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Günter Peters
Kleine Berliner Baugeschichte
Von der Stadtgründung bis zur Bundeshauptstadt

Stapp Verlag, Berlin 1995

Der Titel ist eine eindeutige Untertreibung - es handelt sich keineswegs um eine kleine Geschichte, sondern um eine ziemlich eindrucksvolle Arbeit, die eine bisher deutlich fühlbare Lücke in der Berlin-Geschichtsschreibung schließt: Hier liegt nicht weniger als ein neues Standardwerk vor! Denn bis dato wimmelt es zwar in der Fachliteratur von Untersuchungen zu einzelnen Baumeistern und deren Schulen, zu einzelnen Gebäuden und deren Ensembles (was auch der wirklich guten Quellenlage infolge der penibel geführten Bauakten zu danken ist), und selbst einige der ungezählten Projekte, die über Planung bzw. Entwurf nicht hinauskamen, sind ausführlich behandelt worden - eine umfassende Baugeschichte hat es aber noch nicht gegeben. Diesem Mißstand hilft nun Günter Peters ab, der schon 1987 aus einer Folge von 21 Beiträgen in der »Berliner Zeitung« eine Broschüre »Zur Baugeschichte Berlins« hervorgehen ließ, die nicht nur reißenden Absatz fand, sondern sich auch als praktische Grundkonzeption für eine umfassendere Darstellung des Themas anbot. Daß diese erst acht Jahre nach der Kurzfassung vorliegt, ist angesichts der seit 1987 gründlich veränderten Situation Berlins ein wahrer Segen, denn jetzt fallen natürlich alle jene politisch-intellektuellen Zwänge fort, die in Ost wie West Tabuzonen aufstellten, in denen grundsätzlich keine nüchterne Bewertung der anderen Seite erlaubt war.
     Nüchternheit als Maßstab für einen ausgewogenen Umgang mit den Leistungen der Architekten und Bauleute in beiden Hälften der geteilten Stadt

hebt das vorliegende Werk aus der großen Zahl von derzeit marktüberschwemmenden Resümees über Vorgänge zur Zeit der Teilung angenehm heraus. Das mag damit zusammenhängen, daß der Autor von 1965 bis 1980 Bezirksbaudirektor von Ostberlin war und selbst die Leitung etlicher Großbauvorhaben innehatte. Seine keinesfalls unkritische Sicht auf die Ostberliner Neubau-Leistungen zwischen 1950 und 1990 trübt ihm z. B. nicht den Blick dafür, daß der von modisch abgestimmter Journaille so hochmütig verteufelte Plattenbau eine Berliner Bautradition aufgriff, mit der schon in den 20er Jahren in der Bauwelt beträchtliches Aufsehen erregt wurde. (Um so verwunderlicher muß erscheinen, daß jene andere Experimentalbauweise - das Beton-Schüttverfahren - keine Erwähnung findet, die 1872-1875 in Rummelsburg in der »Victoriastadt« wohl weltweit erstmalig angewandt wurde.) Nach all den Journalisten- und Politiker-Abstrafungen zur schlechten Qualität Ostberliner Wohnungsneubauten rückt Peters die Verhältnismäßigkeit wieder zurecht durch seine Betrachtung über den »Pfusch am Bau«, der sich durch die gesamte Berliner Geschichte zieht und in der Zeit von Baubooms regelrecht kulminierte.
     Eine Gesamtschau auf rund 800 Jahre Berliner Baugeschichte kann sich natürlich nicht in erster Linie nur mit Zeitgeschichte ab 1945 und einem interessanten Ausblick auf anstehende architektonische Aufgaben befassen. Das Buch wendet sich auf der knappen Hälfte seiner Seiten den Leistungen und Fehlleistungen jener Bautätigkeit zu, die in z. T. riesigen Flächen-Wohngebieten unsere gegenwärtige Berliner Lebensumwelt erheblich mitbestimmen. Acht von zehn Kapiteln zeichnen die bauliche Entwicklung vom Mittelalter bis 1945 nach, und das nicht nur hinsichtlich der Wohn- und Funktionalbauten, sondern auch hinsichtlich des öffentlichen Raumes, der Bevölkerungsentwicklung und des Verkehrs: So legt Peters letztlich ein regelrechtes Kompendium zu den Grundzügen der Stadtentwicklung vor.
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Sehr tröstlich stimmt dabei die Erkenntnis, daß es schon immer so war, daß zunächst außerordentlich ernst genommene Stadtplanungen durch Sachzwänge erheblich modifiziert oder gar begraben werden mußten. Besonders dankbar muß der Leser dem Verfasser für seine übersichtlichen Tabellen sein, mit denen er am Schluß jedes Kapitels die städtebauliche Entwicklung im betreffenden Abschnitt zusammenfaßt.
     Von hervorragender Qualität ist auch die üppige Bebilderung des Bandes, und angesichts immer öfter anzutreffender Mängel auf diesem Gebiet gebührt dem Stapp Verlag Anerkennung für die Sorgfalt, mit der auf die Qualität der Illustrationen geachtet wurde. Die bewegende Zeichnung vom Einsturz des erst drei Wochen zuvor bezogenen Gewerbemietshauses Wasserthorstraße 27 in der Luisenstadt im Oktober 1865 (27 Tote, 14 Schwerverletzte!) aus der damaligen Leipziger »Illustrierten Zeitung« kennen allerdings offenbar weder Autor noch Verleger - man sucht sie vergeblich. Und leider ist (S. 121) durch die einfache Übernahme der Karte zur Entwicklung des Stadtgebiets zwischen 1600 und 1915 aus Ribbe/Schmädeke »Kleine Berlin-Geschichte« deren Geburtsfehler nun auch in Peters Werk gelangt: Es ist wirklich einmal an der Zeit, die nicht unterscheidbaren diversen Gelb-Töne in eine jedem Auge verständliche Farbgebung umzuwandeln und inzwischen auch die Sektorengrenze zu tilgen!
     Angesichts des rundum nur zu empfehlenden Buches möchte man über wenige kleine Ungenauigkeiten gern hinwegsehen. Daß aber (S. 136) die »Korporation der Kaufmannschaft Berlins« zur »Kooperation« mutiert ist, tut weh.
     Kurt Wernicke
Wolfgang Stresemann
Zeiten und Klänge.
Ein Leben zwischen Musik und Politik

Verlag Ullstein, Frankfurt/M.-Berlin 1994

In seinen bisherigen Erinnerungsbüchern hat Wolfgang Stresemann seinen Vater (»Mein Vater Gustav Stresemann«), den Dirigenten Herbert von Karajan (»Ein seltsamer Mann ...«) und andere große Dirigenten (»... und abends in die Philharmonie«) sowie politisch brisante Zeiten (»Wie konnte es geschehen? Hitlers Aufstieg in der Erinnerung eines Zeitgenossen«) porträtiert und charakterisiert. Jetzt, als 90jähriger, erzählt er sein eigenes Leben, das sich vor allem zwischen Deutschland und den USA abspielte und in dem Berlin einen zentralen Platz einnimmt.
     Stresemann gliedert sein Leben in vier große Abschnitte: die Kindheit, die Weimarer Republik, Amerika und Berlin. In den ersten beiden Lebensetappen dominiert verständlicherweise die Erinnerung an den Vater - und damit an die Politik dieser Zeit. Die beiden Bereiche Amerika und Berlin stehen dann viel mehr im Zeichen des eigenen, vor allem des eigenen musikalischen Lebens.
     Seine Kinderjahre verbrachte Wolfgang Stresemann in Dresden, wo er am 20. Juli 1904 geboren wurde, und - nach dem Umzug der Eltern 1910 - in Berlin. Vater Gustav Stresemann war 1907 als jüngster Abgeordneter - mit immerhin schon 28 Jahren - in den Reichstag gewählt worden und gewann schnell politischen Einfluß. Zwar verlor er 1912 sein Reichstagsmandat, kehrte jedoch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mit der Gründung einer eigenen Partei, der »Deutschen Volkspartei«, in die aktive Politik zurück. Nach 23 Mandaten 1919 erreichte die Partei 1920 68 Reichstagssitze.

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1923 wurde Gustav Stresemann für 103 Tage Reichskanzler, danach Außenminister und erhielt 1926 den Friedensnobelpreis. Am 3. Oktober 1929 starb er an einem Schlaganfall.
     Für Wolfgang Stresemann waren diese Jahre geprägt durch seine schulische Ausbildung am Mommsen-Gymnasium (Charlottenburg) und am Bismarck-Gymnasium (Wilmersdorf) sowie nach dem Abitur 1922 durch ein Jura-Studium an der Universität in Berlin und in Heidelberg. Für das Jurastudium hatte er sich entschieden, nachdem man ihn an der Berliner Musikhochschule nicht angenommen hatte.
     In den darauffolgenden Jahren half Wolfgang Stresemann seinem Vater bei dessen politischen Geschäften und nahm zugleich intensiven Anteil am kulturellen Leben Berlins, wobei sich seine Liebe zur Musik weiter ausprägte. Zwar promovierte er in Erlangen und legte auch sein Assessor-Examen ab, doch zeugen Kompositionen dieser Zeit - so eine 1925 uraufgeführte Sinfonie - von seinem Hauptinteresse.
     Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die Bewertungen des Autors zu den zwanziger Jahren. Er empfand sie »als faszinierend weniger wegen der Quantität und der nicht anzuzweifelnden Qualität der gebotenen kulturellen Leistungen als vielmehr wegen des heftigen Aufeinanderprallens althergebrachter Werte mit völlig neuen, konträren Strömungen, die, durch den Ersten Weltkrieg zeitweise gehemmt, sich nun kraftvoll ausbreitend auf energischen Widerstand stießen und dadurch jenen Jahren ein besonderes, vielleicht einer >Goldmedaille< würdiges Gepräge verliehen.« (S. 79)
     Amerika lernte Stresemann 1938 auf einer Reise kennen, bevor er nach der Emigration aus Deutschland 1939 mit seiner Mutter nach New York übersiedelte. Hier schloß er sich eng an den Dirigenten Bruno Walter an. Im Dezember 1945 eingebürgert, arbeitete Stresemann als Musikkritiker und erhielt 1949 in Toledo eine Stellung als Dirigent.
     1955 kehrte er nach Berlin zurück, wo er sich wieder zu Hause fühlte, da die Stadt trotz der gewaltigen Zerstörungen »ihre >meltingpot< (Schmelztiegel)-Eigenschaft - >Einmal Berliner, immer Berliner< - nicht eingebüßt hatte« (S. 260). Er wirkte als Intendant des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin (RSO) und wurde am 1. Oktober 1959 als Intendant des Philharmonischen Orchesters ernannt - eine Funktion, die er bis 1978 ausübte.
     Die Lebenserinnerungen Wolfgang Stresemanns gewinnen ihren besonderen Reiz einmal durch die beschriebene Zeit - faktisch das gesamte 20. Jahrhundert, von den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bis zu den ganz persönlichen Eindrücken am Tage der deutschen Wiedervereinigung 1990. Ihren hohen Informationsgehalt erhalten diese Erinnerungen durch die detaillierten Berichte und Bewertungen von Ereignissen und Persönlichkeiten des politischen und geistig-kulturellen Lebens. Ihre innere Spannung schließlich erreichen die Memoiren durch die ganz persönliche Erzählweise, die sparsam mit Belegen, ergänzenden Fußnoten und ähnlichem Apparat umgeht und doch stets den Eindruck unbedingter Authentizität vermittelt.
     Eberhard Fromm
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/1996
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