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Annette Vogt
Karl Weierstraß wird berufen

Als im Sommer 1856 der Mathematiker Karl Weierstraß (1815-1897) nach Berlin berufen wurde, begann eine Ära der Mathematikentwicklung, die Berlin für Jahrzehnte zu einem »Mekka« für Mathematiker aus Europa und Amerika werden ließ. Noch in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts und auch nach 1946 fühlten sich Berlins Mathematiker dieser Tradition verpflichtet, und der »Karl-Weierstraß-Hörsaal« im Hauptgebäude der Humboldt-Universität erinnert noch heute Studenten und Besucher an diesen Gelehrten.
     Vier Mathematiker kamen 1855/56 hierher und prägten über 20 Jahre das wissenschaftliche Leben der Stadt und darüber hinaus: Ernst Eduard Kummer (1810-1893), Leopold Kronecker (1823-1891), Carl Wilhelm Borchardt (1817-1880) und Karl Theodor Wilhelm Weierstraß. Sie waren überdies jahrelang miteinander befreundet, besonders die fast gleichaltrigen Borchardt und Weierstraß. Alle vier Mathematiker waren Mitglieder der Berliner Akademie der Wissenschaften und besaßen damit auch das Recht, Vorlesungen an der 1810 gegründeten Universität zu halten.


Weierstraß wurde mit Hilfe Alexander von Humboldts nach Berlin berufen, und er war der letzte deutsche Mathematiker, den Humboldt unterstützen konnte. 1) Er erhielt im Sommer 1856 den Titel eines Professors und die erste mathematische Lehrerstelle am Berliner Gewerbeinstitut mit 1 500 Talern Jahresgehalt (auch Kummer erhielt 1 500 Taler, obwohl er als ordentlicher Professor an der Universität lehrte, was einen höheren Status bedeutete). Am 19. November 1856 erfolgte seine Wahl zum ordentlichen Mitglied der Akademie. Die Berliner Gewerbeakademie bzw. das Gewerbeinstitut - beide Namen waren gebräuchlich - war 1821 gegründet worden und bildete im wesentlichen künftige Ingenieure aus. Zusammen mit der bereits 1799 gebildeten Bauakademie entstand daraus die Technische Hochschule Berlin-Charlottenburg, die am 1. April 1879 den Betrieb aufnahm und 1946 die Technische Universität wurde. Immer lehrten hier auch hervorragende Mathematiker.
     Das Besondere an der Berufung Weierstraß' war, daß er ein Jahr zuvor den meisten Mathematikern noch gänzlich unbekannt war. Er hatte zunächst in Bonn Kameralistik (Volkswirtschafts- und Verwaltungslehre) studiert (dieses Studium bildete die Voraussetzung für eine Beamtenlaufbahn in Preußen), gab es aber nach acht Semestern auf, um sich der Mathematik zu widmen.
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1839 ging er nach Münster, studierte bei Christoph Gudermann (1798-1852) und legte bereits 1840 eine Prüfungsarbeit vor, die von Gudermann äußerst lobend beurteilt wurde. Gudermann betonte: »Für ihn selbst und die Wissenschaft, ist es aber garnicht zu wünschen, daß er Gymnasiallehrer werde, sondern daß günstige Umstände es dereinst ihm gestatten möchten, als akademischer Dozent zu fungieren.« 2)
     Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Weierstraß blieb von 1842 bis 1855 Gymnasiallehrer und überdies in abgelegenen Gegenden, von 1842 bis 1848 in Deutsch-Krone (Westpreußen), danach in Braunsberg (Ostpreußen), er mußte teilweise 30 Stunden wöchentlich Unterricht erteilen, neben Mathematik und Physik auch in Fächern wie Deutsch, Botanik, Geographie, Geschichte, Turnen und Schönschreiben.
     Die Abgeschiedenheit in der Provinz beklagte er später vor allem, weil er keinen Zugang zur mathematischen Welt hatte: Es fehlten die Partner für wissenschaftliche Gespräche, Zeitschriften, eine ordentliche mathematische Bibliothek - kurz, alle Voraussetzungen für produktives Arbeiten. Selbst einen regelmäßigen Briefwechsel mit Gelehrten konnte er sich aus finanziellen Gründen nicht leisten.
     Aber er ließ sich nicht beirren und arbeitete jede freie Zeit an mathematischen Problemen, bis er den Mut fand, seine Abhandlung »Zur Theorie der Abelschen Funktionen« zu veröffentlichen.


Karl Weierstraß

Die Reaktionen der Fachwelt waren für ihn überraschend und erfreulich. Er erhielt 1854 die Ehrenpromotion der Universität Königsberg, Borchardt aus Berlin besuchte ihn, er wurde zum Oberlehrer befördert und erhielt für das Schuljahr 1855/56 Urlaub zur Fortsetzung seiner Forschungen. Schließlich erhielt er die Professorenstelle in Berlin und wurde Akademiemitglied! Als 1856 zwei weitere Publikationen erschienen, hatte er in Berlin Fuß gefaßt und rückte schnell in die Reihe der bedeutendsten Mathematiker auf.

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     Bald genoß er uneingeschränkte Autorität und begründete an der Universität, wo er 1856 eine außerordentliche und 1864 eine ordentliche Professur erhielt, eine Mathematiker-Schule, aus der viele Jahre fast alle Professoren deutscher Universitäten sowie viele Professoren anderer Länder, darunter Rußlands, kamen. Sein 70. und sein 80. Geburtstag waren Glanzpunkte, die den Erfolg seiner Lehrtätigkeit bekundeten. Er wurde hochgeehrt, von seinen Schülern gar geliebt. Berühmt wurde seine Schülerin Sof'ja (Sonja) Vasil'evna Kovalevskaja (1850-1891), die russische Mathematikerin, die als erste Frau eine Professur erhielt - jedoch in Stockholm. In Berlin durfte sie die Universität als Frau nicht betreten, so gab ihr Weierstraß Privatunterricht. Als Gast zu seinen Geburtstagsfeiern erhielt Frau Professor dann die Genehmigung zum Betreten des Gebäudes.
     Weierstraß gilt heute - neben Bernhard Riemann (1826-1866) - als Begründer der modernen Funktionentheorie.
     In Berlin erinnert neben dem Hörsaal in der Universität auch ein Institut an diesen bedeutenden Mathematiker und begabten Pädagogen: Am 24. Mai 1985 erhielt das damalige Institut für Mathematik der Akademie der Wissenschaften der DDR den Namen »Karl-Weierstraß-Institut«. Das Institut konnte nach erfolgter Evaluierung und Verkleinerung bis jetzt seine Arbeit unter neuer Trägerschaft fortsetzen.
     Der Name Weierstraß steht in der Mathematik für Strenge in der Beweisführung und beim Aufbau mathematischer Theorien, aber auch für Güte, Anteilnahme und große Hilfsbereitschaft seinen Schülern gegenüber.

Quellen:
1Vgl. Kurt-R. Biermann: Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität. 1810-1933, Berlin, Akademie-Verlag, 1988, S. 83
2Zitiert in: G. Mittag-Leffler: Die ersten 40 Jahre des Lebens von Weierstraß, In: Acta Mathematica, Bd. 39, 1923, S. 21 f.

Bildquelle: Archiv Autorin

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/1996
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