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Dieter Busse
Paavo Nurmi läuft Weltrekord

Mai 1926. Den Berlinern stand ein sonniges Pfingsten bevor - ein verlängertes Wochenende, das so recht zum Ausflug einlud. Ganz oben in der Gunst rangierten die großen Sportveranstaltungen.
     Den größten Zulauf erhielt das traditionelle Stadionfest des Sportklubs Charlottenburg und der »Berliner Morgenpost« im Grunewald. Am Pfingstmontag, dem 24. Mai 1926, zogen 40 000 Menschen ins Deutsche Stadion, um nur einen zu sehen: Paavo Nurmi.
     Nurmis Ankunft eilten Legenden voraus. Der Finne hatte während der Olympischen Sommerspiele 1924 in Paris alle Vorstellungen und Leistungsgrenzen gesprengt. Er lief am selben Tag die 1 500 Meter (nach heutigem Verständnis eine Mittelstrecke) und - nur wenige Stunden später - die 5 000 Meter. Beide Distanzen absolvierte der Ausnahmeathlet jeweils in Rekordzeit als Sieger. Ohne sich - wie es schien - zu verausgaben. An einem der heißesten Sommertage dann ging der Finne noch über die 10 000 Meter an den Start. Nahezu mühelos lief er Runde um Runde seinem dritten Olympiasieg entgegen, mit erheblichem Vorsprung, während der größte Teil seiner Konkurrenten das Rennen nicht einmal beendete.

     Nurmi hielt die offiziellen Weltrekorde von 1 500 Meter bis 10 000 Meter. Eine Ausnahme gab es - die 3 000 Meter. Den Rekord auf dieser Strecke hatte Nurmi 1926 an den Schweden Edvin Mides verloren. Alle rechneten nun damit, daß Paavo Nurmi im Deutschen Stadion ebendiese Distanz laufen würde.
     Der verschlossene, medienscheue Nurmi hatte es seit seiner Ankunft auf dem Flughafen Tempelhof schwer, den Journalisten zu entkommen. Ständig war er von Fotografen umringt. Das Stadion hielt überdies eine Überraschung für Nurmi bereit: Sein Oval umfaßte nicht die üblichen 400, sondern 600 Meter. Ansonsten waren die Bedingungen sehr gut. Nachts hatte es geregnet, aber jetzt, am Pfingstmontag, glänzte das Stadion nicht nur im neuen Frühlingsanstrich, sondern auch im prächtigen Sonnenschein. Neugierig verfolgten die 40 000 jede Bewegung Nurmis. Der 28jährige machte sich im schweren Sweater und in Trainingshosen gründlich warm. Ein Teil der Westkurve pfiff, weil Nurmi, der bei seinen Erwärmungssprints fast die ganze Bahn umlief, dieser Kurve keinen Besuch abstattete.
     Endlich formierte sich das Feld zum Start. Aus deutscher Sicht waren die besten Sportler am Start, die die Leichtathletik in dieser Disziplin aufzubieten hatte: Husen, Petri, Dieckmann, Walpert, Frondsen, Rätze, um nur einige zu nennen. Endlich fiel der Startschuß. Nurmi, auf den sich alle Blicke richteten, blieb auf den ersten 200 Metern im Pulk der Mitbewerber hängen.
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In ziemlich scharfem Tempo ging es ausgangs der ersten Kurve auf die lange Gerade, Nurmi übernahm die Spitze. Von nun an erlebten die Zuschauer eine Solo-Vorstellung. »Nurmi läuft nicht gegen Menschen, er läuft gegen das Unheimliche, Unsichtbare, gegen die schemenhafte Zeit, deren Spiegel er mit sich trägt in seiner rechten Hand«, schrieb am Tag darauf die »B. Z. am Mittag«. In der Tat hielt er - wie gewöhnlich - während der fünf Stadionrunden eine Stoppuhr in der Hand. Mit einem Vorsprung von 120 Metern distanzierte Nurmi Walpert und Frondsen, und zwar in der Fabelzeit von 8:25,4 min - das war der erhoffte neue Weltrekord. »Als das Resultat verkündet wurde, herrschte Stille, daß man die bekannte Stecknadel hätte fallen hören können, und es dauerte lange, bis der große Jubel laut wurde, so sehr hatte die Spannung die Stimmen gefesselt«, so die »B. Z. am Mittag«. Das war zugleich der erste Weltrekord im Deutschen Stadion, fast auf den Tag genau 13 Jahre nach seinem Bau.
     Trotzdem hielt sich die Begeisterung der Berliner in Grenzen. Nurmi war einfach nicht der Typ, von dem der berühmte Funke aufs Publikum übersprang. »Es gab keinen Kampf«, schrieb deshalb die »Berliner Volkszeitung« vom 5. Mai 1926 distanziert in ihrer Morgen-Ausgabe,
»und so kam es, daß der in Weltrekord fliegende Nurmi nur geringen Beifall gespendet bekam ...« als er das Ziel passiert hatte, war sein erster Blick auf die Stoppuhr, dann zog er sich seine Sachen an und verschwand so gleichgültig, wie er gekommen war.« Aber so war der Finne. Er hatte nichts übrig für äußere Ehrungen. Wo er nur konnte, entzog er sich allen Festlichkeiten.
     Lange sollte es dauern, bis die Welt wieder einen Leichtathleten sah, der Erinnerungen an Paavo Nurmi wachrief. 1952, während der ersten Olympischen Sommerspiele nach dem Zweiten Weltkrieg, war es der Tscheche Emil Zatopek, der sich gleichfalls drei Goldmedaillen über Langstrecken erlief: über 5 000 Meter, 10 000 Meter und im Marathon. Das war in Helsinki, im Lande des Paavo Nurmi.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/1996
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