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Horst Wagner
Der »fliegende Mann« von Lichterfelde

In diesem Sommer gibt es zweifachen Anlaß, des Flugpioniers Otto Lilienthal zu gedenken. Vor 105 Jahren, im Juni/Juli 1891, gelangen ihm am Windmühlenberg nahe des Dorfes Derwitz bei Potsdam seine ersten Gleitflüge. Vor 100 Jahren, am 9. August 1896, ist er in den Rhinower Bergen nördlich von Rathenow beim Absturz seines Flugapparates so schwer verletzt worden, daß er tags darauf starb.
     In Berlin, wo Otto Lilienthal die meisten Jahre seines Lebens gewohnt und gewirkt hat, erinnert vor allem der in Lichterfelde gelegene, mit den Buslinien 180 oder 280 bis zur gleichnamigen Haltestelle bequem zu erreichende Lilienthalpark an ihn, wo am 10. August 1932 das Lilienthal-Denkmal in seiner heutigen Form eingeweiht wurde. Inmitten der Anlage der 15 Meter hohe »Fliegeberg«. Auf seiner Spitze unter einem offenen Runddach der Gedenkstein mit der Weltkugel. Diesen von ihm so genannten Fliegeberg hatte Lilienthal im Frühsommer 1894 aus dem Abraum der nahe gelegenen Heinersdorfer Ziegelei aufschütten lassen, um hier - nur zwei Kilometer von seinem Wohnhaus in der Boothstraße 17 entfernt - Flugversuche zu unternehmen.



Otto Lilienthal

Auf der Spitze des Berges befand sich damals ein Schuppen, in dem mehrere Flugapparate zusammengefaltet Platz hatten. Das Schuppendach war mit Rasen und einer Steinplatte belegt, die Lilienthal als Anlauf- und Absprungfläche dienten. Von hier aus wurden Flugweiten von 50 bis 60 Meter erreicht. Ottos Schwägerin Anna Lilienthal schrieb darüber in ihren Erinnerungen: »Der Fliegeberg wurde ein beliebter Ausflugsort. Des Sonntags kamen sie (die Berliner - H. W.) mit Kind und Kegel heraus und schlugen ihr Lager am Fuße des Berges auf.

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Der >fliegende Mann< wurde bei seinem Erscheinen mit lautem Hallo begrüßt, nach seinem Abflug mit Beifall oder abfälligen Bemerkungen bedacht, je nach Länge oder Kürze der Flüge.« Otto Lilienthal, am 23. Mai 1848 in Anklam geboren, hatte schon als Kind gemeinsam mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Gustav aufmerksam den Flug der Störche beobachtet und (freilich erfolglose) Flugversuche mit unter die Arme geschnallten Flügeln unternommen. Nach Abschluß der Mittleren Reife am Anklamer Gymnasium besuchte er 1864-1866 die Provinzialgewerbeschule in Potsdam, machte ein einjähriges Praktikum in der Berliner Maschinenfabrik Schwartzkopff und studierte 1867-1870 an der Gewerbeakademie in Charlottenburg (der Vorläuferin der heutigen TU) Maschinenbau. Nach seiner Militärdienstzeit und verschiedenen Anstellungsverhältnissen als Ingenieur eröffnete er 1881 seine eigene Fabrik, in der u. a. die von ihm erfundenen Schlangenrohr-Dampfkessel hergestellt wurden. 1889 erschien Lilienthals Hauptwerk »Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst«. Eine handschriftliche Notiz Lilienthals belegt einen Versuch am 1. Juli 1890 auf einem kleinen Hügel hinter der Lichterfelder Kadettenanstalt, der allerdings noch nicht das gewünschte Ergebnis brachte: »Es konnten mit der Flugmaschine nur Stehübungen gemacht werden. Ein Laufen gegen den Wind war unmöglich, weil es nicht gelang, das Gleichgewicht zu erhalten.« Um erst einmal windgeschützt zu trainieren, verlegte er die weiteren Versuche im Frühjahr 1891 in den Garten hinter seinem Lichterfelder Haus, wo er eine Art Sprungbrett aufstellte. »Der Apparat, dessen ich mich bediente, hatte die Gestalt ausgebreiteter Vogelflügel«, berichtete Otto Lilienthal in Heft 12/1891 der »Zeitschrift für Luftschiffahrt«. »Das Endresultat an dieser Versuchsstelle war ein sechs bis sieben Meter weiter Sprung von zwei Meter Höhe, wobei man beim Sprung selbst das Gefühl hatte, als ruhe der Körper in der Luft mit seinem Gewicht auf dem tragenden Apparat.«
     Nachdem Lilienthal in seinem Garten täglich bis zu 50 Luftsprünge trainiert hatte, lud er seinen Gleitapparat auf die Eisenbahn und das Fuhrwerk des Müllers Hermann Schwach aus Derwitz, um bei ihm auf dem Windmühlenberg weitere Versuche anzustellen, wobei nach Anbringen einer Art Höhenleitwerk Weiten bis zu 25 Meter erreicht wurden. Dabei entstanden auch die ersten Fotoaufnahmen des fliegenden Lilienthal.
     Ein näher zur Wohnung gelegenes Übungsgelände fand Lilienthal 1892 auf den Rauhen Bergen in Südende bei Lankwitz. Im Frühjahr 1893 errichtete er auf der Maihöhe in Steglitz eine »Fliegestation« in Gestalt eines turmartigen Schuppens.
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Im nächsten Jahr folgte der schon beschriebene »Fliegeberg« in Lichterfelde, auf dem Lilienthal nun alle seine Apparate ausprobierte, bevor er mit ihnen in die Rhinower Berge zog, um von dieser etwa 60 Meter hohen Hügelkette Gleitflüge bis zu 250 Meter Weite durchzuführen.
     »Segelapparate zur Übung des Kunstfluges fertigt die Maschinenfabrik von O. Lilienthal, Berlin SO 36, Köpenicker Straße 113«, hieß es im Frühjahr 1895 in einer Anzeige im »Taschenbuch für Flugtechniker und Luftschiffer«. Acht solcher Apparate hat der Flugzeugfabrikant Lilienthal verkauft, im April 1896 z. B. einen an den amerikanischen Zeitungsverleger William Randolph Hearst. Auch für seinen letzten Flug am 9. August 1896 hatte Otto Lilienthal einen potentiellen Kunden eingeladen: den jungen amerikanischen Physiker Robert W. Wood, der an der Berliner Universität wirkte. Aber aus irgendeinem Grunde war dieser nicht zum verabredeten Treff auf dem Lehrter Bahnhof gekommen.
So fuhr Lilienthal ohne ihn in die Rhinower Berge und begann dort, assistiert von seinem Gehilfen Beylich, gegen Mittag bei schönem Wetter mit den Versuchen. Beim zweiten Flug geriet Lilienthals Eindecker in eine heftige Bö, wurde emporgerissen und stürzte daraufhin senkrecht zu Boden. Durch den Aufprall wurde ein Halswirbel gebrochen. Lilienthal, am nächsten Morgen erst mit der Bahn ins Krankenhaus transportiert, verstarb am Abend des 10. August 1896 in Berlin. Ein Jahr zuvor hatte er in seiner Studie »Das Flugproblem« geschrieben: »Die Geschichte der Erfindungen lehrt, daß die Väter großer entwicklungsfähiger Ideen selten die Früchte ihrer Bemühungen ernten ... Welche Rolle nun das Fliegen in unserer Culturentwicklung spielen wird, ist heute noch nicht abzusehen. Vielleicht tritt durch dasselbe eine Umwälzung aller bestehenden Verhältnisse ein ...«

Bildquelle: Archiv LBV


Zeichnung aus Lilienthals Patentschrift »Flugapparat«
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/1996
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