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Kurt Wernicke
Späte Renaissance einer »Heilslehre«

Paul de Lagarde (1827-1891)

Die Umwertung aller überkommenen und angeblich ewigen Werte durch die industrielle Revolution, die durch das 19. Jahrhundert raste, brachte eine wahre Fülle von Versuchen hervor, Antworten auf die neu aufgeworfenen Fragen zu finden. Neben solchen, die nach vorn wiesen und sich an neuen Gesellschaftsentwürfen orientierten-, ihnen verdanken z. B. Anarchismus und Marxismus ihr Entstehen -, gab es auch ein erhebliches Spektrum konservativer Modelle, die ebenso aus der Kritik an den dunklen Seiten der nur noch auf Profit orientierten Gesellschaft hervorgingen. Einer dieser Denker, der in seiner Zeit wenig, aber später über etliche Jahrzehnte gleiche oder gar größere Wirkung bei Intellektuellen und Halbintellektuellen erzielte, war Paul de Lagarde.
     Als Paul Anton Bötticher, Sohn des Johann Friedrich Wilhelm Bötticher (1798-1850), Gymnasialprofessor am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in der Friedrichstraße 41/42, am 2. November 1827 in Berlin, Kochstraße 27, geboren und erst 1854 durch Adoption von seiten einer Großtante in den Besitz des vornehmer klingenden Namens gelangt


Paul de Lagarde

(wobei es ihn wenig störte, daß dieser durch den Buchhändler Delagarde in Berlin anrüchig geworden war, weil der sich während der französischen Besetzung Berlins 1806-1808 durch seine Servilität gegenüber den Besatzern in ein schlechtes Licht gesetzt hatte), hatte er nach Philosophie- und Theologiestudium in Berlin und Halle 1849 in Berlin zum Dr. phil. promoviert und 1851 sich in Halle habilitieren können. Dennoch konnte er seine umfassenden Kenntnisse, obwohl einer der kundigsten Orientalisten und Religionswissenschaftler seiner Zeit, zu seinem Leidwesen fast zwei Jahrzehnte lang nicht auf einem Universitätslehrstuhl verwenden; erst 1869 wurde er nach zwischenzeitlicher Verwendung durch einen Befürworter am preußischen Königshof doch noch nach Göttingen auf einen Lehrstuhl berufen.

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     Als Berliner Gymnasiallehrer - am Friedrichwerderschen Gymnasium, Werderscher Markt 7; am Köllnischen Realgymnasium im Köllnischen Rathaus, Scharrenstraße 23; an der Luisenstädtischen Realschule, Sebastianstraße 26 - hatte er in den 50er und 60er Jahren bitter unter der aus seiner Sicht gänzlich unverdienten gesellschaftlichen Zurücksetzung gelitten, obgleich er kaum in einer Notlage gelebt haben kann. Seit 1854 verheiratet, konnte er sich seine Wohnungen in dieser Zeit in der nicht gerade von Unterprivilegierten bevorzugten neuen Wohngegend um den Anhaltischen Bahnhof leisten: erst Köthenerstraße 36, dann Askanischer Platz 2, schließlich Trebbinerstraße 10.
     Durch seine pädagogische Tätigkeit hatte er aber auch gerade in dieser Zeit tiefe Einblicke gewonnen in den Habitus der aufstrebenden Bourgeoisie, die ihre Söhne seinen erzieherischen und bildenden Fähigkeiten anvertraute. Ein tiefer Haß gegen die in dieser Schicht angehimmelten liberalen Prinzipien für Wirtschaft und Gesellschaft mit ihrer offensichtlichen Kluft zwischen hehren Ansprüchen und niedrigsten Gewinnabsichten war die Folge und machte ihn zum unbarmherzigen Kritiker der sich zunehmend profilierenden und festigenden neuen Gesellschaftsordnung.
Er sah in deren gelobten geistigen und politischen Werten lediglich Nebelvorhänge zum Verschleiern der wirklich diese Gesellschaft treibenden Motive, die von nacktem Egoismus geprägt waren und den Mammon zum höchsten Gut machten.
     Seine Antwort auf die so ausgemachten schlimmen Verhältnisse formulierte er in seinen über mehr als drei Jahrzehnte zwischen 1853 und 1886 verfaßten politisch-historischen Aufsätzen, die er neben seinen in der Fachwelt beachteten wissenschaftlichen Werken dem Publikum vorsetzte. 1886 publizierte er seine politischen Streitschriften kompakt in einer Gesamtausgabe seiner Publizistik als »Deutsche Schriften«.
     Deren Analyse weist de Lagarde als einen gnadenlosen Kritiker des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses aus, dem er haßvoll beiwohnte er wurde mit der sein Leben begleitenden industriellen Entwicklung nicht fertig. Ausgehend von einer umfassenden Kritik an allem von der neuen Gesellschaft Hervorgebrachten als typisch »undeutsch«, propagierte er eine auf dem Herrenrassen-Prinzip basierende, von Bauern und Handwerkern geprägte deutsche Volksgemeinschaft - eine männergeprägte natürlich, in der Mädchen grundsätzlich nur Volksschulbildung zu erhalten hätten.
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     Eine Einheitsklammer für diese Volksgemeinschaft hielt de Lagarde auch schon parat, nämlich eine germanisch-christliche, antisemitisch eingestellte Kirche; die überkommene Religion sei ohnehin am Ende. Sein »deutsches Christentum« hatte sich zuvörderst des jüdisch geprägten Alten Testaments zu entledigen und sittliche Werte der Germanen (so, wie sie von der anspruchsvollen Populärliteratur des 19. Jahrhunderts idyllisiert wurden) zu integrieren.Sein außenpolitisches Programm, ohne das kein deutscher Weltverbesserer anzutreten pflegte - und pflegt! -, wies auf ein Großdeutsches Reich mit weitem Ausgriff auf den europäischen Osten und Südosten, von wo die dort heimische Bevölkerung im Zuge ethnischer Bereinigung auszusiedeln sei. Dieses außenpolitische Programm war für Paul de Lagarde eng verquickt mit seiner Vision von der rassisch geprägten deutschen Volksgemeinschaft, denn er sah in der Angriffs-, Raub- und Siedlungspolitik das Mittel, das derzeit in Liberalismus und Materialismus versunkene Volk emporzureißen, emporzureißen zu den lichten Höhen einer durch Nationalismus, Idealismus und germanisches Christentum geprägten deutschen Rassengemeinschaft.
     Schon 1853 davon durchdrungen, daß es Preußens Beruf sei, Deutschland durch Eroberung zu einen, bewunderte er natürlich Bismarck, in dem er den Politiker sah, der seinem Ideal eines vom Liberalismus nicht
angekränkelten Machtmenschen so ziemlich am nächsten kam. Ihm übersandte er dann auch 1886 die noch druckfrische Gesamtausgabe seiner »Deutschen Schriften« mit einem Anschreiben, in dem er sich als Kampfgefährte des Reichskanzlers »bei einer anderen Waffe« vorstellte, der demselben himmlischen wie irdischen König diene wie jener und - wie Bismarck - ebenfalls bereit sei, für »die wahre, das heißt ewige Ehre des deutschen Vaterlandes« zu sterben. Aber Bismarck war als nüchterner Realpolitiker weit davon entfernt, chimärischen Eroberungsplänen gegen seinen Verbündeten Rußland und Haßgesängen gegen die von ihm als Stabilitätselement geschätzte protestantische Kirche sein Ohr zu leihen - de Lagarde fand bei ihm eine kühle Reaktion: Mehr als die Ernennung zum Geheimen Regierungsrat im nächsten Jahr kam bei der offensichtlichen Anbiederung nicht heraus. Das trug sicherlich dazu bei, de Lagardes Unmut über die Gesellschaft seiner Zeit noch weiter zu vertiefen - soweit das überhaupt noch möglich war. Auch nach seiner »Gesamtausgabe« von 1886 äußerte er sich weiterhin in vier nicht gerade dünnbändigen »Mitteilungen« zu kulturpolitischen Fragen, die ihm wichtig erschienen.
     Wütend reagierte er so z. B. auf die seiner Meinung nach unverschämte Zurücksetzung, die er durch die Nichteinladung zu einer 1890 auf Anregung von Wilhelm II. veranstalteten Konferenz zur Schulreform erfahren hatte.
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Noch einmal legte er im 4. Band seiner »Mitteilungen« explizit eine »deutsche Kulturreligion« vor, die er als das Mittel ansah, jener Generation Deutscher wieder völkische Kraft zu verleihen, die sich gegenwärtig »durch Rauchen und Lesen« über ihre Nichtigkeit zu trösten versuche ...
     Zerfressen von galliger Kritik an der sich immer deutlicher durchsetzenden Industriegesellschaft, starb Paul de Lagarde am 22. Dezember 1891 in Göttingen an den Folgen einer durch Darmkrebs notwendig gewordenen Operation. Da er seine politischen Schriften zumeist im Selbstverlag an das Publikum brachte, waren sie zu seinen Lebzeiten nicht gerade weit verbreitet. Aber je mehr der zeitliche Abstand zu selbsterlebtem persönlichen Kontakt mit dem auch im menschlichen Umgang unleidlichen Kulturkritiker zunahm, um so verklärter leuchteten er und seine Heilslehre vor den Augen williger nachgeborener Jünger.
     Eine wahre Renaissance erlebte er in der Weimarer Republik, in der Enttäuschte und Entwurzelte die von ihnen erlebte Wirklichkeit in jeder Beziehung (nun auch im Verhältnis zu Staat und Regierung) als unerträglich und als eine gewaltige Zumutung gegenüber ihren höheren Ansprüchen empfanden, einstiger Größe des wilhelminischen Deutschland nachtrauerten und emsig nach den gesellschaftlichen Ursachen für den Abstieg von der früheren Höhe einer Weltpolitik betreibenden Großmacht suchten.
Es war somit nur folgerichtig, daß de Lagarde zu einem der bedeutendsten geistigen Ziehväter der NS-Ideologie wurde, die nicht nur auf die von ihm eingeführte Formel »mit deutschem Gruß» zurückgriff, sondern sich das ganze Gemisch von Rassen- und völkischem Hochmut, Haß auf liberale und demokratische Werte und maßloser Aggressionsgier zu eigen machte.
     Anders als z. B. bei dem ebenfalls zum NS-Vorläufer erklärten sozial-konservativen, christlich motivierten Antisemiten Adolph Stoecker mußten die NS-Ideologen dabei keine Verrenkungen unternehmen, um das aus dem Entsetzen vor der industriellen Revolution geborene krause antiliberale Gedankengut des ausgehenden 19. Jahrhunderts in ihre Rassen-Ideologie einzupassen: Während Stoecker seinen Antisemitismus völlig auf den religiösen Gegensatz des Christentums zum Judentum bezog (obgleich man nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auch auf diesem Felde keinen Schritt nachgeben sollte!), war bei Paul de Lagarde der ganze verderbliche Unsinn von Blut, Boden und Rasse schon fertig vorgeprägt und brauchte nur noch bei ihm abgeschrieben zu werden.

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/1996
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