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Hainer Weißpflug
Die »Dicke Marie«

Eine Berliner Eiche - älter als die Stadt

Der Bezirk Reinickendorf ist mit dem Tegeler Forst, mit seinen Seen, Pfuhlen, Moorgebieten und Fließen, mit den Dorfkernen und Freiflächen der ehemaligen Dörfer Tegel, Schulzendorf, Heiligensee, Frohnau, Hermsdorf, Wittenau (ehemals Dalldorf), Lübars und Waidmannslust ein an Naturdenkmalen reicher Bezirk. 1983 waren im Berliner Naturdenkmalbuch zehn Findlinge, drei Flächennaturdenkmale und 206 geschützte Bäume registriert. Neben Flächennaturdenkmalen wie den Flachmoorwiesen »In den langen Hufen« in Lübars oder dem Bumpfuhl in Heiligensee kann sich der Bezirk rühmen, den vermutlich ältesten Baum Berlins auf seinem Territorium zu haben.
     In Tegel, an der Großen Malche, der nördlichsten Bucht des herrlichen Tegeler Sees, wenige Schritte nur entfernt vom Gartenrestaurant »Waldhütte«, steht die »Dicke Marie«, eine stolze, knorrige Traubeneiche.
     Man erreicht sie mit dem Bus oder dem Auto von Norden her über Karolinenstraße/ Ecke Heiligenseestraße und Schwarzen Weg, oder wenn man vom U-Bahnhof Tegel


zu Fuß zum Tegeler Hafen geht und dann dem Uferweg am Tegeler See nach Norden folgt. Allein der Weg mit seinen Aussichten auf den See und die herrlichen alten Bäume sind schon einen Spaziergang wert, aber richtig belohnt wird der Naturliebhaber erst mit dem Anblick der „Dicken Marie".
     Auf einem Schild kann man lesen: »Der älteste Baum Berlins, unsere Eiche die >Dicke Marie<, Alter: ca. 900 Jahre, Höhe: ca. 26 m, Durchmesser: 2,30 m, Umfang in Brusthöhe: 6,05 m«.
     Seit 1939 steht die Eiche als Naturdenkmal unter Schutz. Fünf große Männer braucht es, will man den Stamm der alten »Dame« umfassen. Während sich Daten wie Höhe, Stammumfang und Durchmesser recht genau bestimmen lassen, ist es mit den Lebensjahren so eine Sache.
     1956 konnte man in einer Zeitungsnotiz lesen, daß die »Dicke Marie« an einem Sonntag im Juni ihren 1 000. Geburtstag feierte. Als Geburtsjahr wurde 956 angegeben, die Zeit der Herrschaft des Römisch-Deutschen Kaisers Otto I. (936-973).
     Dreißig Jahre später, 1986, war der Baum plötzlich 300 Jahre jünger. Die »Berliner Morgenpost« stellte ihn als eine 700 Jahre alte Eiche vor. Für die BZ vom 24. März 1986 dagegen wurde »Marie« 800 Jahre alt. Dieses Alter wurde ihr auch in einer Veröffentlichung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz bescheinigt. 1)
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     Die unterschiedlichen Angaben resultieren sicher aus Schätzungen in verschiedenen Literaturquellen, da sich eine exakte Jahresringanalyse, die Aufschluß über das genaue Alter geben könnte, nicht vornehmen läßt, ohne das Denkmal zu zerstören: Ohne Fällung keine Jahresringanalyse! So einfach ist das. Auch vergleichende Analysen sind nur schwer möglich. Sicher könnte man aus der Jahresringanalyse ebenfalls sehr alter Eichen in der Umgebung Rückschlüsse auf das Alter ziehen. Da aber die konkreten Standortbedingungen zu unterschiedlichem Dickenwachstum führen, ist die Übertragung der Altersermittlung des einen Baumes auf einen anderen immer ungenau. Auf die »Dicke Marie« trifft dieser Umstand um so mehr zu, da es keine Eiche - und schon gar keine ähnlich alte - in ihrer Nähe gibt. So bleiben nur Schätzungen. Und Spekulationen. Und von Heimatliebe und Lokalpatriotismus getragene Übertreibungen.
     Egal ob nun 1 000 Jahre, 800 oder nur 700 - der Anblick dieser mächtigen Eiche läßt jeden Streit in den Hintergrund treten. Im Spätherbst und Winter, wenn der Baum kein Laub mehr hat, sieht man gut den bis zum Wipfel durchgehenden Stamm, ein typisches Unterscheidungsmerkmal der Traubeneiche gegenüber der Stieleiche.

Berlins ältester Baum »Dicke Marie«
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In der Vegetationsperiode trägt die »Dicke Marie«, trotz ihres Alters und vieler Narben, noch immer ein üppiges Laubkleid. Dann erkennt man den Baum als Traubeneiche auch an seinen Blättern. Entlang der Mittelrippe auf der Unterseite der gestielten Blätter befinden sich Büschelhaare, die andere Eichen nicht haben. Am leichtesten als Traubeneiche zu identifizieren ist der Baum wohl im Herbst, wenn er seine typisch traubenförmig angeordneten Früchte trägt.
     Es ist wohl dem hohen Alter des Baumes geschuldet, daß viele Sagen und Geschichten über die »Dicke Marie« erzählt werden. So auch die Sage vom Aufhocker, die jeder nachempfinden kann, der an einem späten, nebligen Abend im Hohlweg vor der Eiche steht: »In ihrer Nähe war es früher nicht geheuer. Menschen, die nachts an der Eiche vorbeikamen, hatten plötzlich das Gefühl, als wäre jemand auf sie gesprungen, als trügen sie eine schwere Last auf ihrem Rücken. Saß da vielleicht ein Kobold auf ihrem Kreuz? Erschreckt flüchteten sie und liefen schreiend davon. Aber erst, als sie sich ein gehöriges Stück weit von der unheimlichen Eiche entfernt hatten, verschwand der Druck von ihrem Rücken. Der Aufhocker war abgesprungen und wieder zu seinem Schlupfwinkel im Baum zurückgekehrt.« 2)
     In den meisten Veröffentlichungen wird der Name »Dicke Marie« aus dem Volksmund heraus erklärt.
So soll die Eiche nach einer stattlichen Köchin namens Marie benannt worden sein, die einst im unweit gelegenen Schloß Tegel für das leibliche Wohl der Gäste sorgte. In der »Berliner Morgenpost« vom 2. April 1986 geht man einen Schritt weiter und weiß es noch genauer: »Bei der >Dicken Marie< handelt es sich natürlich nicht um eine Frau, sondern um den ältesten Baum Berlins, der im Jagen 74 des Tegeler Forstes steht. Eine Eiche, die es schon den Humboldt-Brüdern angetan haben muß. Sie gaben dem zu ihrer Zeit schon etwa 500 Jahre alten Baum in der Nähe des Schlosses Tegel den Namen der korpulenten Köchin Marie.« 3) In besagter Veröffentlichung der Senatsverwaltung dagegen wird noch ein anderer Name des Baumes erwähnt. So soll die Eiche auch den Namen »Mutter Dossen« getragen haben. Leider ist trotz intensivster Recherche auch im Heimatmuseum in Reinickendorf für keine der Namensgebungen eine entsprechende Quelle zu finden. Sicher ist nur, daß der Volksmund dem Baum seinen Namen gegeben hat.
     Schließlich gibt es noch eine interessante Vermutung, die, sollte sie Bestätigung finden, auch für die Bestimmung des Alters der »Dicken Marie« von Interesse ist. Die Eiche gehört zu den auffälligen Reliktstrukturen des Gutsparkes Tegel und seiner unmittelbaren Umgebung.
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Dem vermutlichen Alter nach blieb der Baum in der Zeit der Besiedlung des Gebietes und den damit verbundenen Rodungen erhalten und auch späterhin davon verschont. Es wird vermutet, daß dies mit dem Verlauf der Grenzlinie zwischen den Gemarkungen Tegel und Heiligensee in Zusammenhang steht. Die »Dicke Marie« bildet zusammen mit der im Gutspark Tegel befindlichen ca. 500 Jahre alten Humboldteiche und einem dazwischen befindlichen Baumstumpf einer ebenfalls sehr alten Eiche eine Linie, die möglicherweise jene Grenze gewesen ist. In der BZ vom 24. März 1986 wird dazu bestätigend vermerkt, daß der Baum auf alten Karten als Grenzbaum verzeichnet sei. Bleibt abschließend nur zu hoffen, daß uns die »Dicke Marie« noch lange Zeit als Denkmal der Natur erhalten bleibt und die vielen Besucher des Tegeler Sees und seiner Umgebung nicht achtlos am wahrscheinlich ältesten Baum Berlins vorübergehen. Immerhin scheint er älter als Berlin zu sein.
Quellen:
1 Berliner Naturdenkmale. Naturschutz und Landschaftspflege Berlin (West), Heft 3/1984
2 Wilhelm Tessendorf: Der Bezirk Reinickendorf in Sage und Geschichte, Pädagogische Verlagsgemeinschaft Berlin, 1953, S. 53
3 Methusalem der Bäume steht im Tegeler Forst, In: »Berliner Morgenpost« vom 2. April 1986

Bildquellen:
Zeichnungen »Dicke Marie« und Standort Eiche von H. Weißpflug, Herbst 1995

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/1996
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