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Der wiedervereinigte Wilhelm Hensel

Die Historikerin Cécile Lowenthal-Hensel erforscht mit der Geschichte auch Familiengeschichte

Sie war Anfang 40, als sie, einer interessanten Arbeit wegen, 1965 nach Berlin kam. Obwohl ihre Familie hier ihre Wurzeln hat, zog die gebürtige Erlangerin vorher nichts in diese Stadt. Cécile Lowenthal-Hensel stammt aus der Mendelssohn-Familie, über die ihr Urgroßvater Wilhelm Hensel einst sagte: »Die Welt besteht aus der Familie Mendelssohn und einigen guten Freunden und Bekannten.« In ihrem Wohnzimmer hängt ein berühmtes Ölgemälde aus der Zeit um 1780, das den Ahnherren, den Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn, zeigt.

Geschichte war für Sie von Kindheit an auch Familiengeschichte, Moses Mendelssohn, Fanny und Felix Mendelssohn Bartholdy, der Maler Wilhelm Hensel ... Hat das Ihren Berufswunsch geprägt?
     Cécile Lowenthal-Hensel: Nein, ich wollte eigentlich Sängerin, Tänzerin, Schauspielerin werden und war auch begabt dafür. Daran war aber wegen meiner jüdischen Herkunft während der Nazizeit nicht zu denken.


Nach den Nürnberger Gesetzen galt ich als Drei-Achtel-Jüdin. Berühmte Vorfahren können belasten. Als Kind hatte ich auch durchaus meine Probleme mit der Familiengeschichte. Ich habe meiner Mutter einmal vorwurfsvoll gesagt, daß ich doch keine Kartoffel sei, bei der sich das Beste unter der Erde befindet.

Wie kam es dann zur Beschäftigung mit der Geschichte?
     Cécile Lowenthal-Hensel: Nachdem ich 1938 unter fadenscheinigen Gründen vom Erlanger Gymnasium geworfen wurde, mußte ich ja versuchen, eine Ausbildung zu erhalten. Mein Vater war Universitätsprofessor für Philosophie. Aus Loyalität und aus Anstand verhalfen mir einige seiner Kollegen dazu, daß ich mich als Gasthörerin für das Fach Geschichte einschreiben konnte. Bei zwei Historikern konnte ich sogar Seminare belegen. Ich suchte mir damals auch mein Thema für die Dissertation, »Die Wandlungen des Wallensteinbildes in der deutschen Fachliteratur«. Eine Arbeit auf dem damals noch wenig beachteten Gebiet der Historiographie. Das reizt mich bis heute besonders. Ich wollte wissen, wie überlieferte Geschichte entsteht, wie ein Mensch gewesen ist, wie über ihn gesprochen und geschrieben wurde und warum. Die Geschichten in der Geschichte interessieren mich.

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Sie haben dann als Journalistin in Deutschland und der Schweiz gearbeitet. Gab bei der Wahl des Arbeitsortes Berlin die Familientradition den Ausschlag? Sie sind ja in den letzten Jahren vor allem mit neuen Ergebnissen in der Hensel-Forschung an die Öffentlichkeit getreten.
     Cécile Lowenthal-Hensel: Nach Berlin kam ich, da mir am Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz eine Stelle angeboten wurde. Ich arbeitete als wissenschaftliche Angestellte, ab 1970 wissenschaftliche Rätin bzw. Oberrätin und war vor allem zuständig für Publikationen und Ausstellungen. Ich erinnere an »Bismarck in der Karikatur«; »Der unbekannte deutsche Staat - der norddeutsche Bund 1867-1871«, »Hardenberg und seine Zeit«, »Helmuth von Moltke«, »Otto Braun« und »50 Jahre Bistum Berlin«. Für den Maler Wilhelm Hensel habe ich bis 1980 eigentlich immer nebenberuflich gearbeitet. Immer, wenn ich mal Zeit hatte und schnaufen konnte, kam er dran.

Und wie wurde die Urenkelin zur Forscherin über den Berliner Maler Hensel?
     Cécile Lowenthal-Hensel: Mein erster Ausflug in die Hensel-Forschung fand in meinen Kindertagen statt. Meine Mutter war sehr stolz auf ein hübsches Porträt, das Hensel in der römischen Campagna zeigt. Sie erzählte oft, es sei von Hensels Lieblingsschüler Kaselowsky gemalt worden.
     Eines Tages stieg ich auf einen Stuhl, um mir die Signatur näher anzusehen. Da stand, zwar schwer zu lesen, aber trotzdem zu erkennen:

A. Pietrowski. Alexander Maximilian Pietrowski war auch ein Schüler von Wilhelm Hensel, aber nach Meinung meiner Mutter nicht so fein wie Kaselowsky. So mußte eine Familienlegende begraben werden. Das war aber für lange Zeit meine einzige Beschäftigung mit Hensel. 1965 kam ich nach Berlin, 1967 gründete ich die Mendelssohn-Gesellschaft. Ab 1967 habe ich mich dann auch intensiver mit Wilhelm Hensel beschäftigt, weil Max F. Schneider, der erste Leiter des Mendelssohn-Archivs, mich bat, den Katalog der Hensel-Zeichnungen von dessen Sohn Sebastian neu zu bearbeiten.

Vom preußischen Hofmaler Hensel sind heute weit über 1 000 Zeichnungen bekannt, man sagt, er schuf eine Physiognomie des geistigen Europas des 19. Jahrhunderts. Ohne diese Zeichnungen wüßten heute Historiker und Kunsthistoriker sehr viel weniger.
     Cécile Lowenthal-Hensel: Wilhelm Hensel lebte von 1794 bis 1861, mit 16 Jahren kam er nach Berlin und wurde in die Königliche Akademie der Künste aufgenommen, wo er zwei Jahre später schon das erste Mal ausstellte. Man hat die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts oft als die hohe Zeit der Geselligkeit bezeichnet, die von einfachen Treffen bis zu den Salons der unterschiedlichsten Art reichte. Es gab Salons, in denen der Adel verkehrte, Salons, in denen sich hauptsächlich Dichter und Publizisten trafen, und dann gab es die Mischsalons, wie ihn beispielsweise Rahel Varnhagen führte.

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Für alle wurde Hensel der zeichnende Chronist. Der Rahmen seiner Freunde und Bekannten war aber weiter gesteckt und erweiterte sich dann durch das Haus des musikliebenden Berliner Bankiers Abraham Mendelssohn Bartholdy. Abraham bezeichnete sich als »zuerst Sohn seines Vaters« (Moses Mendelssohn) und dann als »Vater seines Sohnes« (Felix Mendelssohn Bartholdy). 1829 heiratete Hensel die Schwester von Felix, Fanny Mendelssohn Bartholdy. In diesem Jahr entstanden besonders viele Porträts aus der Familie Mendelssohn Bartholdy und dem großen Kreis der Freunde und Besucher. Hensel porträtierte aber nicht nur die führenden Köpfe Berlins, er hat zum Beispiel cirka 60 Engländer gezeichnet, 40 Franzosen, 40 Italiener, 60 Österreich-Ungarn. Hensel hat uns wirklich einen europäischen Porträtschatz hinterlassen.

Man nannte sie die Unzertrennlichen: Wilhelm Hensel und der Porträtist August Grahl (1791-1868). In Rom haben sie sich gegenseitig porträtiert.

August Grahl: Wilhelm Hensel

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Zur Ausstellung »Preußische Bildnisse des 19. Jahrhunderts«, die 1981 in der Nationalgalerie gezeigt wurde, erschien Ihr umfangreicher Katalog mit den Biographien vieler berühmter, aber heute fast vergessener Zeitgenossen von Hensel. So ist eine Geschichte in Geschichten über Berlin zwischen 1820 und 1860 entstanden. Es muß eine wahre Sisyphusarbeit gewesen sein, zu den über 200 Personen Material zu finden und aufzubereiten. Wie lange haben Sie daran - und wie Sie sagen nebenberuflich - gearbeitet? Was war besonders schwierig?.
     Cécile Lowenthal-Hensel: 1981 war ich bereits pensioniert. Trotzdem war es eine Riesenarbeit, wenn auch zum Glück keine Sisyphusarbeit, denn sie war nicht vergebens. Zu etlichen Porträtierten waren auch bereits Unterlagen vorhanden. Aber das Aussuchen der Zeichnungen, der Aufbau des Katalogs, die Recherchen zu den Biographien und nicht zu vergessen das Schreiben - all das mußte innerhalb von etwas über einem halben Jahr geleistet werden. Heute könnte ich das nicht mehr.

Wilhelm Hensel: August Grahl

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Als das Schauspielhaus nach dem Brand von 1817 wieder aufgebaut wurde, forderte Baumeister Schinkel auch Hensel zur Mitarbeit auf.
     Cécile Lowenthal-Hensel: Dabei übernahm Hensel die Decken- und Wandgemälde in einem der Vorräume zum Konzertsaal. Der praktische Schinkel ließ sie nicht als Fresken ausführen, sondern auf Holzplatten. So konnten sie abgenommen und gereinigt werden. Schinkel verschaffte Hensel auch den Auftrag, sich 1821 an dem berühmten Hoffest »Lalla Rookh« zu beteiligen, das Friedrich Wilhelm III. für seine Lieblingstochter Charlotte ausrichtete, die den damaligen Großfürsten und späteren Zaren Nikolaus geheiratet hatte. Das war ein indisches Fest mit einem riesigen Festzug. Hensel hat unter der Regie von Schinkel die lebenden Bilder gestaltet, die er dann auch in Zeichnungen für die Großfürstin festgehalten hat.

Nach seinem Tod 1861 wurde Wilhelm Hensel im Familiengrab Mendelssohn Bartholdy/Hensel auf dem Kreuzberger Dreifaltigkeitsfriedhof beigesetzt. Auf dem Grabkreuz ist als Geburtsort Linum angegeben, er wurde aber in Trebbin geboren.
     Cécile Lowenthal-Hensel: Diese falsche Angabe hatte übrigens schon Theodor Fontane irritiert, der Hensel noch persönlich kannte. Wie der Ort Linum, in den die Familie Hensel zog, als Wilhelm zwei Jahre alt war, auf das Grabkreuz kam, konnte ich bis heute nicht aufklären.

Sein Sohn Sebastian hat später die Porträtsammlung geordnet. Ein geringer Teil wurde von ihm bereits 1881 an die Nationalgalerie verkauft - diese Zeichnungen befanden sich im Ostberliner Kupferstichkabinett. Den größten Teil der heutigen Sammlung erwarb die Westberliner Nationalgalerie 1956 - also ein lange in West und Ost geteilter Hensel ...
     Cécile Lowenthal-Hensel: ... der nun zum Glück wieder zusammengeführt ist. Zum 200. Geburtstag Hensels fand 1994 eine Ausstellung in Berlin statt (Katalog: Wilhelm Hensel 1794-1861, Porträtist und Maler - Werke und Dokumente, Wiesbaden 1994). Diese Ausstellung hätte es so vor 1989 niemals geben können. Das ist auch für meine weitere Arbeit ein Glücksfall, denn ich habe das Kapitel Wilhelm Hensel noch längst nicht abgeschlossen. Seine Biographie und ein Gesamtkatalog der Porträtzeichnungen müssen noch fertiggestellt werden.

Schaut Ihnen Ahnherr Moses manchmal von seinem Ölgemälde herab bei der Beschäftigung mit den »Familienangelegenheiten« zu?
     Cécile Lowenthal-Hensel: Das will ich doch hoffen. Wenn ich etwas überlege, sag ich schon mal, Moishe, was meinst du dazu?

Das Gespräch führte Jutta Arnold
Bildquelle: Katalog

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/1996
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