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Gerhard Keiderling
Der 1. Mai 1946 unter roten Fahnen

Unter diesem Titel veröffentlichte Roman Chwalek (1898-1974), Kommunist, leitender Funktionär im Einheitsverband der Eisenbahner Deutschlands, Mitglied des Deutschen Reichstages von 1930 bis 1933 und Mitbegründer des FDGB im Juni 1945, persönliche Erinnerungen an die erste freie Maidemonstration nach 12 Jahren NS-Diktatur. 1) So wie Chwalek empfanden ... Zigtausende diesen Tag als »eine der bewegendsten Begebenheiten« nach Kriegsende. Bevor man sich unter roten Fahnen und Spruchbändern versammelte, lagen Wochen großer Anstrengungen, um für diesen internationalen Feiertag der Arbeiterklasse organisatorisch und politisch zu rüsten.
     Die Vorbereitungen liefen im März 1946 an. Am 4. April 1946 konstituierte sich das Zentrale Maikomitee, dem u. a. Roman Chwalek, Karl Fugger, Ernst Lemmer, Karl Mewis, Alfred Netzeband, Erich Wendt und Hans Lautenschläger als Sekretär angehörten. 2) Es gab am gleichen Tag einen Aufruf mit Losungen für die demokratische Erneuerung und die Einheit Deutschlands, für gewerkschaftliche Rechte, internationale Verständigung und Sozialismus heraus. 3)

Nach Berliner Beispiel sollten in allen Orten und Betrieben Deutschlands Maikomitees zur Organisierung und Durchführung der Maikundgebungen geschaffen werden.
     Die zentrale Berliner Kundgebung sollte am 1. Mai, 12 Uhr, im Treptower Park stattfinden. Seit dem legendären »Wahlrechtsspaziergang« - eine Demonstration der SPD gegen das reaktionäre Dreiklassenwahlrecht war am 6. März 1910 gleichsam durch Mundpropaganda vom Treptower Park in den Tiergarten umdirigiert worden, so daß die berittene und mit Säbeln ausgerüstete Polizei im Park vergeblich auf Demonstranten wartete - genossen die Treptower Spielwiesen einen guten Ruf für Arbeitermeetings. Wie es die besatzungsrechtlichen Bestimmungen verlangten, stellte das Zentrale Maikomitee am 25. März 1946 einen Genehmigungsantrag bei der Alliierten Kommandantur der Stadt Berlin. Inzwischen kamen Anfragen, Wünsche und Forderungen von den Gewerkschaften und Parteien sowie von Betriebsbelegschaften, die Kundgebung in Anknüpfung an die Tradition in der Weimarer Republik im Lustgarten stattfinden zu lassen. Am 17. April 1946 reichte das Zentrale Maikomitee einen entsprechenden Änderungsantrag bei der Alliierten Kommandantur ein. Hier diskutierte man derweil recht kontrovers. Die sowjetische Seite setzte sich natürlich für die Durchführung der Maikundgebung in der vorgeschlagenen Form ein.
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Die westlichen Vertreter monierten aus »Sicherheitsgründen« einen Massenaufmarsch und wünschten auch die Mitführung von Fahnen der Alliierten. Die Briten verlangten die Abhaltung einer besonderen Kundgebung in Spandau wegen des zu weiten Anmarschweges bis Stadtmitte.
     Hinter solchen Formalien verbarg sich die Absicht, die Maidemonstration nicht zu einem einseitigen Triumph der gerade geschaffenen SED werden zu lassen. Die Alliierte Kommandantur genehmigte schließlich mit Befehl BK/0 (46) 177 vom 19. April 1946 die Maikundgebung des FDGB und der anerkannten politischen Parteien, »deren Tätigkeit nicht dem Verfahren der Besatzungsbehörden widerspricht«. Auf letzteres nahmen die Westmächte Bezug, als sie der SED eine Teilnahme an Maifeiern in ihren Sektoren verboten. Erst auf Anweisung des Koordinierungsausschusses des Alliierten Kontrollrats in Deutschland anerkannte die Alliierte Kommandantur mit BK/0 (46) 247 vom 31. Mai 1946 die SED als eine neben der SPD in ganz Berlin zugelassene Partei.

Mai-Tribüne und Aufmarschplan

Das Zentrale Maikomitee richtete Unterkomitees ein, um die anstehenden Aufgaben, die durch die Umverlegung der Kundgebung vom Treptower Park in den Lustgarten noch erschwert wurden, überhaupt bewältigen zu können.

Die Hauptlast trug das Organisationskomitee. Schon am 18. April begann es, das Material für eine Tribüne für rund 500 Ehrengäste zum Lustgarten zu bringen. Chwalek schrieb dazu: »Für die Längsseite an der Schloßruine vor dem Berliner Lustgarten wurde eine Tribüne benötigt. Auch hierfür fehlte es an allem. Es gab weder Holz noch Nägel. [...] Im Kampf bewährte Kommunisten, wie unser Genosse Max Rother, waren es, die uns dabei halfen.
     Als Betriebsratsvorsitzender eines Tempelhofer Baubetriebes spürte er >Schieberware< auf und errichtete mit Hilfe seiner Arbeitskollegen in freiwilliger Arbeit daraus und aus dem von der Sowjetarmee zur Verfügung gestellten Material eine mehr als 50 Meter lange Mai-Tribüne. Sie hat uns in den Jahren danach noch viele gute Dienste geleistet. Sorgsam wurde sie von den Berliner Arbeitern verwahrt und vor dem >Ausverkauf< auf dem Schwarzen Markt geschützt.« 4)
     Das Organisationskomitee erarbeitete einen Aufmarschplan. Ähnlich wie bei der Großkundgebung zu Ehren der Opfer des Faschismus am 9. September 1945 im Stadion Neukölln sollten sich in den Stadtbezirken die Kundgebungsteilnehmer sammeln und in geschlossenen Zügen zum Lustgarten marschieren. Die amerikanischen und britischen Kommandanten verlangten in letzter Minute, daß die Demonstrationszüge »kein politisches Gesicht« tragen dürften, also kein Mitführen von Fahnen, Transparenten und insbesondere Tafeln, die auf die SED verwiesen.
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Die Franzosen verboten darüber hinaus das Marschieren im Gleichschritt und in »militärischer Form«.
     Auch das Propagandakomitee hatte alle Hände voll zu tun. Es bereitete die Maifeier in Betrieben und in der Presse vor, gab Informationen zur Geschichte des 1. Mai heraus, verteilte über 100 000 Flugblätter mit dem Mai-Aufruf, ließ das von Arno Mohr gestaltete Plakat, das einen Arbeiter mit einer roten Mainelke zeigte, vervielfältigen und Texte von traditionellen Arbeiterliedern, wie »Wann wir schreiten Seit' an Seit'« oder »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«, in 20 000 Exemplaren drucken. Einer alten Tradition folgend, wurden rund 500 000 Maiplaketten und rote Mainelken gefertigt und verkauft. Für das Rahmenprogramm im Lustgarten wurden Auftritte von Arbeitersängerchören und sportliche Vorführungen organisiert. Die Post stellte über 50 Straßenlautsprecher auf. Schließlich erhielt die in Gründung befindliche DEFA - die SMAD verlieh ihr am 17. Mai 1946 die Lizenz - den Auftrag, die Maikundgebung im Film festzuhalten.
     Das Verkehrskomitee bereitete währenddessen die An- und Abfahrt von Hunderttausenden Kundgebungsteilnehmern vor und traf entsprechende Absprachen mit der BVG für den U-Bahn-, Bus- und Straßenbahnverkehr sowie mit der Deutschen Reichsbahn für den S-Bahn-Betrieb.
Für die Dauer der Kundgebung sollte der Verkehr zwischen den S-Bahnhöfen Friedrichstraße und Alexanderplatz eingestellt werden, um auf dieser Strecke Züge für den schnellen Abtransport der Menschenmassen bereitzustellen. Außerdem wurden auf dem S-Bahnhof Alexanderplatz zwei Dampfzüge bereitgestellt, die Demonstrationsteilnehmer in Richtung Köpenick bringen sollten.

Bockwürste und Bonbons für Kinder

Das Nahrungs- und Genußmittelkomitee beschäftigte sich mit der Versorgung der Teilnehmer. Die angespannte Ernährungslage und der Umstand, daß man nur auf Abschnitte der Lebensmittelkarten kaufen konnte, beschränkten die Möglichkeiten von vornherein. Immerhin schaffte es das Komitee, für Verkaufsbuden entlang Unter den Linden und im Lustgarten rund 100 000 Bockwürste sowie 1 000 Hektoliter »einfaches« Bier und Brause bereitzustellen. Der sowjetische Stadtkommandant, Generalmajor Kotikow, gewährte kurz zuvor die einmalige Zuteilung von Bonbons für Schulkinder.
     Natürlich brauchte man für eine Kundgebung dieses Ausmaßes auch ein Delegationskomitee, das rund 160 Ehrengäste aus der SBZ und aus den Westzonen zu empfangen und zu bewirten hatte, sowie ein Sanitätskomitee.

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Rund 150 freiwillige Sanitäter - das Deutsche Rote Kreuz hatten die Alliierten aufgrund seiner Verstrickung in den Hitler-Krieg verboten - begleiteten die Demonstrationszüge. Im Lustgarten standen in fünf von der Sowjetarmee zur Verfügung gestellten Zelten zehn Ärzte und 20 Schwestern zur gesundheitlichen Betreuung bereit.
     Schließlich fungierte noch ein Sicherheitskomitee. Ordner mit roter Armbinde sollten einen reibungslosen Ablauf der Demonstration gewährleisten, mißliebige Transparente entfernen und keinerlei Provokationen zulassen. Ein Sonderbefehl vom 29. April 1946 verpflichtete die Berliner Polizei, die für die Demonstration vorgesehenen Straßen und das nähere Umfeld des Lustgartens sowie generell durch etwaige faschistische Provokationen gefährdete öffentliche Gebäude, Kraft-, Wasser- und Gaswerke sowie Krankenhäuser zu sichern. Außerdem fanden Streifen der sowjetischen Militärpolizei im Aufmarschgebiet statt. Darüber hinaus waren sowjetische Pioniere im Einsatz, um entlang der Aufmarschstraßen die Häuserruinen auf Einsturzgefahr und gefährliche Munition zu überprüfen.
     Je näher der 1. Mai rückte, desto hektischer wurde die Betriebsamkeit des Maikomitees. Als am 26. April 1946 sowjetische Militärfahrzeuge rotes Fahnentuch im FDGB-Haus in der Wallstraße anlieferten, erhielt der Frauenausschuß Berlin-Mitte den Auftrag, daraus 800 Fahnen zu nähen.
Die Komiteemitglieder waren selbst unterwegs, um die Demonstrationsstraßen mit Fahnen und Transparenten zu versehen.
     Die intensiven organisatorischen Vorbereitungen waren eingebettet in ein politisches Programm. Auf Drängen der Kommunisten hatte am 20./21. Dezember 1945 eine Tagung von Spitzenfunktionären der ostzonalen KPD und SPD die Vereinigung zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) beschlossen. Anfang Februar 1946 segnete Stalin persönlich diesen Beschluß mit der Auflage ab, die Einheitspartei bis zum 1. Mai 1946 zu schaffen. Mit Druck und Zwang erwirkten die Kommunisten Ostern 1946 die Gründung der SED, rechtzeitig genug, um die erste Maikundgebung nach dem Kriege »im Zeichen der vereinigten Arbeiterklasse« eindrucksvoll zu begehen. Aufrufe, Losungen, Transparente, Reden und Presseberichte sprachen schon vorher vom »Tag der Einheit«. Die SPD stellte ihren Mitgliedern die Teilnahme frei.
     In den Mittagsstunden des 1. Mai 1946 stauten sich die Massen im Zentrum. Kurz vor 12 Uhr formierte sich die Führung der SED in Höhe der Lindenoper und marschierte zur Tribüne vor der Schloßruine, hinter sich den Troß der unter roten Fahnen und Spruchbändern ungeduldig Wartenden herziehend. Man sah Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, Walter Ulbricht, Max Fechner und andere Spitzenfunktionäre in der ersten Reihe.
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Nach Eröffnungsworten durch Chwalek hielten Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Käthe Kern und Hans Jendretzky (sämtlich SED) kurze Ansprachen. »Neues Deutschland«, Zentralorgan der SED, sprach am nächsten Tag von einer »Heerschau«; mehr als eine halbe Million Berliner hätten ein klares Bekenntnis für Fortschritt und Arbeitereinheit abgelegt. Kritik über die parteipolitisch einseitige Ausrichtung der Maifeier, die von seiten der SPD und nichtkommunistischer Gewerkschaftsmitglieder kam, wurde unterdrückt.
     Die Mehrheit der Demonstranten strahlte an diesem Tage ein Gefühl der Freude und der Zuversicht aus. Noch war die Maifeier nicht zu dem späteren alljährlichen Ritual nach sowjetischem Muster entartet, zelebriert durch Aufrufe und Losungen, Marsch- und Fahnenblocks.
Quellen:
1 Roman Chwalek: Der 1. Mai 1946 unter roten Fahnen. Hunderttausende Berliner Werktätige kamen zur Kampfdemonstration, In: Aufbruch in unsere Zeit. Erinnerungen an die Tätigkeit der Gewerkschaften von 1945 bis zur Gründung der DDR, Berlin (Ost) 1975, S. 137-145
2 Die folgenden Ausführungen stützen sich hauptsächlich auf den Bericht von Hans Lautenschläger »Erinnerungen an die große einheitliche Maidemonstration am 1. Mai 1946 in Berlin« und andere Materialien, die sämtlich in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), Berlin, im Bestand DY 34/430/30 und 36 einliegen.
3 »Deutsche Volkszeitung«, Berlin, 6. April 1946
4 Roman Chwalek: Der 1. Mai unter roten Fahnen, a. a. O., S. 141 f.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/1996
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