3   Probleme/Projekte/Prozesse Fusionsprobleme vor 120 Jahren  Nächstes Blatt
Kurt Wernicke
Provinz Berlin. Fusions- und Separierungsprobleme vor 120 Jahren

Nach der Errichtung des Wilhelminischen Deutschen Kaiserreichs in der faktischen Form eines Groß-Preußen fand die preußische Politik auch endlich Zeit, die seit der Verabschiedung der Verfassung von 1850 ausstehende innere Reorganisation des Staates auf seinen verschiedenen Ebenen weiterzuführen. 1850 war eine Gemeindeordnung erlassen worden, der 1853 die Revision der als zu liberal empfundenen Städteordnung von 1808 gefolgt war. Dann geriet das Ordnungswerk ins Stocken. Aber schon ein Jahr nach 1871 folgte dann endlich die Kreisordnung, die u. a. Städten über 25 000 Einwohnern das Recht zur Gründung eigener Stadtkreise zubilligte. Bei der Eröffnung der Zweiten Sitzungsperiode des im November 1873 gewählten 12. Preußischen Landtages am 16. Januar 1875 kündigte die Thronrede schon an, daß den Parlamentariern der Entwurf einer Provinzialordnung zugehen werde, »an welchen sich ein Entwurf wegen Bildung einer besonderen Provinz Berlin anschließt«.

Eifrigster Verfechter einer Herauslösung Berlins aus dem Provinzialverband der Provinz Brandenburg war Berlins im Mai 1872 ins Amt gekommener Oberbürgermeister Arthur Hobrecht (1824-1912), der über sehr gute Verbindungen in das Preußische Staatsministerium hinein verfügte und in dem ranghöchsten Vertreter des Königs in der Stadt - dem Berliner Polizeipräsidenten Guido v. Madai (1810-1892), der nur ein Vierteljahr nach Hobrecht sein Berliner Amt angetreten hatte - offensichtlich auch einen gewichtigen Verbündeten besaß: Der wollte zweifellos gern den seit 1810 bestehenden Erweiterten Polizeibezirk Berlin auch als administrative Einheit sehen.
     Schon am 23. Januar 1875 legte der preußische Innenminister - der auch unmittelbarer Dienstvorgesetzter des Berliner Polizeipräsidenten war - dem Abgeordnetenhaus den »Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Verfassung und Verwaltung der Provinz Berlin«, vor. Nach der 1. Lesung des Gesetzentwurfs verschwand dieser jedoch in dem für die Behandlung der Provinzialordnung gebildeten Ausschuß; der war mit der Debatte über die beiden ersten Paragraphen des Berlin betreffenden Entwurfs aber schon derart überfordert, daß er dem Plenum empfahl, dessen weitere Artikel dortselbst zu behandeln.
BlattanfangNächstes Blatt

   4   Probleme/Projekte/Prozesse Fusionsprobleme vor 120 Jahren  Voriges BlattNächstes Blatt
Dazu war dann jedoch bis zum Schluß der Zweiten Sitzungsperiode am 15. Juni keine Zeit mehr, so daß das Jahr 1875 zwar die am 6. Juni gebilligte und unter dem 29. Juni vom König verkündete Provinzialordnung brachte, aber eben kein besonderes Gesetz über die Provinz Berlin. In Paragraph 2 der Provinzialordnung hieß es ganz nach den Intentionen der Regierung: »Die Haupt- und Residenzstadt Berlin scheidet aus dem Kommunalverbande der Provinz Brandenburg aus. Die Bildung eines besonderen Kommunalverbandes aus der Haupt- und Residenzstadt Berlin und angrenzenden Gebieten, sowie die Regelung der Verfassung und Verwaltung derselben bleibt einem besonderen Gesetze vorbehalten.«
     Die Regierung gab nichtsdestoweniger nicht auf und kündigte bei der Eröffnung der Dritten Sitzungsperiode am 16. Januar 1876 erneut an, daß nun »die vorbehaltene Bildung eines besonderen Kommunal-Verbandes aus der Stadt Berlin und den angrenzenden Gebieten unverzüglich ins Auge gefaßt werden« müsse. Prompt ging dem Abgeordnetenhaus am 13. März 1876 wieder ein entsprechender Gesetzentwurf zu, der in sechs inhaltlichen Punkten von dem des Vorjahres abwich und damit vorgebrachte Einwände und Wünsche hinsichtlich von Präzisierungen berücksichtigte. An den Hauptprinzipien des Entwurfs von 1875 aber hielt er unbeirrt fest. Auch die äußeren Grenzen der vorgesehenen Provinz entsprachen den 1875 gezogenen - sie waren übrigens im Osten, Norden und Westen weitgehend deckungsgleich mit denen des Erweiterten Polizeibezirks
und gingen nur im Süden um etliches über die geographischen polizeilichen Befugnisgrenzen hinaus. Bei den Abgeordneten genoß der Regierungsentwurf jedoch nicht mehr Sympathie als ein Jahr zuvor: Sie griffen wieder zu dem schon einmal bewährten Mittel, das Projekt in einem Ausschuß verschwinden zu lassen. Zu diesem Zweck wurde am 26. März eine 14köpfige Kommission gewählt, die sich allein mit diesem Gesetzentwurf zu befassen hätte. Ihr gehörten an:

- Rittergutsbesitzer v. Benda, wohnhaft in Rudow bei Berlin
- Stadtgerichtsrat Dr. Eberty, wohnhaft in Berlin
- Legationsrat a. D. v. Kehler, wohnhaft in Berlin
- Rittergutsbesitzer Kiepert, wohnhaft in Marienfelde bei Berlin
- Stadtgerichtsrat Kochann, wohnhaft in Berlin
- Obergerichtsvizedirektor Dr. Köhler, wohnhaft in Aurich in der Provinz Hannover
- Landrat a. D. v. Loeper, wohnhaft auf Rittergut Loepersdorf in Pommern
- Stadtrat Runge, wohnhaft in Berlin
- Schriftsteller Richter, wohnhaft in Mariendorf bei Berlin
- Polizeidirektor v. Saldern, wohnhaft in Potsdam
- Gymnasialdirektor a. D. Dr. Techow, wohnhaft in Berlin
- Geheimer Medizinalrat Prof. Dr. Virchow, wohnhaft in Berlin
- Stadtrat Dr. Weber, wohnhaft in Berlin
- Oberregierungsrat a. D. Wulfsheim, wohnhaft in Berlin.

BlattanfangNächstes Blatt

   5   Probleme/Projekte/Prozesse Fusionsprobleme vor 120 Jahren  Voriges BlattNächstes Blatt
Trotz der Zusammenfassung offensichtlich mehrheitlich mit den Verhältnissen vertrauter Experten trug dieser Ausschuß aber ebensowenig zur Lösung des Problems einer eigenständigen hauptstädtischen Provinz bei wie sein mit der allgemeinen Provinzialordnung befaßter Vorgänger im Vorjahr - er brachte bis zum Schluß der Sitzungsperiode keinen Kommissionsbericht in das Plenum. Dabei wußten die Kommissionsmitglieder sehr wohl, daß nach der Dritten Sitzungsperiode die Neuwahl des Landtags anstand! Das Ganze kann nur als Verzögerungstaktik angesehen werden, und die war es dann wohl auch: Den Berliner Vertretern im Ausschuß waren ohne Zweifel die gewichtigen Bedenken der Berliner Stadtverordnetenversammlung mitgeteilt worden. Diese hatte am 20. April 1876 in einer Petition an beide Häuser des Preußischen Landtags eine Aussetzung der Debatte über die Provinz Berlin verlangt, solange nicht die in Diskussion befindliche Neufassung der Städteordnung verabschiedet sei; weitere lauthals debattierte Sorgen wegen ausstehender rechtlicher Regeln, die den diversen Kommunalvertretungen in der neuen Provinz Berlin (und da dachte die Stadtverordnetenversammlung ohne Zweifel zuvörderst an sich selbst!) Mitsprache in Verwaltungs- und Polizeidingen garantieren sollte - die man allzusehr bei den kommenden neuen Provinzialbehörden angesiedelt sah -, fanden ihren Niederschlag dann in einer Stadtverordneten-Entschließung vom 1. Juni.
     So wartete das Plenum des Abgeordnetenhauses bis zur Schließung der Sitzungsperiode am 30. Mai vergeblich auf den Kommissionsbericht seines Spezialausschusses zur Provinz Berlin, und auch der Berliner Stadtverordnetenversammlung wurde vom Präsidium des Abgeordnetenhauses höflich, aber nüchtern mitgeteilt, ihre Petition habe wegen der inzwischen erfolgten Beendigung der Session des Landtages nicht mehr behandelt werden können. Als der im Oktober 1876 gewählte 13. Preußische Landtag am 12. Januar 1877 eröffnet wurde, war von der Provinz Berlin keine Rede mehr - das Projekt war gestorben. Oberbürgermeister Hobrecht mußte sich, nachdem sein Lieblingsplan durch Verschleppung zu Grabe getragen worden war, auch noch vom Landrat des von vornherein unwilligen Kreises Teltow (drei der Kommissionsmitglieder stammten allein aus dem Kreis Teltow!) öffentlich vor den Mitgliedern des dortigen Kreistags verhöhnen lassen. Er folgte daher Anfang 1878 nur allzugern einem Rufe Bismarcks, der ihn als preußischen Finanzminister haben wollte.
BlattanfangNächstes Blatt

   6   Probleme/Projekte/Prozesse Fusionsprobleme vor 120 Jahren  Voriges BlattNächstes Blatt
     Es dauerte mehr als dreißig Jahre, bis sein Projekt, ziemlich entstellt, 1911 im Gesetz über den »Zweckverband Groß-Berlin« wiederauferstand - und ein weiteres fast volles Jahrzehnt, bis es 1920 in der »Einheitsgemeinde Berlin« seine Erfüllung fand.

Auszüge aus dem Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Verfassung und Verwaltung der Provinz Berlin, März 1876

Umfang und Begrenzung der
Provinz Berlin

Artikel 1

Aus den in der Anlage verzeichneten Ortschaften wird, unter Abtrennung derselben von den Kreisen Teltow und Niederbarnim, ein besonderer Landkreis Berlin und aus der Stadt Charlottenburg, unter Abtrennung von dem Kreise Teltow, ein besonderer Stadtkreis Charlottenburg gebildet.
     Der Thiergarten, mit Einschluß des zoologischen Gartens, des Seeparks und des Hippodroms - der letztere jedoch mit Anschluß der an der westlichen Spitze gelegenen Bleichröder'schen Besitzung - das Schloß Bellevue und die Hasenhaide werden dem Gemeindebezirke der Stadt Berlin einverleibt.

Ferner wird der östliche Theil des 18. Charlottenburger Stadtbezirks bis zur südlichen Spitze des zoologischen Gartens und der bei der Zwölf-Apostelkirche einspringende Theil des Gemeindebezirks Schöneberg dem Gemeindebezirke der Stadt Berlin einverleibt. Die Grenzen dieser Theile des 18. Charlottenburger Stadtbezirks und des Gemeindebezirks Schöneberg werden durch Königliche Verordnung festgesetzt.

Artikel 2

Die Stadtkreise Berlin und Charlottenburg sowie der Landkreis Berlin werden zu einer besonderen Provinz Berlin vereinigt, welche nach näherer Vorschrift dieses Gesetzes einen mit den Rechten einer Korporation ausgestatteten Kommunalverband zur Selbstverwaltung seiner Angelegenheiten bildet.
     Die Provinz Berlin bildet zugleich einen besonderen Landarmenverband.

Ortschaftsverzeichnis
des
Landkreises Berlin

Der Landkreis Berlin umfaßt folgende Ortschaften:

BlattanfangNächstes Blatt

   7   Probleme/Projekte/Prozesse Fusionsprobleme vor 120 Jahren  Voriges BlattNächstes Blatt
A. Aus dem Kreise Niederbarnim:

Die Jagen 1 bis 61 der Königlichen Tegel'schen Forst, oder die sogenannte Jungfernhaide mit den Etablissements a) am Plötzensee, b) Saatwinkel, c) auf dem Artillerie-Schießplatz, sowie den Möckernitzwiesen; das Gut Tegel mit Scharfenberg, die Gemeinde Tegel, die Gemeinde Dalldorf, die Gemeinde Reinickendorf, das Gut Nieder-Schönhausen mit der Kolonie Schönholz, die Gemeinde Nieder-Schönhausen mit der zum Gemeindebezirke gehörigen fiskalischen Forstparzelle der Oberförsterei Tegel, die Gemeinde Pankow, die Gemeinde Heinersdorf, das Gut Weißensee, die Gemeinde Weißensee, das Gut Hohen-Schönhausen, die Gemeinde Hohen-Schönhausen mit der Kolonie Neu-Hohen-Schönhausen, das Gut Lichtenberg mit der Kolonie Kietz, die Gemeinde Lichtenberg mit der Kolonie Friedrichsberg, das Gut Boxhagen-Rummelsburg, die Gemeinde Stralau, das Gut Friedrichsfelde mit Carlshorst; die Gemeinde Friedrichsfelde, die Jagen 190 bis 205 der Königlichen Köpenicker-Forst oder die sogenannte Wuhlhaide mit der Kolonie Ober-Schöneweide.

B. Aus dem Kreise Teltow:

Die Stadt Köpenick, die Gemeinde Kietz, die Kolonie Grünerlinde, auch Schönerlinde genannt, die Kolonie Nieder-Schöneweide, das Gut Adlershof mit der Kolonie Süßengrund, die Jagen 50 bis 78 der Königlichen Köpenicker-Forst,

die Gemeinde Treptow, die Gemeinde Rixdorf, die Gemeinde und das Gut Britz mit Buschmeierei, das Gut Tempelhof, die Gemeinde Tempelhof mit Tempelhofer Bahnhof, Tempelhofer Berg und dem Militairkirchhofe in der Hasenhaide, die Gemeinde Mariendorf mit der Kolonie Südend, die Gemeinde Lankwitz, das Gut Giesendorf, die Gemeinde Giesendorf, das Gut Lichterfelde, die Gemeinde Lichterfelde mit der Kolonie Neu-Lichterfelde, die Gemeinde Steglitz, die Gemeinde Schöneberg, die Gemeinde Deutsch-Wilmersdorf, die Gemeinde Friedenau, die Gemeinde Schmargendorf, das Domainengut Dahlem.

Motive

Die Mißstände, welche sich aus dieser abnormen Configuration der Gemeindegrenzen von Berlin, Charlottenburg und Schöneberg ergeben, erfordern dringend eine Abhülfe. Diese Abhülfe kann nach der ganzen Lage der bezüglichen Stadtteile und mit Rücksicht auf die engen Beziehungen, in welchen dieselben zu der Stadt Berlin stehen, nur durch deren Einverleibung in den Stadtbezirk von Berlin erfolgen. Die Bewohner derselben haben wiederholt die Inkommunalisirung (heutiger Begriff: Eingemeindung; d. Red.) nach Berlin beantragt, und ist bei der Berathung des Gesetzentwurfs über die Bildung der Provinz Berlin in der Kommission des Abgeordnetenhauses im Jahre 1875 diese Forderung als berechtigt anerkannt worden.

BlattanfangNächstes Blatt

   8   Probleme/Projekte/Prozesse Fusionsprobleme vor 120 Jahren  Voriges BlattArtikelanfang
Es sind auch bereits Verhandlungen eingeleitet, um die Einverleibung der bezeichneten Theile der Gemeindebezirke von Charlottenburg und Schöneberg in den Stadtbezirk Berlin auf Grund der Bestimmungen im § 2 Absatz 4 der Städteordnung vom 30. Mai 1853 herbeizuführen: dieselben haben jedoch wegen der mit großem Zeitverluste verbundenen Ermittelung und Vernehmung sämmtlicher Grundbesitzer noch nicht zum Abschluß geführt werden können.
     Es wird sich empfehlen, eine hierauf bezügliche Bestimmung in den vorliegenden Gesetzentwurf aufzunehmen; jedoch die definitive Feststellung der Grenzen der dem Gemeindebezirke der Stadt Berlin einzuverleibenden Theile der Gemeindebezirke Schöneberg und Charlottenburg einer besonderen Königlichen Verordnung vorzubehalten. Denn die Feststellung dieser Grenzen erfordert eingehende Erörterungen unter Zuziehung der Gemeindebehörden von Berlin, Charlottenburg und Schöneberg, sowie des Königlichen Polizeipräsidiums zu Berlin, um zu verhüten, daß bei der Zunahme der Ansiedelungen auf diesem Terrain nicht wieder ähnliche Mißstände hervortreten, wie bei den im Jahre 1860 erfolgten Inkommunalisirungen, und um den Rücksichten auf Ent- und Bewässerung des bezüglichen Terrains usw. vollständig Rechnung zu tragen.
     Die gegenwärtige Bevölkerungszahl der der Provinz Berlin einzuverleibenden Ortschaften ergiebt die Anlage A.
Danach zählen mit Einschluß der Militärpersonen
1)Berlin 968 634 Einwohner
2)Charlottenburg mit Hinzurechnung des abzutrennenden 18. Stadtbezirks 25 308 Einwohner
3)die Ortschaften des künftigen Landkreises 83 653 Einwohner

Quellen:
- Schultheß' Europäischer Geschichtskalender 1875, 1876, 1877
- Preußischer Landtag. Stenographische Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten, 12. Legislaturperiode, 2. Session (1875), 3. Session (1876), Verhandlungen 1-3; Anlagen 1.2
- Communalblatt der Haupt- und Residenzstadt Berlin, Jg. 1876
- Paul Goldschmidt: Berlin in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1910
- Polizeihistorische Sammlung beim Polizeipräsidenten Berlin

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/1996
www.berlinische-monatsschrift.de