102   Berichte und Rezensionen   Nächstes Blatt
Zentrum für Berlin-Studien im Ribbeckhaus

Seit dem 4. März d. J. besitzt Berlin eine Top- Adresse für jeden, der in irgendeiner Weise an der Berliner Geschichte interessiert ist: das Ribbeckhaus, Breite Str. 36, 10178 Berlin (gleich neben dem Marstall). Endlich kann das breite Berliner Publikum dieses architektonische Kleinod der deutschen Hauptstadt frank und frei betreten - das einzige über die Zeiten, Kriege und Abrißwütereien gerettete Berliner Baudenkmal aus der Renaissance. 1624 als Wohnhaus fertiggestellt, mußte es schon nach dem Dreißigjährigen Krieg renoviert werden; im 18. Jahrhundert mutierte es dann zum Sitz von königlichen Oberbehörden, z. B. des Oberappellationsgerichts und der Oberrechnungskammer. Der Zweite Weltkrieg hinterließ am Gebäude deutliche Spuren, jedoch wurde es von der Denkmalpflege der DDR liebevoll wiederhergestellt und Berliner Ablegern von DDR- Organisationen zur Verfügung gestellt: Angesiedelt waren dort der Bund der Architekten, der Frauenbund und die Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund. Nach einem Zwischenspiel von 1991 bis 1994 als Domizil der »Berlin 2000 Olympia GmbH« steht es nun nach mancherlei Gerangel (der Senat wollte es Ende 1994 zum Verkauf stellen und mußte sich vom »Tagesspiegel« daraufhin die pikierte Frage gefallen lassen, wann er wohl das Brandenburger Tor zu vermieten gedenke!) wieder den Enthusiasten der Berlin- Geschichte zur Verfügung: Eine wissenschaftliche Institution gänzlich neuen Zuschnitts vereint dort die endlich zu Nutz und Frommen der Berlin- Forschung zusammengeführten bisherigen Spezialabteilungen für Berlin- Literatur der Amerika- Gedenkbibliothek am Hallischen Tor und der Stadtbibliothek in der Breiten Straße zum »Zentrum für Berlin- Studien«, einer eigenen Abteilung der im wiedervereinten Berlin neugeschaffenen Stiftung Zentral- und Landesbibliothek Berlin.

Das bedeutet, daß ein Fundus von etwa 60 000 Büchern, 20 000 Postkarten, rd. 300 000 Dokumenten in den verschiedensten Zugangsformen (also z. T. als Originale, z. T. als Mikrofilme, z.T. als Mikrofiches) versammelt und verfügbar ist - und zwar alles mit einem Berlin- Bezug, und fast alles im Frei-Hand- Verfahren zugänglich. Man möchte den wirklich engagierten Bibliothekaren der neuen Einrichtung angesichts solch benutzerfreundlichen Angebots von ganzem Herzen gönnen, keine Enttäuschungen wegen eintretender Verluste oder wegen der unübersehbaren Spuren künstlerischer Betätigung kreativer Jugendlicher erfahren zu müssen! Im Allgemeininteresse und aus der Verantwortung vor künftigen Generationen an Berliner Geschichte Interessierter werden sie wohl die 40 Nutzerplätze im aufmerksamen Auge zu behalten haben.
     Die atemberaubende Entwicklung der Informationsgesellschaft macht andererseits bei der Eröffnung vorgetragene bibliothekarische Überlegungen hinsichtlich einer künftigen virtuellen Bibliothek, in der das originale Druckerzeugnis nur noch über den Computer benutzt wird, keineswegs zu langfristigen Träumen, sondern zu vielleicht schon demnächst anwendbaren Möglichkeiten: das im PC eingescannte Dokument, das wegen seines gefährdeten Zustands nicht mehr im Original vorgelegt werden kann, ist in Sekundenschnelle auf den PC-Screen zu zaubern und so wieder unbegrenzt benutzbar. Schon bietet das »Zentrum« einen Service, nach dem sich jeder Berlin- Historiker schon immer gesehnt hat: Alle bibliothekarisch asservierten Berliner Zeitungstitel seit 1740 sind im Mikrofilm zugänglich, dürfen vom Benutzer selbst nach Titel und Jahrgang ausgesucht und in das Lesegerät eingelegt werden - phantastisch! Es bedarf nicht gerade großer Prophetengabe, um angesichts solcher Bedingungen vorauszusagen, daß die Spalte »Vor hundert Jahren« in Berliner Tageszeitungen, Wochen- und Monatsschriften zukünftig einen neuen Boom erleben wird ...
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   103   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
 Über die bibliothekarische Betreuung der »Fans« von Berliner Geschichte hinaus will das »Zentrum für Berlin- Studien« auch weitere kulturelle Aktivitäten entfalten. Die Zusammenarbeit mit regional- und fachspezifischen Partnern wird von der Stiftung Zentral- und Landesbibliothek Berlin als selbstverständlich angesehen: Bei der Eröffnung des »Zentrums« wurden u. a. namentlich die Historische Kommission Berlin- Brandenburg, die Landesgeschichtliche Vereinigung Berlin- Brandenburg, die Landeszentrale für politische Bildung, das Berlin- Forschungsprogramm der Freien Universität genannt. Bei der Aufzählung möglicher Partner wurde betont, daß man sich für den Mangel an Vollständigkeit entschuldige - da schmerzt es schon nicht mehr so sehr, daß sich der Luisenstädtische Bildungsverein nicht unter den Genannten fand - zumal er sich mit dem ebenfalls nicht benannten Verein für die Geschichte Berlins in guter Nachbarschaft fühlen kann. Die zentrale Adresse des »Zentrums« lockt natürlich Veranstalter berlinspezifischer Couleur zu offener und fruchtbarer Zusammenarbeit - und auf eine entsprechende Frage wurde von der Seite des »Zentrums« erfreulich aufgeschlossen reagiert. Den Initiatoren des »Zentrums« schwebt ohnehin eine Studien- und Forschungsstätte zum Themenschwerpunkt Berlin mit diversifizierter Veranstaltungs- und Programmarbeit vor, die sich in einer breiten Palette von wissenschaftlichen Streitgesprächen, Vorstellungen neuer Forschungsergebnisse, Präsentationen neuer berlinspezifischer Publikationen, Lesungen und (natürlich bleiben die modernsten Trends nicht unberücksichtigt!) Cyberspace- Touren niederschlagen soll.
     Bei der gediegen- feierlichen Eröffnung vor Berliner Bibliothekaren, Archivaren, Historikern und Verlegern am 3. März ließ es sich dann im Vorgriff auf die künftige Existenz eines solchen ambitionierten Kulturorts auch Heinz Knobloch trotz seines auf denselben Tag fallenden 70. Geburtstages nicht nehmen,
der Einladung der Stiftung zu einer Lesung mit Kostproben seiner Berliner Feuilletons zu folgen und so auch anderen Berliner Autoren den Weg für kommende Veranstaltungen im Ribbeckhaus zu weisen.
     Kurt Wernicke

 

Islam in Europa

Birmingham, Marseille, Berlin
Ausstellung des Museums für Europäische Migration in der »Werkstatt der Kulturen«, Berlin- Neukölln

Nach seiner 1994 gezeigten Ausstellung »Was wäre Berlin ohne die Berliner?« (vgl. BM 8/1994), in der die deutsche Hauptstadt eindrucksvoll als ein ebenso traditioneller wie auch gegenwärtiger Schmelztiegel ethnisch verschiedener Komponenten vorgeführt wurde, legt die verdienstvolle Einrichtung unter ihrem rührigen Leiter Dr. Jochen Blaschke nun einen weiteren Beweis ihres wohl doch dringend notwendigen Wirkens vor: durch nüchterne Darlegung von Fakten Verständnis zu schaffen für das Phänomen des Einströmens bis dato ungewohnter Kulturen in eine mehr oder weniger festgefügte Gesellschaft mit tradierten kulturellen Mustern. Diesmal wendet sie sich einem Thema zu, das noch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ganzen politischen Lagern Europas Schauer über den Rücken gejagt hätte, denn es hätte die simpel vereinfachende Basis für eine kämpferische Identifikation des Kontinents als gemeinsamem Hort christlicher Zivilisation infrage gestellt: dem bloßen Fakt, daß dieser selbstgefällig christliche Kontinent eine zahlenmäßig wachsende Bevölkerungsminderheit zu verarbeiten hat, die einer anderen großen Weltreligion angehört, nämlich dem Islam.

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   104   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Seit der Mitte der 50er Jahre sind immerhin mehr als fünf Millionen Muslime in Westeuropa ansässig geworden - Einwanderer aus den Ländern des islamischen Orients und die von diesen Migranten Abstammenden. Um überhaupt erst einmal in das Thema einzuführen, widmen sich die ersten acht der insgesamt 20 Ausstellungstafeln der Vorstellung des Islam als Lebensanschauung, Ritus, Kulturspender und Politikimpuls. Tafel neun (»Islam in Westeuropa«) macht exemplarisch mit dem Anteil von Muslimen in den drei volkreichsten westeuropäischen Staaten - Deutschland, Frankreich, Britannien - bekannt: In Deutschland und in Frankreich leben jeweils 1,7 Millionen, auf den Britischen Inseln mehr als 800 000; damit sind sie nach den Christen und den Konfessionslosen jeweils zur drittgrößten lebensanschaulichen Gruppe in diesen Ländern geworden. Schon die erste Welle der Einwanderer hat sich natürlich nicht unbedingt die ärmsten Regionen zum Zielpunkt ihres Ansässigwerdens ausgesucht, und so wird man sie in Nordschottland oder der Camargue z. B. mit der Lupe zu suchen haben. Die Ausstellung beschränkt sich dankenswerterweise auf drei Stadtregionen, um konkrete Probleme des muslimischen Lebens in der Diaspora anzusprechen - je eine in Britannien, in Frankreich und in Deutschland. Dabei sind die Herkunftskreise der islamischen Zuwanderer in jeder dieser drei Stadtregionen aus konkreten historischen Gründen ziemlich unterschiedlich: In Birmingham sind es Pakistanis aus der einstigen Perle des Britischen Empire; in Marseille sind es vorrangig Algerier, denen aus der Zeit der Zugehörigkeit ihrer Heimat zu Frankreich die französische Staatsbürgerschaft zusteht; in Berlin sind es in erster Linie Türken, die für den abgeschnürten Westteil der Stadt einst als hochwillkommene Arbeitskräfte geworben wurden. (Auch diese drei Gemeinden, das deutet die Ausstellung an, würden unter einem gemeinsamen Dach sicherlich aufgrund unterschiedlicher ethnischer Herkunft und unterschiedlicher Traditionen nicht ohne Reibungen zusammenleben können ...)
     Von den verbleibenden elf Tafeln widmen sich jeweils drei einer der Städte (aufgeteilt nach der Übersicht über den Stellenwert von Ausländern in der Stadt; der Position des Islam als Religion im kommunalen Leben; Alltag und Politik im Leben der ansässigen Muslime). Die beiden letzten Tafeln widmen sich wieder übergreifenden Problemen, nämlich den Konflikten innerhalb des islamischen Exils und der Herausforderung an Europa, die sich aus der künftigen Selbstverständlichkeit einer dritten monotheistischen Religion (neben dem konfessionell gespaltenen, aber notgedrungen interkonfessionell zumeist in Maßen tolerant gewordenen Christen- und dem Judentum) ergibt. Die nüchterne Sprache der Zahlen, die die Eingangstafel zum Unterthema Berlin mitteilt, ist geeignet, das ganze Islam- Problem Berlins mit äußerster Gelassenheit anzugehen: 3 053 784 Deutschen und 11 918 Türkischstämmigen mit deutscher Staatsbürgerschaft (letztere wohl zumeist Muslime) stehen danach 403 667 Ausländer gegenüber (Zahlen von Ende 1993), von denen 138 457 türkische Staatsbürger sind. Zusammen mit den wohl etwa 25 000 Bekennern des Islam unter den anderen Ausländern kann man so auf eine Zahl von ca. 175 000 Muslimen in Berlin kommen - das sind rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung! Dieser Anteil entspricht in etwa dem Anteil der Katholiken an der Berliner Bevölkerung um 1870 - als es tatsächlich einer aufputschenden Journaille gelang, etliche tausend protestantische Berliner (und nicht etwa ausschließlich solche aus den Unterschichten!) unter konfessionellen Schlagworten zur Hatz auf religiöse Stätten der katholischen Minderheit zu mobilisieren.
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   105   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Heute könnte nur noch ein geistig Abnormer auf den Gedanken kommen, in dem immer noch mehrheitlich protestantischen Berlin aus dem inzwischen selbstverständlichen Vorhandensein katholischer Gemeinden auf dem Umweg über die Verketzerung der anderen Konfession Munition für Ängste und Intoleranz zu fabrizieren. Das ist eine beruhigende Erkenntnis, die sinngemäß auf die absehbare Selbstverständlichkeit einer auch im Berliner Alltag sichtbaren Präsenz islamischer Gotteshäuser und islamischer Gläubiger einzustimmen vermag.
     Die Ausstellung in der zum kulturellen Begegnungszentrum sinnvoll umfunktionierten einstigen Löwen- Böhmisch- Brauerei, Wissmannstraße 31-42 (nahe dem Hermannplatz), ist dienstags bis sonntags von 12.00 bis 18.00 Uhr bei freiem Eintritt zugänglich (montags geschlossen). Eine Kleinfassung der 20 Ausstellungstafeln - statt Katalog - ist erhältlich.
     K. G. Williw
 

Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945/46, Teil I: 1945

Bearbeitet und eingeleitet von Dieter Hanauske, Berlin Verlag Arno Spitz GmbH, Berlin 1995 (Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, Bd. 2, Teil 1)

In seiner Sitzung vom 17. Dezember 1945 beschäftigte sich der Berliner Magistrat im Beratungssaal seines Stadthauses, Parochialstraße 1 - 3, u. a. mit den substantiellen Verlusten in den Berliner Wäldern, die durch die verschiedenen Aktionen zum Holzeinschlag verursacht wurden. Diese Aktionen waren eine Folge der Tatsache, daß die Alliierte Kommandantur - oberste Instanz in der Vier-Sektoren- Stadt - am 21. August 1945 angeordnet hatte, im bevorstehenden Winter keine Haushaltkohle zu liefern und statt dessen »bewaldete Teile« im Stadtgebiet festzulegen, aus denen sich die Bevölkerung in eigener Initiative mit Holz zu Beheizungszwecken versorgen solle - durch das Fällen beschädigter Bäume, wie die militärischen Verwalter der Fast- drei-Millionen- Stadt aus dendrologischer Fürsorge meinten.

Holz holten sich die Berliner darüber hinaus aus den vielen Ruinen - wie viele dabei ihr Leben nicht nur riskierten, sondern auch verloren, benennt keine Statistik, ruft kein Gedenkstein in Erinnerung. Seit November 1945 lief eine zweite von der Alliierten Kommandantur befohlene, nun behördlich organisierte Holzbeschaffungswelle: »Die Amerikaner und Briten sind darangegangen, das Holz durch Ausholzen des Tiergartens und unter Heranziehung der Berliner Waldungen zu beschaffen. Die Russen haben das Holz in den Berliner Stadtforsten und in Provinzforsten geschnitten«, konstatierte Stadtkämmerer Dr. Siebert. Er beklagte die Ausplünderung des Berliner Waldes »mit all ihren unabsehbaren Folgen« und stellte bitter fest: »Der Brennstoffbedarf Berlins kann unmöglich weiterhin durch Holz allein gedeckt werden.«
     Diesen Einblick in Alltagszustände und Behördenprobleme vor 50 Jahren verdanken wir einer Publikation, die zum Jahresende 1995 vom Landesarchiv Berlin der Öffentlichkeit übergeben wurde: die Sitzungsprotokolle des ersten Berliner Nachkriegsmagistrats, der Mitte Mai 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzt, im Juli dann von der Alliierten Kommandantur bestätigt wurde und bis zur Wahl des nachfolgenden Magistrats durch die am 20. Oktober 1946 gewählte Stadtverordnetenversammlung Anfang Dezember 1946 fungierte. Zunächst ist Band 1 erschienen, der die Zeit vom 20. Mai bis Jahresende 1945 umfaßt; Band 2 mit den Protokollen von 1946 soll noch in diesem Jahr zugänglich sein.
     Es gibt kein vergleichbares Material über die Sitzungen früherer oder späterer Berliner Stadtregierungen - nie wurden Verhandlungsprotokolle angelegt, es blieb immer bei Beschlußprotokollen! Die Ausnahmeregelung im Magistrat unter Oberbürgermeister Arthur Werner verdankt die Nachwelt Werners kommunistischem Ersten Stellvertreter Karl Maron, der die Neuerung des Verlaufsprotokolls einführte. So sind wir jetzt im Besitz eines einzigartigen Dokumentenbandes, der Einblicke und Einsichten ermöglicht und verschafft, wie sie so hautnah und so kontinuierlich auch nicht durch ein Kompendium zeitzeugnerischer Erinnerungen und Reflexionen herbeigeführt werden können.
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   106   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Weitestgehend frei von Emotionen, benennt die nüchterne Verwaltungssprache den nicht mehr nachempfindbaren Wust von Problemen, dem Berlin durch das Knäuel von Zerstörung, Kriegsfolgen und Vier-Mächte- Militärverwaltung gegenüberstand. Die akribische Publikation, die erst durch das vereinigungsbedingte Zusammenführen der Aktenbestände im Ostberliner Stadtarchiv und im Westberliner Landesarchiv möglich und durch das Auffinden des privaten Nachlasses von Oberbürgermeister Arthur Werner im Keller seines Enkels glücklich ergänzt wurde, entzieht einer ganzen Reihe von Legenden und Urteilen aus den Schützengräben des Kalten Krieges ihre parteiische Grundlage, wenngleich dieser Stellenwert zunächst noch an der einen oder anderen »Mauer im Kopf« abzuprallen scheint. Seit dem Vorliegen einer biographischen Monographie über Arthur Werner (in Band 7 der »Berlinischen Lebensbilder«, dem Sammelwerk »Stadtoberhäupter«, Berlin 1992) ist zwar schon das Schwarz- Weiß- Gemälde von der bloßen Marionette einer kommunistischen Stadtverwaltung nachdenklichen Zwischentönen gewichen, und im Juli 1994 wurde sogar im Rahmen des Berliner Gedenktafelprogramms eine erinnernde Inschrift an Werners Wohnhaus in Berlin- Lichterfelde angebracht. Daß aber ein ranghoher Vertreter der Senats- Kulturverwaltung bei der Vorstellung der Magistratsprotokolle durch Herausgeber und Verlag dem Werner- Magistrat dessen fehlende demokratische Legitimation ankreidete (die 1945 nicht eine einzige der von den Siegern berufenen deutschen Stadtverwaltungen besaß), unterstreicht um so nachdrücklicher das Gewicht der vorliegenden Aktenpublikation. Man wird sich wohl künftig nicht mehr mit oberflächlichen Urteilen an einer gerechten Bewertung der Leistungen jener 18 Monate wirksamen Stadtverwaltung vorbeimogeln können, wenn solch eine Quelle wie die hier vorgestellte ohne Mühe - und zudem dank Dieter Hanauske beispielhaft kommentiert - zugänglich ist. Auch die weithin übliche, seit dem Wahlkampf im Vorfeld der Oktober- Wahlen von 1946 nahtlos weitergereichte Herabwürdigung der KPD- (bzw. dann SED-) Stadträte wird vor den Protokollen gerechterer Beurteilung weichen müssen. Natürlich verfolgten sie die Durchsetzung ihres politischen Auftrags, aber ganz allein damit wird man ihrem persönlichen Einsatz für das Funktionieren und die Normalisierung des öffentlichen Lebens nicht gerecht. Wieder einmal beweist sich, daß endgültige Aussagen über jahrzehntelang durch formulierte Ansichten - welche Ursprünge auch immer diese haben mögen - geprägte und anscheinend dauernd gültige Geschichtsstereotype erst nach umfassender Einsicht in die zeitgenössischen Quellen abgesegnet (oder eben auch repariert!) werden können. In diesem Falle bestätigt sich nach Einsicht in die Aktenlage überzeugend das Urteil, das Magistratsmitglied Propst Heinrich Grüber rückschauend in seiner Autobiographie »Erinnerungen aus sieben Jahrzehnten« schon 1968 über die erste Berliner Nachkriegs- Stadtverwaltung fällte: »Ungeachtet aller Gegensätze bemühten wir uns, die Not der Bevölkerung zu lindern. Die Zusammenarbeit war deshalb so erfolgreich, weil alle Männer im Magistrat, ganz gleich, wo sie politisch und weltanschaulich beheimatet waren, Achtung vor der Arbeit und den Anregungen der anderen hatten.«
     Die mehr als 50 Seiten umfassende Einleitung von Dieter Hanauske führt nicht nur kenntnisreich in Organisation und Arbeitsweise des Magistrats ein, sondern liefert auch einen Abriß der zwar kurzen, aber nichtsdestoweniger vorhandenen Berliner Verwaltungsgeschichte in jenen ersten anderthalb Nachkriegsjahren.
     Kurt Wernicke
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   107   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Moses Mendelssohn

Gesammelte Schriften
Jubiläumsausgabe, Band 22: Dokumente I. Entlegene zeitgenössische Texte zu Mendelssohns Leben und Wirken. Bearbeitet von Michael Albrecht. Friedrich Frommann Verlag. Günther Holzboog, Stuttgart 1995

Zuweilen soll man doch Eulen nach Athen tragen
Der 1728 (und nicht erst 1729, wie die Lexika vermelden) in Dessau geborene Moses Mendelssohn, dieses Genie an Fleiß, Klugheit und Toleranz, hat nicht erst nach seinem Tod im Januar 1786 in Berlin viele Federn in Bewegung gesetzt. In der Berlinischen Monatsschrift von 1786, in der M. M. noch vor Kant die Frage richtig beantwortet hatte, was eigentlich Aufklärung sei, hat deren Herausgeber Johann Erich Biester dann den Nachruf auf den jüdisch- deutschen Gelehrten verfaßt: Erst Mendelssohn, ein Fremdling eigentlich in unserem Lande wie in unserer Sprache, an keiner deutschen Schule unterrichtet, habe gleichwohl den abstrakten Philosophengedanken Anmut, Lebhaftigkeit und Schönheit verliehen; ihm verdanke seine und die deutsche Nation sowie die gesamte Menschheit einen großen Teil ihrer moralischen und intellektuellen Bildung.
     Man wird den hier bloß resümierten Text vergebens in dem zur Rede stehenden Band suchen, denn, wie dessen Untertitel sagt, es werden nur entlegene zeitgenössische Texte zu M. M. geboten, und die Biester- Würdigung wurde in Leipzigs Reclam- Verlag vor zehn Jahren und auch sonstwo bereits nachgedruckt. Aber ob man damit Mendelssohns wahrlich nichtelitärem Anliegen gerecht wird, darf bezweifelt werden.

Außerdem ist z. B. des großen Aphoristikers Lichtenberg briefliche Aufforderung vom April 1786 an Nicolai, er müsse Mendelssohns Biographie als Fundamentalwerk für die Menschheit schreiben, glücklicherweise nicht ausgespart worden, obwohl sie doch auch häufig nachgedruckt wurde, unter anderem 1963 in Leipzigs Dieterich'scher Verlagsbuchhandlung.
     Genug der Mäkelei; aber auch eine akademische Edition sollte vom Geist des Edierten getragen sein, und M. M. ist nun einmal zu unser aller Glück ein Popular- und kein Elitärphilosoph. Außerdem: Was für Kant, Fichte und Hegel längst billig ist, sollte für M. M. endlich auch recht sein: eine Zusammenstellung aller Urteile seiner Mitwelt in überlieferten Briefen, Berichten, Gesprächen und Nachrufen.
     Aber auch in der Form, in der der verdienstvolle Aufklärungsforscher Michael Albrecht den Band zusammengestellt hat, ist er eine Fundgrube von sagenhafter Reichhaltigkeit. Und dies nicht nur für die Mendelssohn- Forscher oder diejenigen, die endlich begriffen haben, was die Aufklärung demjenigen verdankt, der so tief wie Leibniz sah, so groß wie Platon dachte, so witzig wie Pope redete und so schön wie Addison schrieb. (S. 29)
     All denen, die an der Berliner Aufklärung im allgemeinen, der Geschichte des Judentums in Berlin im besonderen interessiert sind, sei dieser Band empfohlen. Man möge sich nicht davon abschrecken lassen, daß er einer großen akademischen Ausgabe inkorporiert ist. »Glücklich bist Du, die Stadt Berlin; aus Dir geht das Brot des Wissens und der Weg der Weisheiten hervor«, eben weil vom Moses der hebräischen Bibel bis Moses Meimonides kein Klügerer und Weiserer aufgetreten sei als Moses Mendelssohn, hieß es. (S. 265)
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   108   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Und doch hat man ihm immer wieder zu konvertieren zugemutet (S. 270) oder ihm unterstellt, daß er Maulwurfsarbeit gegen das Christentum geleistet habe oder jedenfalls leisten wollte. (S. 334)
     Hier wird das Spannungsfeld dokumentarisch ausgebeutet, in dem sich soziale, politische und geistige Emanzipation gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Berlin auf den langen Weg begab. Wieder einmal zeigte sich, daß die Ausgegrenzten mehr zum Fortschritt beitrugen als die in Macht und Herrschaft Sitzenden. Aber es zeigt sich auch, daß das Leben unten, eben da, wo es konkret wird, am interessantesten ist. Gut, daß auch Anekdoten den Weg in diesen Dokumentenband gefunden haben. Die Widersprüchlichkeit des Lebens hat viele Facetten.
     Bedenkt man freilich das Überlieferungsschicksal desjenigen, der damals die »Fackel der Vernunft« vorantrug und der »Vorurteile blinde Zunft« mit sicheren Schlägen traf (S. 318), dann wird einem der böse Triumph deutschen Dunkelmännertums in diesem Jahrhundert um so schmerzhafter bewußt. Erst in unserem Jahrzehnt wird die Jubiläumsausgabe der Gesammelten Schriften von M. M., deren erster Band bereits 1929 vorlag, vollständig verfügbar sein. Der bereits 1786 publizierte Plan, auf einer am Opernplatz in Berlin zu errichtenden Pyramide neben Leibniz, Lambert und Sulzer auch das Bildnis von M. M. anzubringen (S. 207), ist bis heute nicht realisiert worden. Das Schleifen mißliebiger Denkmäler und die Errichtung von solchen für die Militärs war wichtiger.
     Hermann Klenner
Jüdisches Leben in Pankow

Bund der Antifaschisten Berlin-Pankow e. V. (Hrsg.)
Edition Hentrich, 1993

Wenn hier auf eine Publikation aus dem Jahre 1993 aufmerksam gemacht wird, so deshalb, weil sie unser Wissen über jüdisches Leben in den Berliner Stadtbezirken erweitert. In Pankow war es der Bund der Antifaschisten e.V., der sich unter Leitung von Inge Lammel, der auch die meisten Texte zu danken sind, der mühevollen Spurensuche unterzog. Seit 1988 gibt der Hentrich- Verlag in seiner Reihe Deutsche Vergangenheit diese wertvollen Publikationen heraus.
     Im Vorwort stellt Ingel Lammel fest: »Bei unseren Recherchen in den Archiven stießen wir immer wieder auf Lücken, die auf verschollenes oder vernichtetes Archivgut, vorwiegend jüdischer Provenienz, aber auch fehlende oder unvollständige NS-Akten und andere Unterlagen zurückzuführen sind...Auf dieser Basis läßt sich gegenwärtig keine zusammenhängende Darstellung zur Geschichte der Juden in Pankow schreiben.« Man kann getrost hinzufügen: Ohne diesen sehr verdienstvollen und gelungenen Anfang hätte ein solches Unternehmen in der Zukunft noch weniger Chancen. Zeitzeugen, die noch Auskunft geben können, stehen nicht unbegrenzt zur Verfügung.
     Die Dokumentation will aufklären, Zusammenhänge zeigen und zum Weiterbeschäftigen mit dem Thema anregen. So ist der kurze Abriß zur Geschichte der Juden, den der Historiker Ernst Hoffmann in der Einführung gibt, durchaus Denkhilfe: Im ersten Jahrhundert v.u.Z. errichteten die Juden in Palästina ihre eigenen Staaten, Israel und Juda. Beide wurden von Assyrern und Babyloniern vernichtet. Ein unter persischer Oberhoheit errichteter neuer Staat geriet unter die Herrschaft der griechischen Staaten in Ägypten und Syrien, bis sich durch den Makkabäer- Aufstand wieder ein selbständiger Staat herausbildete.

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   109   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Dieser Staat geriet unter römische Herrschaft, bis er nach der Erhebung gegen Rom 66-73 u.Z. vernichtet wurde. »Seit jener Zeit, für fast 1900 Jahre, lebten die Juden ohne eigenen Staat, in der Welt zerstreut, in der sogenannten Diaspora«, schreibt Hoffmann.
     17,9 Prozent aller Berliner Juden wohnten 1925 in der Stadtmitte, nur 0,9 Prozent in Pankow. Sie lebten, wie Inge Lammel mitteilt, vorwiegend in Mietshäusern nahe dem Pankower Zentrum: in der Binzstraße, Berliner Straße, Wollankstraße, Hallandstraße, Parkstraße, Florastraße, Schönholzer Straße, Trelleborger Straße, Kavalierstraße, Mühlenstraße, Brenner Straße, Elsa- Brändström- Straße. Die jüdischen Einwohner Pankows kamen aus allen sozialen Schichten, es waren Fabrikarbeiter wie auch Unternehmer, die hier zum Teil ihren Sommerwohnsitz nahmen. In Pankow waren auch weltberühmte Firmen ansässig, so die Garbáty- Zigarettenfabrik mit der Erfolsmarke »Königin von Saba«, oder die Engelhardt- Brauerei. Auf seinem Grundstück in der Breiten Straße 44 suchte im Sommer auch der Arzt und Journalist Bernhard Wolff Erholung, der 1848/49 mit Wolffs Telegraphischem Büro (W.T.B.) die erste deutsche Nachrichtenagentur schuf.
     Die Dokumentation ist in drei Teile gegliedert. Im ersten, der dem Alltagsleben jüdischer Bürger gewidmet ist, wird u.a. behandelt: Unternehmen und Gewerbe, akademische und freie Berufe, jüdische Ärzte, religiöses Leben in Pankow. Bewegend, was im 7. Kapitel über jüdische Schicksale zu lesen ist. So, wenn Erna Paegelow ihre Erinnerungen einleitet: »Meine Stationen: Auschwitz - Bergen Belsen - Theresienstadt.« Und danach? »Als ich wieder zu Hause war, konnte ich nichts mehr anfangen. Ich war mit meinen Kräften und mit meiner Gesundheit völlig am Ende.« Nicht weniger erschütternd eine über neun Seiten reichende Liste der deportierten Pankower Juden.
     Der zweite Teil dokumentiert und beschreibt die jüdischen sozialen Einrichtungen in Pankow: Das Zweite Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde, israelitische Erziehungseinrichtungen, das Lehrlingsheim, das Mädchenhaus Pankow, das Fürsorgeheim für hilflose jüdische Kinder, das Kinderheim der Schwestern Fürst, das Altersheim für jüdische Taubstumme. Im dritten Teil schließlich wird jüdischem Leben in Pankow nach 1945 nachgegangen.
Mehr als 2000 Juden lebten 1933 in Pankow, im Herbst 1945 waren es noch 300. Der zu DDR-Zeiten einzige Ort, in dem sich jüdisches Leben abspielte, war das Kinder- und Altersheim in Niederschönhausen. »Für die Entwicklung eines eigenen jüdischen Lebens in Pankow sind gegenwärtig kaum Anzeichen vorhanden«, schließt Ernst Hoffmann seine Schlußbetrachtung. Umso wichtiger ist es, Vergangenes aufzubewahren.
     Die Spurensuche nach jüdischem Leben in den Berliner Stadtbezirken hat zu bisher acht Veröffentlichungen des Hentrich- Verlages geführt. Es liegen vor: Neukölln, Spandau, Charlottenburg (zwei Bände), Treptow, Pankow, Weißensee, Lichtenberg. In Vorbereitung befinden sich Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain.
     Jutta Arnold
 

Brief an die Redaktion:
Saphir und kein Ende

Um zu Unrecht vergessene Autoren wieder unters Volk zu bringen, entschloß sich der Eulenspiegel- Verlag in den 70er Jahren zu einem Schnupperangebot, um es modern zu sagen. Er ließ von findigen Herausgebern Querschnittsbändchen zusammenstellen und warf sie in gefälliger Ausstattung billig auf den Markt. Als Beispiele seien genannt: Julius Stettenheim, »Wenn man spät nachhause kommt«, Ernst Kossak, »Aus dem Papierkorb eines Journalisten«, Mynona, »Das Nachthemd am Wegweiser«. In dieser Reihe sollte unter dem Originaltitel »Konditorei des Jokus« auch eine Auswahl von Moritz Gottlieb Saphir erscheinen. Die Wende 1989 durchkreuzte die Verlagspläne so nachhaltig, daß vom alten Eulenspiegel nichts übrigblieb. 1993 gründete eine Handvoll verwegener Leute den Verlag neu und der Herausgeber bot ihnen seine Saphir- Sammlung an. Ergebnis - kein Bedürfnis! Da ging der Herausgeber fremd, obwohl er selbst jahrelang zu den Berufs- Eulen gehört hatte. Er brachte das Manuskript zu einem renommierten Berlin- Verlag und schickte es sicherheitshalber auch nach Stuttgart, weil man sich da schon zu DDR-Zeiten seiner erbarmt hatte.

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   110   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
In der neuen Zeit kannte auch Stuttgart kein Erbarmen, obwohl der Herausgeber Saphirs Tätigkeit im benachbarten München und seine Eloge auf die Pschorr- Brauerei hervorgehoben hatte. Der Berliner Verlag hatte in der Wende-Zeit ein viertes Standbein gekauft, das ihn, was Wunder, ins Wackeln brachte. Die Schuster, die bei ihrem Leisten blieben, wußten, warum ihr Schemel nur drei Beine hatte! Der Verlag, sein viertes Standbein im Auge, riet dem Herausgeber, das Manuskript auf 220 Seiten zu erweitern, dann ließe es sich vielleicht in einem märkischen Dichtergarten unterbringen. Als Märker hatte der Herausgeber den umtriebigen Saphir eigentlich nicht gesehn, aber kam nicht Lessing aus Kamenz und Heine aus Düsseldorf? Beide hatten im märkischen Dichtergarten Heimstätten gefunden, warum also nicht der Begründer des Berliner Literaturvereins »Tunnel über der Spree«, auch wenn er aus einem ungarischen Dorf kam, des östlich der Donau lag? Also nahm der Herausgeber die Erweiterung des Manuskripts in Angriff, besuchte Bibliotheken und Museen in Wien und Baden, schreckte vor Friedhöfen nicht zurück, nahm sich in Klausur, schrieb, erweiterte, verbesserte, alles ohne Honorar, versteht sich.
     Das neue, erweiterte Manuskript wird mit Wohlwollen entgegengenommen, aber auch mit der Bemerkung, der Herausgeber solle sich nicht verpflichtet fühlen und es getrost auch anderen anbieten, schließlich lebe man in einer Wettbewerbsgesellschaft.
Also bot es der Herausgeber auch in der Französischen Straße an, mit der Hoffnung, die witzigen Geschichten um des Autors Wohnung in der Friedrichstraße, einen Kater-Murr- Sprung vom Verlagshaus entfernt, könnte ein Verlegerherz rühren. Und in der Tat, es war nicht ungerührt, als es den Herausgeber telefonisch belehrte: »Mein lieber Herr, Sie haben ja keine Ahnung von der Ahnungslosigkeit heutiger Zeitungsredakteure. Niemand kennt Saphir, es wird in den Medien so gut wie keine Resonanz geben. Ich kann Ihnen da wenig Hoffnung machen ...«
     Was hieß, ein bißchen Hoffnung blieb, und so trug der Herausgeber das Manuskript in die Französische Straße. Dort liegt es seit über einem Jahr, und da der Verlag demnächst an den Hackeschen Markt umzieht, wird die »Konditorei des Jokus« auch im Maelström des Umzugs untergehn, das sagt dem Herausgeber seine Erfahrung.
     Nun war aber 1995 der 200. Geburtstag Saphirs, und der Herausgeber hatte es sich in den Kopf gesetzt, etwas für ihn zu tun. Da er früher literarische Texte in einer Fernseh- Probierstube unter die Leute gebracht hatte, überlegte er: Wie würdest du den Saphir da verkaufen? Und er hörte Wolfgang Neuß aus dem Musical »Kiss me Kate« singen: »Schlag nach bei Shakespeare, denn da steht was drin!« Das war's! »Schlag nach bei Saphir!« mußte natürlich ein echtes Nachschlagebüchlein sein, lexikalisch geordnet, wie Saphirs »Witzlexikon«, da hat Paul Thiel recht.
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Was hieß, den ganzen Saphir noch einmal durchpflügen. Das Ergebnis gefällt dem Verleger, aber die Verlagsbeauftragten sagen: »Wer soll das kaufen?« Der Herausgeber ruft in der Jüdischen Gemeinde an, bittet um Unterstützung und hört am Telefon: »Mein lieber Mann, Ihre Liebermannarbeit in allen Ehren, es ist Ihnen doch sicher bekannt, daß Saphir zum Protestantismus konvertiert ist, also ist er für uns kein Jude. Oder wollen Sie, daß ich die Rassengesetze der Nazis anerkenne?« Das will der Herausgeber nicht, darum verzichtet er darauf, der Jüdischen Gemeinde die herzzerreißenden Texte vorzuhalten, in denen sich der Autor mit seinem Judentum auseinandersetzt.
     Inzwischen liegen dem Verlag die Illustrationen vor, mit der Handwerkerrechnung, die bezahlt werden muß. Wo ist der rettende Sponsor? Vielleicht die Preußische Seehandlung, die schon so manchem Projekt einen Rettungsring zugeworfen hat? Nein, diesmal wirft sie keinen. Möglicherweise hat sie Saphirs Spott über das deutsche Streben zur Seegroßmacht irritiert, wer weiß? Der Verlag druckt trotzdem, obwohl ihm klar ist, daß er Eulen und Meerkatzen bäckt. Die Zeittafel wird als Ballast herausgeworfen, ihre Fakten ins Nachwort integriert, dabei wird das Todesjahr 1858 vergessen.
     Den Herausgeber erfüllt es trotzdem mit Staunen, wenn er das schön gemachte, von Horst Hussel mit Vignetten illustrierte Büchlein in den Händen hält, und er findet es auf vergnügliche Art lesbar. Daß die Texte für diese Lesbarkeit in sich gekürzt wurden, hält ihm Paul Thiel kritisch vor. Dabei ist das bei belletristischen Editionen gang und gäbe, dafür gibt es auch keine Pünktchen und Auslassungen, wie bei wissenschaftlichen Ausgaben. Schon in den 20er Jahren hat Egon Friedell unter dem Titel »Das ist klassisch« Sentenzen von Johann Nestroy herausgegeben.
Im Nachdruck vom Morgenbuch sind das 131 Seiten, und als Quelle wird die Stuttgarter Ausgabe von 1890/91 angegeben. Der Herausgeber stützt sich auf die Saphir- Ausgabe in zehn Bänden, Brünn und Wien 1874. Es wäre völlig unangemessen, jedes Zitat mit Seitenangabe und Bearbeitungsvermerk zu versehen. Herrn Paul Thiels Klage, Saphir hätte eine umfangreichere Ausgabe verdient, kann sich der Herausgeber nur anschließen. Er hat versucht, eine solche Ausgabe an den Mann zu bringen, und ist, zumindest bisher, damit gescheitert. Darum möchte er, daß »Schlag nach bei Saphir!« als das genommen wird, was es ist: Ein Fingerzeig auf einen unbequemen Schriftsteller, der in Berlin viel bewegt hat; zuviel, als daß es sich die Stadt leisten könnte, ihn zu vergessen.
     Walter Püschel
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/1996
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