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Eberhard Fromm
Arbeit ist Glück -
Leopold von Ranke

Es ist schon erstaunlich, wie still der 200. Geburtstag eines der großen deutschen Historiker im Dezember 1995 verstrichen ist. So macht es durchaus Sinn, daß wir seinen 110. Todestag zum Anlaß nehmen, diesen gerade für Berlin so bedeutsamen Gelehrten zu würdigen - obwohl wir erst im Dezemberheft unserer Zeitschrift ein kleines Porträt von ihm gezeichnet haben. Über Leopold von Ranke kann man - gerade auch in einer Zeit wie der unsrigen - gar nicht genug wissen. Und schließlich erhält sein Wappenspruch, den er sich wählte, als er geadelt wurde, heute eine ganz spezielle Aktualität: »Labor ipse voluptas - Die Arbeit selbst ist Glück!«

Ein Prototyp des deutschen Gelehrten

Der aus dem kursächsischen Wiehe an der Unstrut stammende Leopold Ranke kam Ostern 1825 nach Berlin, um als außerordentlicher Professor der Geschichte an der Universität zu lehren. Dieser Schritt war ihm durch sein Erstlingswerk »Geschichte der germanischen und romanischen Völker« (1824) geebnet worden, das bei maßgeblichen Zeitgenossen hohe Anerkennung fand.


Ranke ließ sich im Zentrum, Hinter der katholischen Kirche Nr. 2, häuslich nieder und fand auch schnell Anschluß an das geistige Leben der Stadt; er verkehrte im Salon der Rahel von Varnhagen, war mit Bettina von Arnim bekannt und genoß die Anerkennung von Karl August von Kamptz und Johannes Schulze aus dem preußischen Unterrichtsministerium.
     Charakteristisch für den Arbeits- und Lebensstil Rankes war eine enge Verknüpfung von akribischer Erforschung der Quellen, vielfältigen und breiten historischen Interessen, gestalterischer Kraft bei der Darstellung des historischen Materials und einer stabilen Anschauung von der Welt, der Zeit, der Ordnung und den Menschen. Nach einer Einschätzung des Historikers Heinrich von Sybel vereinigte Ranke »das feinste Verständnis in der Abschätzung und Benutzung der Quellen, einen auf reine Gegenständlichkeit gerichteten Sinn, der dem Darsteller die Gabe wünschenswert machte, sein Selbst gleichsam auszulöschen, das Bemühen, die Verknüpfung der Einzelerscheinung und des Allgemeinen aufzudecken, die angeborene Gestaltungskraft und Lebhaftigkeit des Ausdrucks«.
     Unzählige Arbeitsstunden verbrachte Ranke in Archiven beim Suchen, Lesen und Abschreiben des Materials. Viel Zeit investierte er in seine Vorlesungen und Übungen, die er über Jahrzehnte regelmäßig an der Universität durchführte.
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Und unermeßliche Zeit saß er am Schreibtisch, um seine Bücher zu schreiben bzw. sie später, als seine Augen zu schwach waren, zu diktieren. Es ist das geordnete, von einem riesenhaften Arbeitspensum bestimmte Leben des Gelehrten im 19. Jahrhundert - geradezu ein Prototyp, um nicht zu sagen Vorbild.
     Beinahe unüberschaubar sind seine Leistungen; weit über 50 Bände zählt sein Werk, wobei die Geschichte der Päpste, die deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation sowie die französische und englische Geschichte zu den bekanntesten zählen. Aber auch viele kleine Kostbarkeiten, wie z. B. »Die serbische Revolution«, sind bis heute noch lesenswert. Unterbrochen von einigen längeren und kürzeren Studienreisen, arbeitete Ranke in der preußischen Hauptstadt und erfuhr hohe Anerkennung. 1832 nahm man ihn in die Akademie der Wissenschaften auf, 1834 erhielt er eine ordentliche Professur, 1841 wurde er vom König zum Historiographen des preußischen Staates ernannt. 1854 schließlich wurde der stets konservativ und monarchisch eingestellte Ranke als Mitglied des Staatsrates berufen und 1865 geadelt. 1885 schließlich ernannte ihn Berlin zum Ehrenbürger.
     Auch privat gestaltete sich sein Leben erfolgreich. 1842 wurde sein Bruder Karl Ferdinand als Rektor

an das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium berufen und wirkte hier nachdrücklich auf die Lehrerbildung und die Förderung des Turnens ein. Während eines Studienaufenthaltes 1843 in Paris lernte Ranke Clarissa Graves aus Dublin kennen und lieben. Nach der Hochzeit zog er, inzwischen in der Jägerstraße 10 wohnend, ein letztes Mal um: Von nun an lebte die schnell wachsende Familie - zwei Söhne und eine Tochter - in der Luisenstraße 24. Am 23. Mai 1886 ist Leopold von Ranke hier gestorben. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Sophienkirchhof.

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Begründer des Historismus

Es ist nicht verwunderlich, daß ein Mann wie Ranke immer wieder verschiedenster Kritik ausgesetzt wurde und wird. Viele dieser Kritikpunkte sind berechtigt, bilden aber interessanterweise in ihrer Bündelung eine eigene Charakteristik des Berliner Gelehrten, die keineswegs im Negativen oder in Ablehnung enden muß.
     Ranke war in seiner Grundhaltung konservativ, propreußisch und monarchisch. Damit stand er für die liberalen und demokratischen Kräfte dieser Zeit auf der Seite der Berliner Hofpartei; seine ablehnende Haltung zur Revolution im allgemeinen und zur Märzrevolution 1848 im besonderen sowie sein persönlicher Umgang mit dem König bestärkten diese Ansicht noch.
     Ranke räumte dem Religiösen einen hohen Stellenwert in seinem Denken und Forschen ein; berühmt wurde seine Formel »jede Epoche ist unmittelbar zu Gott«. Unter den von einer religionskritischen Haltung geprägten Intellektuellen, die sich als Fortsetzer der Aufklärung verstanden, mußte das auf Widerspruch stoßen.
     Ranke war kein Hegel-Anhänger, sondern setzte sich immer wieder mit dem dialektischen Denken des Philosophen auseinander, wobei es vor allem um die Fortschrittsauffassungen sowie um die Beziehung von Allgemeinem und Besonderem ging.


Ranke lehnte die ihm spekulativ erscheinenden Züge der Hegelschen Philosophie ab. Doch aus der geistigen Auseinandersetzung mit der Dialektik hat auch er durchaus gewonnen.
     Schließlich warf man Ranke eine generelle Unterschätzung der wirtschaftlichen und sozialen Kräfte in der Geschichte vor. Das ergab sich vor allem aus seiner Betonung der Ideen und des Politischen in der Geschichte. So richtig diese Kritik auch ist, so darf man daraus aber keineswegs schließen, daß Ranke die materielle Basis der Gesellschaft nicht gesehen hätte.
     Trotz dieser kritischen Bewertungen, die es seit seiner Zeit zum Werk Rankes gab, bleibt seine großartige Leistung unbestritten. »Sein wissenschaftliches Ethos, sein Sinn für das Einmalige und Unvergleichbare einer historischen Situation, die sich nicht vollständig in das Gleichförmige und Typische historischer Prozesse zwängen läßt, seine universalhistorische Orientierung an der Totalität des geschichtlichen Ablaufs sind unverzichtbare Momente der historischen Erkenntnisse«, schreibt der Historiker Helmut Berding in einer knappen Skizze über Ranke.
     Leopold von Ranke gilt als einer der Klassiker des Historismus, jener Richtung des historischen Denkens, die sich im 19. Jahrhundert in Deutschland entwickelte und die großen Einfluß unter den Historikern gewann.
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Er begründete und demonstrierte seine Sicht von einer historischen Individualität als Ausgangspunkt und Ziel des geschichtlichen Wissens. Er wandte eine Art Verstehenslehre an, die er durchaus mit einer exakten Quellenprüfung verbinden konnte. Nicht zuletzt führte er ethische und ästhetische Aspekte in die Geschichtsbetrachtung ein. Zu seinen philosophischen Grundlagen gehörte mit Sicherheit Fichtes Konzept. Der Historiker Karl Lamprecht, der sich immer wieder mit Ranke auseinandersetzte, charakterisierte 1896 die theoretischen Grundlagen Rankes folgendermaßen: »So ist Ranke in jeder Faser seines Denkens, in jedem Zeitraum seines langen Lebens den kosmopolitischen Tendenzen seiner Jugendzeit treu geblieben, so treu, wie dem mystischen Idealismus einer auf der Grundlage der lutherischen Reformation sich erhebenden Identitätsphilosophie.


In die Luisenstraße 24a zog Ranke nach der Hochzeit mit Clarissa Graves.
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Aus beiden Quellen her floß seine historische Auffassung.«
     Ranke war ein Mann des 19. Jahrhunderts, beeinflußt von den Ideen, bestimmt durch Haltungen und Positionen dieses Jahrhunderts. Vor allem aber war er ein um Objektivität ringender Historiker: »Es setzt sich mir allmählich eine Geschichte der wichtigsten Momente der neueren Zeit fast ohne mein Zutun zusammen; sie bis zur Evidenz zu bringen und zu schreiben, wird das Geschäft meines Lebens sein. Ich bin zufrieden, daß ich weiß, wozu ich lebe ...«

Denkanstöße

Die Weltgeschichte würde in Phantasien und Philosopheme ausarten, wenn sie sich von dem festen Boden der Nationalgeschichten losreißen wollte; aber ebensowenig kann sie an diesem Boden haftenbleiben. In den Nationen selbst erscheint die Geschichte der Menschheit. Es gibt ein historisches Leben, welches sich fortschreitend von einer Nation zur andern, von einem Völkerkreis zum andern bewegt. Eben in diesem Kampf der verschiedenen Völkersysteme ist die allgemeine Geschichte entsprungen, sind die Nationalitäten zum Bewußtsein ihrer selbst gekommen; denn nicht durchaus naturwüchsig sind die Nationen. Nationalitäten von so großer Macht und so eigentümlichem Gepräge, wie die englische, die italienische,

sind nicht sowohl Schöpfungen des Landes und der Rasse, als der großen Abwandlungen der Begebenheiten.
     Was hat es nun aber auf sich, das allgemeine Leben der Menschheit und das besondere wenigstens der vorwaltenden Nationen zu erforschen und zu verstehen? Man dürfte dabei die Gesetze der historischen Kritik, wie sie bei jeder Untersuchung im einzelnen geboten sind, nicht etwa hintansetzen. Denn nur kritisch erforschte Geschichte kann als Geschichte gelten. Der Blick bleibt immer auf das Allgemeine gerichtet. Aber aus falschen Prämissen würden sich falsche Konklusionen ergeben. Die kritische Forschung auf der einen, das zusammenfassende Verständnis auf der andern Seite können einander nicht anders, als unterstützen. ...
     Im Laufe der Jahrhunderte hat das Menschengeschlecht gleichsam einen Besitz erworben, der in dem materiellen und dem gesellschaftlichen Fortschritt, dessen es sich erfreut, besonders aber auch in seiner religiösen Entwicklung besteht. Einen Bestandteil dieses Besitzes, sozusagen das Juwel desselben, bilden die unsterblichen Werke des Genius in Poesie und Literatur, Wissenschaft und Kunst, die, unter lokalen Bedingungen entstanden, doch das allgemein Menschliche repräsentieren. Dem gesellen sich, unzertrennbar von ihnen, die Erinnerungen an die Ereignisse, Gestaltungen und großen Männer der Vorzeit bei.
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Eine Generation überliefert sie der anderen und immer von neuem mögen sie aufgefrischt in das allgemeine Gedächtnis zurückgerufen werden, wie ich das zu unternehmen den Mut und das Vertrauen habe.
     Aus: Vorrede zu »Weltgeschichte«, 1880 ff.

Ich denke mich nicht zu täuschen oder die Schranken der Historie zu überschreiten, wenn ich an dieser Stelle ein allgemeines Gesetz des Lebens wahrzunehmen glaube.
     Unzweifelhaft ist: es sind immer Kräfte des lebendigen Geistes, welche die Welt so von Grund aus bewegen. Vorbereitet durch die vorangegangenen Jahrhunderte, erheben sie sich zu ihrer Zeit, hervorgerufen durch starke und innerlich mächtige Naturen, aus den unerforschten Tiefen des menschlichen Geistes. Es ist ihr Wesen, daß sie die Welt an sich reißen, zu überwältigen suchen. Je mehr es ihnen aber damit gelingt, je größer der Kreis wird, den sie umfassen, desto mehr treffen sie mit eigentümlichem, unabhängigem Leben zusammen, das sie nicht so ganz und gar zu besiegen, in sich aufzulösen vermögen. Daher geschieht es - denn in unaufhörlichem Werden sind sie begriffen -, daß sie in sich selbst eine Umwandlung erfahren. Indem sie das Fremdartige umfassen, nehmen sie schon einen Teil seines Wesens in sich auf: es entwickeln sich Richtungen in ihnen, Momente des Daseins, die mit ihrer Idee nicht selten in Widerspruch stehen. Es kann aber nicht anders sein, als daß in dem allgemeinen Fortschritt auch diese wachsen und gedeihen.

Es kommt nur darauf an, daß sie nicht das Übergewicht bekommen; sie würden sonst die Einheit und ihr Prinzip geradezu zerstören.
     Aus: Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten, 1834-1836

Nicht ein solches zufälliges Durcheinanderstürmen, Übereinanderherfallen, Nacheinanderfolgen der Staaten und Völker bietet die Weltgeschichte dar, wie es beim ersten Blicke wohl aussieht. Auch ist die oft so zweifelhafte Förderung der Kultur nicht ihr einziger Inhalt. Es sind Kräfte und zwar geistige, Leben hervorbringende Kräfte, selber Leben, es sind moralische Energien, die wir in der Entwicklung erblicken. Zu definieren, unter Abstraktionen zu bringen sind sie nicht, aber anschauen, wahrnehmen kann man sie; ein Mitgefühl ihres Daseins kann man sich erzeugen. Sie blühen auf, nehmen die Welt ein, treten heraus in dem mannigfaltigsten Ausdruck, bestreiten, beschränken, überwältigen einander; in ihrer Wechselwirkung und Aufeinanderfolge, in ihrem Leben, ihrem Vergehen oder ihrer Wiederbelebung, die dann immer größere Fülle, höhere Bedeutung, reicheren Umfang in sich schließt, liegt das Geheimnis der Weltgeschichte.
     Aus: Die großen Mächte. Fragment historischer Ansichten, 1833

Bildquellen:
Der Bär, Nr. 24/1879 und Nr. 40/1882

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/1996
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