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Kurt Wernicke
Ruf nach Arbeit vor 130 Jahren

Im späten Frühjahr 1866 machte sich auch in Berlin eine seit 1847 immer wieder im Abstand von etwa zehn Jahren von England ausgehende und dann West- und Mitteleuropa in ihren Griff nehmende Wirtschaftskrise bemerkbar. Sie betraf zwar in erster Linie die Industrie, aber die daraufhin einsetzenden Schwankungen auf dem Geldmarkt schlugen sehr schnell auf die Bautätigkeit zurück:
     War die Zahl der jährlich neuerbauten Wohnhäuser in Berlin von 1860 bis 1862 von 791 rasant auf 1655 gestiegen, so sank sie danach in geringem Umfang bis 1865 zwar wieder ab, lag aber in letzterem Jahr mit 1 228 Wohnbauten noch in einer Höhe, die das Baugewerbe zu einem florierenden Erwerbszweig machte. 1866 dagegen verringerte sich diese Zahl auf ganze 752. Folgerichtig war dann auch bei insgesamt ca. 10 000 Arbeitslosen in Berlin Mitte Mai die Arbeitslosigkeit im Baugewerbe prozentual besonders hoch.
     Da setzte nun die Verwendung von in der Provinz angeworbenen Bauarbeitern an


öffentlichen Bauvorhaben bei in Berlin ansässigen Maurern, Putzern und Zimmerleuten eine Welle des Ärgers in Bewegung.
     Daß die in Staatsauftrag gebaute Ostbahn - die Berlin endlich auf kürzestem Wege direkt mit Ostpreußen verbinden würde - auch in unmittelbarer Nähe Berlins auf ihrem letzten Teilstück nach Küstrin von pommerschen und posenschen Gleisarbeitern verlegt wurde,


Zeichnung von Wilhelm Scholz, 1857
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mochte vor den Augen Berliner Bauhandwerker noch hingehen; das war schließlich keine qualifizierte Arbeit, und sie wurde dementsprechend auch nicht gerade fürstlich bezahlt. Aber daß der nun in Angriff genommene bombastische Kopfbahnhof der Ostbahn am Küstriner Platz (heute: Franz-Mehring-Platz) mit seinen bis dahin in Berlin bei einem Bahnhof nicht gekannten Ausmaßen von 7,5 Quadratkilometern von auswärtigen Bauarbeitern errichtet wurde, ging dann doch zu weit, wenn Berliner des gleichen Metiers arbeitslos auf der Straße lagen!
     Am Freitag, dem 25. Mai 1866, fanden sich schon am frühen Morgen etwa 400 bis 500 Bauarbeiter in der dem Bauplatz benachbarten Rüdersdorfer Straße vor jenem Haus ein, in dem die Bauleiter des Bahnhofsbaus - die Bauräte Cuno und Geiseler - ihr Quartier genommen hatten. Es mag kein allzu friedlicher Anblick gewesen sein. Die Demonstranten trugen in ihrer übergroßen Mehrzahl Spaten über der Schulter - einerseits ein Zeichen für Arbeitswilligkeit, aber andererseits auch als versteckte Drohung aufzufassen, denn Richtmaß, Putzerhammer und Mörtelkelle mochten Bauarbeitern als Arbeitsinstrumente eher zuzuordnen sein.
     Die Demonstranten verlangten lautstark Anstellung beim Bahnhofsbau. Nicht ganz ohne Grund wurde ihnen von den Verantwortlichen
erklärt, man könne ja wohl angesichts bestehender Arbeitskontrakte kaum die gegenwärtig dort Beschäftigten wegjagen. Dagegen wurde argumentiert, daß die Petenten durch die Bank Einwohner Berlins seien, die durch die Zeitumstände ihre Arbeit verloren hätten und nun wohl erwarten könnten, daß sie die ersten wären, die bei Bauvorhaben in ihrer Stadt vor den Ortsfremden eingestellt würden - andernfalls fielen sie ja mit ihren Familien den städtischen Wohlfahrtseinrichtungen zur Last!
     Das Argument klang zwar überzeugend, jedoch es traf nicht die finanziellen Zuständigkeiten zwischen Staat und Kommune; denn die Ostbahn finanzierte der preußische Staat, und ihm galten die Rechte aller Staatsbürger gleich - die Versorgung von Berliner Armen und Arbeitslosen aber oblag der Stadtverwaltung, die ihrerseits keinen Einfluß auf die Vergabe von Arbeitsplätzen beim Bau der Ostbahn hatte.
     Dennoch bewog das energische Auftreten der arbeitslosen Demonstranten, daß ihnen zugesagt wurde, von der kommenden Woche an sollten ihre Wünsche berücksichtigt werden: Offensichtlich wurden die Arbeitskontrakte nur von Woche zu Woche abgeschlossen, und die auswärtigen Bauarbeiter konnten ohne große Schwierigkeiten innerhalb einer Wochenfrist entlassen werden;
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oder der Umfang des Bauvorhabens - für Herbst 1867 war die Betriebsaufnahme für den Ostbahnhof vorgesehen - ließ auch die Annahme weiterer Bauarbeiter zu ... Die Demonstranten zogen daraufhin ruhig ab.
     Aber die zugesagten Arbeitsplätze fielen in der folgenden Woche vielleicht nicht in der erwünschten Anzahl an - oder der Erfolg der Aktion in der Rüdersdorfer Straße motivierte andere Arbeitslose zu ähnlichem Tun. Denn am Montag, dem 4. Juni, versammelten sich vormittags am Frankfurter Tor (also wieder in der Nähe des Küstriner Platzes; das Frankfurter Tor lag bis 1867 ca. 800 Meter westlich jener Stelle, die heute im allgemeinen als »Frankfurter Tor« angesehen wird) erneut an die 400 Arbeiter - diesmal mit der laut geäußerten Absicht, zum Oberbürgermeister Seydel zu ziehen, um von ihm (also vom Magistrat!) Arbeit zu verlangen.
     Der Zug setzte sich auch in Bewegung, löste sich jedoch schon vor Erreichen seines Zieles - dem Roten Rathaus, das trotz ausstehender Fertigstellung schon seit Juni 1865 dem Magistrat als Amtssitz diente - wieder auf. Dazu mag beigetragen haben, daß den Demonstranten unterwegs zu Ohren kam, Polizei zu Fuß und zu Pferde habe einen am gleichen Vormittag in der Königstraße (heute: Rathausstraße) vor dem Rathaus demonstrierenden Trupp mit Spaten ausgerüsteter Arbeitsloser in Stärke von etwa 200 Mann, der »Arbeit! Arbeit!« skandiert hatte, aufgelöst.
     Ob das Zusammenfallen beider Demonstrationen zufällig war? Man möchte es kaum annehmen, war doch am Vormittag des 4. Juni eine weitere Ansammlung Arbeitsloser am Brandenburger Tor festgestellt worden.
     Die folgenden Tage brachten dann eine gewisse Entspannung auf dem Arbeitsmarkt, denn die in der ersten Mai-Dekade im Vorfeld des von Bismarck kalten Bluts provozierten deutsch-deutschen Krieges von 1866 verkündete Mobilmachung rief seit Anfang Juni zahlreiche Männer als Reservisten zu den preußischen Fahnen - egal, ob sie in Arbeit standen oder arbeitslos waren. Allerdings haben wohl die wenigsten Arbeitslosen in solcherart Ausweg aus einer Krise auf dem Arbeitsmarkt eine dauerhafte probate Lösung sehen können.

Quellen:
- Berliner Gerichts-Zeitung, Mai/Juni 1866
- Schultheß' Europäischer Geschichtskalender 1866
- Berliner Stadt- und Gemeindekalender und Städtisches Jahrbuch (Berliner Statistisches Jahrbuch, 1. Jg./1867; 2. Jg./1868)
- Berlin und seine Bauten, Berlin 1877

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/1996
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