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Gerhard Keiderling
»Es wird berichtet...«

Wozu nationale Streitkräfte?

Die Zeit um 1952 war ein Höhepunkt des Kalten Krieges zwischen Ost und West, das geteilte Deutschland lag in seinem Brennpunkt. Der Koreakrieg (1950-1953) löste die Wiederaufrüstung der beiden deutschen Staaten im Rahmen ihres jeweiligen Paktsystems aus. Sie war auf beiden Seiten begleitet von einem Propagandafeldzug sondergleichen. Die BRD-Bürger schreckte man mit der »roten Flut aus dem Osten«, und die DDR-Bewohner wurden zum Friedenskampf gegen die »imperialistischen Kriegshetzer« mobilisiert. Im geteilten Berlin stießen beide Richtungen tagtäglich hart aufeinander. Die Adenauerregierung hatte - um die Wiedergewinnung staatlicher Souveränität im Rahmen der Westintegration durch einen Generalvertrag mit den drei Westmächten zu erzielen - einen westdeutschen »Wehrbeitrag« zur NATO angeboten. Die Grotewohlregierung setzte dem die Losung von »nationalen Streitkräften« entgegen, wie sie in der Stalin-Note vom März 1952 enthalten war.
     Was für die Großmächte und ihre deutschen Stellvertreter ein Tauziehen um Deutschland war, sahen die Deutschen ganz anders.

Sieben Jahre nach dem schrecklichen Krieg drängte es keinen, wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen, egal für wen und wozu.
     In der BRD formierte sich eine »Ohneuns«-Bewegung, die DDR-Verhältnisse ließen nur vorsichtige Formen der Ablehnung zu.
     Natürlich war die Opposition bei der Jugend besonders augenfällig. Die SED steuerte dem über ihre Staatsjugend entgegen. Das IV. FDJ-Parlament Ende Mai 1952 in Leipzig beschloß, »mit der Waffe in der Hand auf Friedenswacht zu stehen«. Erstmals marschierten FDJler mit geschulterten KK-Gewehren auf. Im August 1952 wurde die vormilitärische »Gesellschaft für Sport und Technik (GST)« gegründet.
     So sehr sich die Verfasser der Stimmungsberichte für das Amt für Information auch bemühten, die stereotype Formel von der »prinzipiellen Zustimmung« der Ostberliner klang nicht überzeugend. Die Ressentiments der DDR-Bevölkerung gegenüber einer Remilitarisierung veranlaßten die SED-Führung, auf ihrer 2. Parteikonferenz im Juli 1952 nur den Aufbau einer »Kasernierten Volkspolizei (KVP)« zu beschließen. Die Aufstellung der Nationalen Volksarmee (NVA) erfolgte am 1. März 1956.

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Dem Generalkriegsvertrag 1) wird von den weitesten Kreisen der Bevölkerung Aufmerksamkeit geschenkt, und er wird fast überall abgelehnt.
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Es gibt kaum noch Stimmen, in denen darauf hingewiesen wird, daß der Westen sich vor dem Osten schützen muß, daher werden auch die von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik beschlossenen Maßnahmen auf Grund der Unterzeichnung des Generalkriegsvertrages fast von allen gutgeheißen. Keine Klarheit besteht noch immer in großen Teilen der Bevölkerung aber noch darüber, was sie selbst zur Erhaltung des Frieden tun können und tun müssen.
     Größere Unklarheiten gibt es noch immer zur Frage der Nationalen Streitkräfte. Zwar sind sich fast alle darüber einig, daß das von uns Geschaffene verteidigt werden muß; viele Menschen glauben jedoch, daß die Schaffung Nationaler Streitkräfte ein Schritt zum Kriege ist und daß dann Deutsche gegen Deutschen kämpfen müssen. [...]
     Auch in Westberlin lehnen weite Kreise den Generalkriegsvertrag ab, weil das, was bisher über ihn bekannt ist, auch nach Meinung größerer Teile von Westberlinern zu einem neuen Krieg führen kann. Andere Teile der Westberliner sind der Auffassung, daß der Generalkriegsvertrag für Berlin keine Gültigkeit besitzt und deshalb für sie nicht von Interesse wäre.
     Während in dem demokratischem Sektor die Menschen in den Diskussionen davon sprechen, daß der Frieden erhalten werden muß, kommt in den Diskussionen der Westberliner zum Ausdruck, als wenn sie der Meinung sind,
daß der Krieg bereits eine beschlossene Sache wäre, und sie diskutieren über das Kräfteverhältnis zwischen der Sowjet-Union und Amerika. Dabei wird aber auch von ihnen immer wieder die Frage behandelt, daß in diesem Kriege Deutsche gegen Deutsche kämpfen würden.
     (Stimmungsbericht vom 3. Juni 1952)

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In der letzten Zeit werden des öfteren Forderungen laut, daß der Magistrat beschließen soll, daß den Westberlinern die Möglichkeit des Einkaufs im demokratischen Sektor genommen wird.
     Größere Diskussionen gibt es bei den Bewohnern des demokratischen Sektors noch immer über die Stellung zu den Nationalen Streitkräften. Obwohl der größte Teil der Bevölkerung einsieht, daß Schutzmaßnahmen getroffen werden müssen, sind sie sich über den Charakter Nationaler Streitkräfte nicht klar. Eines der wesentlichen Argumente hierbei ist noch immer, daß durch die Schaffung Nationaler Streitkräfte Deutsche gegen Deutsche kämpfen müssen. Ein weiteres Argument, was neuerdings auftritt, ist, daß durch die Schaffung Nationaler Streitkräfte die Erfüllung des 5-Jahrplanes 2) infrage gestellt ist, weil dadurch ein Teil von Arbeitskräften der Industrie entzogen wird und außerdem Ausrüstungsgegenstände für die Armee hergestellt werden müßten.
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Unklar ist vor allem der Charakter der Nationalen Streitkräfte. Viele glauben, daß mit dem bloßen Bestehen von Nationalen Streitkräften die Kriegsgefahr verstärkt wird, ohne daß sie erkennen, daß auch die Aufstellung Nationaler Streitkräfte zur Erhaltung des Friedens beiträgt.
     (Stimmungsbericht vom 17. Juni 1952)

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Die Diskussionen über die Notwendigkeit der Schaffung Nationaler Streitkräfte sind nach wie vor in der Bevölkerung stark, wobei jedoch zum Ausdruck kommt, daß die Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung bereits Erfolge gehabt hat. So konnte bei einer Umfrage bei 50 Handwerkern, Gewerbetreibenden, Haus- und Straßenvertrauensleuten und Hausfrauen festgestellt werden, daß 40 der Befragten die Schaffung Nationaler Streitkräfte vorbehaltlos bejahten. In einer Reihe von Stimmen kommt jedoch zum Ausdruck, daß die Heranziehung von Frauen und Mädchen zur Ausbildung mit der Waffe noch vielfach auf Ablehnung stößt.
     Bei den Diskussionen, besonders im 9. Schuljahr, traten bei der Diskussion über die Ermordung des Friedenskämpfers Philipp Müller 3) vielfach gegnerische Argumente in Erscheinung, in denen immer wieder behauptet wurde: erstens war die Demonstration verboten, zweitens haben die Jugendlichen zuerst mit Steinen geworfen und drittens hätte ja niemand hingehen brauchen.
Des weiteren wurde die Frage gestellt, »was wäre in der DDR geschehen, wenn dort gegen die Regierung demonstriert worden wäre?«
     In der Schule Pettenkofer Str. 20 (Bezirk Friedrichshain) wurde bei dem Thema Generalkriegsvertrag erklärt: »Jede Besatzungsmacht sucht nur im besetzten Land ihre Vorteile, die Russen haben nach 1945 unsere Wissenschaftler und Techniker einfach zu sich geholt.« Dazu erklärte ein Schüler, sein Onkel wäre mitten in der Nacht aus seiner Wohnung geholt worden und mußte innerhalb von 3 Stunden seine Sachen gepackt haben. Des weiteren wurde die Frage gestellt: »Erst haben wir gegen den Krieg gesprochen, und jetzt reden wir von Nationalen Streitkräften.« Von Mädchen wurde erklärt: »Wir Mädchen sollen jetzt nur die Männerberufe ergreifen, damit die Männer Soldaten werden können.« In einer anderen Klasse derselben Schule war der Widerstand gegen die Aufklärungsarbeit des Lehrers wesentlich stärker (wie immer). Die Klasse war in den ersten Minuten geradezu undiszipliniert; es wurde wild durcheinanderrufend die Frage gestellt: »Warum trägt die FDJ Waffen?«
     (Stimmungsbericht vom 3. Juli 1952)

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Die Schüler des 9. Schuljahres Lichtenberg, Nöldnerstr., brachten in der Diskussion über die Notwendigkeit der Aufstellung Nationaler Streitkräfte folgende Argumente: Genügt nicht eine verstärkte Volkspolizei zur Sicherung unserer Grenzen? Ist für unsere noch im Aufbau befindliche Wirtschaft diese finanzielle Belastung, die mit der Aufstellung der Nationalarmee verbunden ist, tragbar? Die Aufstellung einer Armee kostet nur Geld. Wenn wir keine Armee haben, greifen uns die Amerikaner auch nicht an.
     Die Schießbuden im Westen werden gerügt, jetzt macht man es hier genau so.
     Wo werden Gewehre und Munition hergestellt und wer gibt die Erlaubnis dazu?
     (Stimmungsbericht vom 4. August 1952)

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In der 8. Klasse der 20. Schule Pankow besteht weiterhin noch eine starke Ablehnung gegen Nationale Streitkräfte. Sie werden von den Schülern noch immer mit der alten Wehrmacht verglichen.
     (Stimmungsbericht vom 5. Dezember 1952)
Anmerkungen:
1 Der »Vertrag über die Beziehungen zwischen der BRD und den Drei Mächten« (auch General- oder Deutschlandvertrag genannt) wurde am 26. Mai 1952 in Bonn unterzeichnet. Er war gekoppelt mit dem am 27. Mai 1952 in Paris unterzeichneten »Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG)«, in deren Rahmen der westdeutsche »Wehrbeitrag« erfolgen sollte. Aufgrund eines französischen Vetos 1954 erfolgte eine Neufassung der Verträge, die am 5. Mai 1955 als »Pariser Verträge« in Kraft traten. Sie galten in der DDR als »Kriegsverträge von Bonn und Paris«. Das von Albert Norden geleitete Amt für Information der DDR gab im September 1952 ein »Weißbuch über den Generalkriegsvertrag« heraus, in dem das Vertragswerk als »Verträge des nationalen Verrats und der nationalen Schande« sowie als »Kriegs- und Protektoratsverträge« gebrandmarkt wurde.
2 Der III. Parteitag der SED im Juli 1950 hatte einen Fünfjahrplan 1951-1955 zur Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR beschlossen, mit dem der Übergang zur langfristigen sozialistischen Wirtschaftsplanung erfolgte.
3 Der 21jährige Philipp Müller, Mitglied der westdeutschen FDJ, wurde bei einer Demonstration gegen die Remilitarisierung am 11. Mai 1952 in Essen von der Polizei erschossen. Die FDJ der DDR erkürte ihn zu einem »Nationalhelden« im Friedenskampf, nach dem Schulen und Straßen benannt wurden.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/1996
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