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Bernhard Meyer
Die Pépinière

Am 2. August 1795 wurde in Berlin die »Chirurgische Pépinière« (»Pflanzschule«) für militär-medizinische Ausbildung gegründet. Dieses Ereignis muß die medizinischen Zeitgenossen überrascht haben, denn bis dato erfolgte seit 71 Jahren die Heranbildung von Militärchirurgen, Wundärzten und Feldscheren für die preußische Armee durch das Collegium medicochirurgicum.1) Der hier durch eine wohlüberlegte Verbindung von theoretischen Grundlagen und praktischen Übungen am Patienten außeruniversitär ausgebildete Medicochirurg stellte sich als Fortschritt für die medizinische Behandlung heraus, hatte sich also bewährt. Außerdem kam die Gründung einer Universität in Berlin ins Gespräch, die auf jeden Fall über eine medizinische Fakultät verfügen würde.
     Warum also die Pépinière?

Eine Kanonade mit Folgen

Als vorrangig für die Gründung ist wohl die einflußreiche Stellung der Armee und ihrer führenden Mediziner im Königreich anzusehen. Ihnen schwebte eine dem Heer unterstellte Institution vor, die unabhängig vom zivilen Bereich agierte.

Außerdem war das Collegium zunehmend mit dem Makel behaftet, keine Universitätsabsolventen hervorzubringen. Dies wiederum warf einen Schatten auf das Ansehen der Armee. Schließlich gab es 1792 die Kanonade von Valmy mit zahlreichen Verwundeten sowie Ruhr und Typhus in der preußischen Armee, die das Können einiger Militärchirurgen und insbesondere die Organisation des Heeressanitätswesens deutlich überforderten. Friedrich Wilhelm II. und der designierte Generalchirurg der preußischen Armee, Johann Goercke (1750-1822), erlebten vor Ort das Desaster.
     Goercke strebte mit der Gründung der Pépinière eine Institution an, die sich einzig der Aus- und Weiterbildung von Militärchirurgen widmen sollte. Den Zöglingen Fächer wie Deutsch, Mathematik, Chemie, Physik, Biologie und Sprachen (Latein) vermitteln, die Unterbringung gewährleisten, die Kontakte zum Collegium medicochirurgicum und zur Charité knüpfen, die militärische Erziehung sichern - das hatte die Pépinière zu leisten.2)
     Goercke war als Medicochirurg, als Absolvent des Collegiums und inzwischen hochangesehener Militärchirurg (ab 1797 Generalchirurg der preußischen Armee) der rechte Mann für derartige Unternehmungen. Knapp 30 Jahre stand er der Pépinière als Direktor vor, ehe er 1822 mit 72 Jahren aus Verärgerung über die Ablehnung baulicher Erweiterungen von sich aus zurücktrat und noch im gleichen Jahre starb.
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     Dazwischen liegen bewegte Zeiten, denn der Pépinière drohten mit der Universitätsgründung 1810 erneut schwere Existenzgefahren. Die Debatte erfaßte führende preußische Mediziner und Wissenschafts- und Bildungsstrategen Preußens. Johann Christian Reil (1759-1813), bekanntester Internist im Lande und erster Ordinarius an der medizinischen Fakultät in Berlin, hielt (Universitäts)-Ärzte für die gesamte Bevölkerung für zu teuer und setzte auf die »Routiniers« der Pépinière. Das war ein Wort für die Beibehaltung dieser Einrichtung, zugleich aber eine Verwässerung ihrer militär-medizinischen Diktion.
     Anders Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836), der Institute zur Heranbildung von Halbgebildeten wie »Routiniers« ablehnte, womit er der Universitätsidee Nahrung gab. Als Direktor des Collegiums muß ihm Urteilsfähigkeit zugebilligt werden, wenngleich noch nicht absehbar war, von welcher Leistungsfähigkeit einst die Absolventen der Berliner Universität sein würden. Von entscheidendem Gewicht muß deshalb die Auffassung des Spiritus rector der Berliner Universität, Wilhelm von Humboldt (1767-1835), betrachtet werden. Er sah neben der medizinischen Fakultät weder für das Collegium noch für die Pépinière eine Existenzberechtigung, weil ihm dort die hohe Wissenschaftlichkeit ebenso wie die Forschung und ein gehobenes Niveau der Auszubildenden fehlten.
Dagegen hielt er Berufsschulen zur staatlich sanktionierten Vorbereitung von »Routiniers« gegen das Kurpfuschertum für erforderlich.
     Die Zeichen standen für die Pépinière mit ihrer Ausbildungskonzeption also wenig günstig. Ihre Chance lag eigentlich nur in der Anhebung des Niveaus auf das mit der Universität verfolgte Konzept. Goercke erkannte die Gefahren und handelte. Als das Collegium 1809 aufgelöst wurde und damit die theoretische Lehrstätte nicht mehr existierte, forderte er, seine Eleven an der Universität studieren zu lassen. Das fand keine Resonanz. Diese Bedrängnis für eine von den höchsten Militärmedizinern Preußens protegierte, bereits existierende Lehrstätte in einer mehr auf das Heer als die Wissenschaft setzenden Monarchie überrascht einigermaßen. Aber in dieser Konstellation lagen eben auch zugleich die Möglichkeiten für eine militärfreundliche Lösung, die prompt 1811 mit der Gründung einer »Medizinisch-chirurgischen Akademie für das Militär« erfolgte.

Aus für »Handwerkerchirurgen«

Der Akademie wurden statutenmäßig, organisatorisch und finanziell alle Wege geebnet, damit sie »wissenschaftlichen« Unterricht für die Pépinière leisten konnte. Im Grunde wurde parallel zur Universität eine militär-medizinische Fakultät ohne klinischen Anteil auf dem Niveau einer Universität geschaffen.

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Sie trat faktisch an die Stelle des Collegium medicochirurgicum. Die Aus- und Weiterbildung der nun doch verpönten »Handwerkerchirurgen« (Medicochirurgen) gehörte der Vergangenheit an, denn das Reifezeugnis wurde mehr und mehr Vorbedingung für die Aufnahme in die Pépinière, ab 1827 zur Bedingung. Damit überholte sie die Universität wieder, denn diese forderte es erst ab 1834. Da die medizinischen Universitätsprofessoren fast durchweg auch an der Akademie lehrten und Hufeland neben dem Dekanat der medizinischen Fakultät auch das wissenschaftliche Direktorat der Akademie übernahm, vollzog sich eine fast totale Angleichung von ziviluniversitärer und militärisch-akademischer Ausbildung. Ein Unterschied blieb allerdings - das »Charitékommando« der Zöglinge. Diese praktische Vervollkommnung am Ende des Studiums gereichte der Pépinière zu einem bedeutsamen Vorteil gegenüber den zivilen Studenten.
     Durch diesen an sich naheliegenden Schachzug verschaffte sich die Pépinière den erwünschten Spielraum und die Anerkennung durch die wissenschaftlichen Koryphäen Preußens. Die geschilderten Vorgänge vollzogen sich zwischen der Niederlage von Jena und Auerstedt 1806 und den Befreiungskriegen 1813 bis 1815.
Als Feldmarschall von Blücher (1742-1819) nach den erfolgreichen Schlachten gegen Napoleon seine Militärärzte gar lobte, »adelte« Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) gewissermaßen die Pépinière, indem er ihr 1817 den Namen »Medizinisch-chirurgisches Friedrich-Wilhelms-Institut« verlieh.
     Die Pépinière bewegte sich nun für über ein Jahrhundert in einem ruhigeren Fahrwasser und erlebte keine Attacken mehr, die denen der Anfangsjahre gleichkamen. Latent der Vorwurf, die wissenschaftliche Forschung zu vernachlässigen. Das betrifft ureigenste Gebiete, wie die Militärhygiene, die Behandlung von Schußverletzungen, spezifische Kopfverletzungen, Organisation der militärchirurgisch ersten Hilfe usw. Gewiß widmeten sich eng mit dem Heer verbundene und hohe militärische Ränge einnehmende Chirurgen wie Bernhard von Langenbeck (1810-1887), Adolf von Bardeleben(1819-1895), Friedrich von Esmarch (1823-1908), Ernst von Bergmann (1836-1907) u. a. in ihren Forschungen auch militär-medizinischen Themen. Die Breite und Vielfalt des militärischen Alltags in Friedens- und Kriegszeiten konnte damit keineswegs abgedeckt werden. Als Alibi und Dauerentschuldigung galt, daß viele Talente nach ihrer Ausbildung nicht die Militärarztlaufbahn einschlugen, sondern auf »normalem« medizinischen Forschungsfeld zu Ruhm und Ansehen gelangten.
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Eine andere, unterschwellige Kritik betraf die hohen Kosten für Pépinière und Akademie mit dem Hintergedanken, die Gelder besser der leistungsfähigeren Universität zukommen zu lassen.

Die »Pepins« werden berühmt

Wer es sich leisten konnte, bezog die Universität; wer ohne Mittel unbedingt Arzt werden wollte, dem blieb die unentgeltliche Pépinière mit streng geregeltem Unterricht und der Pflicht zu »Gehorsam und Subordination«. Berühmte und anerkannte Ärzte haben auf diese Weise die Pépinière absolviert, die militärische Laufbahn jedoch abgebrochen wie Emil von Behring (1854-1917), Begründer der Serumheilkunde und 1901 als erster deutscher Arzt Nobelpreisträger; Hermann von Helmholtz (1821-1893), ab 1838 Eleve, Erfinder des Augenspiegels; Georg Gaffky (1850-1918), Nachfolger von Robert Koch als Direktor des Instituts für Infektionskrankheiten in Berlin; Alfred Goldscheider (1858-1935), Stabsarzt und Ordinarius der III. Medizinischen Klinik der Charité; Erich Hoffmann (1868-1959), Stabsarzt 1. Klasse und gemeinsam mit Richard Schaudinn (1871-1906) Entdecker des Syphiliserregers (1905); Ernst von Leyden (1832-1910), Stabsarzt und Ordinarius für Innere Medizin der Charité; Friedrich Löffler (1852-1915), Generalarzt d. R., Entdecker des Diphtherieerregers; Martin Kirchner (1854-1925), Stabsarzt und nach 1900 im Innenministerium Leiter des preußischen Gesundheitswesens;

Rudolf Virchow (1821-1902), Schöpfer der Zellularpathologie, Politiker, Kommunalpolitiker, Archäologe, Ethnologe.
     Leyden äußerte in seinen »Lebenserinnerungen« zur Atmosphäre: »Das eigentliche Studentenleben habe ich im Grunde nicht kennengelernt, denn die Pépinière ... hielt ihre Zöglinge in einer gewissen, wenn auch nicht strengen Zucht, die aber eine volle Freiheit ausschloß.« Nun genoß er gegenüber anderen immerhin noch den Vorteil der privaten Unterbringung bei Verwandten in der Stadt. Von den Charité-Studenten »Pepins« genannt, kümmerten sie sich im nachmärzlichen Berlin »wenig um Politik und durften es wohl auch nicht«.3) Virchow, von 1839 bis 1843 Zögling, klagte seinem Vater über 54 Stunden Übungen und Vorlesungen pro Woche, »d. h. täglich von des Morgens um 7 Uhr bis des Abends um 6 Uhr, resp. 5 Uhr, denn die Stunde zum Mittag kann man nicht als frei betrachten ... So geht es alle Tage von 6 Uhr Morgens bis 11 Uhr Nachts unaufhörlich.«4) Dieses Klagelied vom lebenslang arbeitsbesessenen Virchow! Über seine militärischen Vorgesetzten schrieb er im gleichen Brief: »Bald erinnern sie uns daran, daß wir ja Studenten wären, bald wieder sagen sie uns, wir wären Mitglieder eines durchaus militärischen, folglich absoluten Instituts, und wir hätten jeden Befehl eines Vorgesetzten unbedingt zu befolgen ...« Und über die Mehrzahl seiner Mit-Eleven: »Ihr grösstes Vergnügen besteht darin, Collegia zu versäumen, Karten zu spielen, Bier zu trinken etc.«
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Im Oktober 1843 verteidigte er seine in lateinischer Sprache abgefaßte Dissertation über Rheumatismus und verkündete in einer seiner acht Thesen als Alt-Eleve: »Nur der freiheitliche Geist kann das wahre Wesen der Medizin erkennen.«5) Das waren für einen Pépinière-Zögling ungewöhnliche Ansichten, die wohl ein wenig als Resümee seiner Eindrücke während der Ausbildung gelten können.

Eine anerkannte Militärarztschule

Anläßlich der Gedenkfeier zum 90. Geburtstag von Johann Goercke am 3. Mai 1845 verkündete der 23jährige Virchow einem staunenden, auf einen biederen Festvortrag eingestimmten Publikum seine Auffassung von medizinischer Forschung: klinische Beobachtung, physikalische und chemische Untersuchungen, Tierexperimente, Obduktion und Mikroskopie. Den 50. Stiftungstag der Pépinière am 2. August 1845 nutzte Unterarzt Virchow, um in seiner Festrede »Einblick in seine neu aufgestellte Zellular-Pathologie«6) zu geben. Das medizinische Berlin sprach von Virchow. Seine Lebensplanung zu diesem Zeitpunkt war eigentlich klar: Finden seine neuartigen medizinischen Auffassungen Gehör, dann gibt es für ihn nur die akademische Laufbahn, wenn nicht, dann »die lange Chaussee der militärärztlichen Heerstraße«.7)

     Die Pépinière befand sich stets im Zentrum Berlins, da sie die lokale Nähe von Collegium und Charité dringend benötigte. Die erste Unterbringung der Zöglinge erfolgte in einem Teil der Kaserne am Kupfergraben, Eingang Stallstraße (beim Bau der Stadtbahn abgerissen; heute Universitätsstraße), während der Unterricht zunächst in der Wohnung von Goercke, dann bis 1804 in der Taubenstraße 29 und im Collegium stattfand. Danach die Umsiedlung in die Dorotheenstraße 7 (damals Letzte Straße 1/2).
     Goercke strebte ein größeres Gebäude an, stieß auf Widerstände, nahm deshalb 1822 seinen Abschied. Und doch wurde knapp zwei Jahre danach (1824) der Pépinière in der Friedrichstraße 139-141 das Georgesche Haus (während des Ersten Weltkrieges abgerissen; heutiges Gelände zwischen Bahnhof Friedrichstraße, Friedrichstraße und Spree; u. a. »Tränenpalast«) zugewiesen. Am 10. Juni 1910 wurde der Neubau Invalidenstraße 48/49 (Ecke Scharnhorststraße) bezogen. Das großzügig von den Architekten Wilhelm Albert Cremer (1845-1919) und Richard Wolffenstein (1846-1919) entworfene Gebäude mit 1 000 Zimmern, mehreren Auditorien und einer Aula nahm ca. 500 Zöglinge auf und beherbergte eine Bibliothek mit 72 000 Bänden, ein kriegschirurgisches Museum, Laboratorien, ein Röntgeninstitut sowie verschiedene militär-medizinische Institute und militärische Ämter.
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     Mit fortschreitender Zeit galten Pépinière/Akademie als anerkannte Militärarztschule. Für den Außenstehenden erschienen sie ohnehin als eine Institution. Und so wurde anläßlich des 100jährigen Jubiläums der Pépinière 1895 ein Zusammenschluß mit der Akademie unter dem neuen Namen »Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen« vorgenommen. Geleitet wurde sie vom jeweiligen Generalstabsarzt. In Kriegszeiten wurde der Lehrbetrieb eingestellt, alle halbwegs ausgebildeten Zöglinge an die Front geschickt und im Gebäude der Akademie ein Lazarett eingerichtet. Damit deutete sich das Ende der Pépinière an, die im Gefolge des Ersten Weltkrieges durch Festlegungen des Versailler Vertrages 1919 aufgelöst werden mußte.

Quellen:
1 Vgl. B. Meyer: Collegium medicochirurgicum, In: BM 2/1996
2 Vgl. D. Rüster: Zur Geschichte der Berliner Pépinière, In: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung, 81. Jg. (1987), H. 1, S. 13 ff. (Informativste Quelle für die Entstehung der Pépinière)
3 E. v. Leyden: Lebenserinnerungen, Stuttgart und Leipzig 1910, S. 55

4 Brief von R. Virchow an seinen Vater vom 5. Dezember 1839, In: Rudolf Virchow - Briefe an seine Eltern, 1839 bis 1864, Leipzig 1906, S. 30 und 27
5 Zit. bei W. Orth: Rudolf Virchow, Berlin 1969, S. 2
6 O. v. Schjerning: Die alte »Pépinière«, was sie war, und was aus ihr geworden ist, In: Erforschtes und Erlebtes aus dem alten Berlin, Heft 50 der Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins, Berlin 1917, S. 55 7 Brief von R. Virchow an seinen Vater vom 15. Oktober 1845, In: Rudolf Virchow - Briefe ... a. a. O., S. 103
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/1996
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