 17jährige freiwillig. Er fällt 1918. Die Mutter erlebt es nicht mehr. Sie stirbt 1916 nach einem Schlaganfall, erst 51 Jahre alt.
     »Die Frauenfrage«, diese umfassende historische und aktuelle Untersuchung der Frauensituation, bleibt ein Hauptwerk in der Frauenbewegung.
     1909 bis 1911 erscheint in mehreren Auflagen »Memoiren einer Sozialistin«. Dieser romanhafte, kaum verschlüsselte Lebensrückblick aus Liebesgeschichten, Schilderungen der großen Welt, politischen Bekenntnissen und Abrechnungen mit Gegnern wird ein Bestseller und spiegelt das Schicksal einer außergewöhnlichen Frau.
     Im Bezirk Hellersdorf trägt eine Straße ihren Namen.
Quellen:
1 Lily Braun: Die Bürgerpflicht der Frau, Berlin 1895, S. 17-18
2 Minna Cauer: 25 Jahre Frauenwohl, 1894, S. 12
3 Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin, 1911

Bildquelle: Archiv Ullstein

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/1996
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