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Hainer Weißpflug
Kiebitze in Berlin

Als Kiebitze bezeichnet der Berliner neugierige Leute, die den Skatspielern über die Schulter schauen und andere belauschen. Für den Duden ist der Kiebitz ein »Neugieriger, oft mit unerwünschten Ratschlägen sich einmischender Zuschauer beim Kartenspiel ...« In der Gaunersprache bedeutet »Kiebitzen« etwas untersuchen, durchsuchen usw. 1)
     In diesem Sinne gibt es genügend Kiebitze in Berlin. Die Vogelart der Kiebitze (Vanellus vanellus) allerdings ist in Berlin mittlerweile so selten geworden wie in ganz Deutschland. Das ist der Grund, warum der Kiebitz zum Vogel des Jahres 1996 gekürt wurde. »Mit dieser Entscheidung«, so heißt es in der Begründung, »wollen der Naturschutzbund Deutschland (NABU) und der Landesverband für Vogelschutz Bayern (LBV) auf die Bedrohung des taubengroßen Vogels aufmerksam machen ...« 2)
     Der Kiebitz steht auch in der Berliner Roten Liste, er gilt als fast ausgestorben. Dabei gehörte er einst im Berliner Raum zu den zahlreich auftretenden und brütenden Zugvogelarten. Herrmann Schalow (1852-1925), ein bekannter Ornithologe, berichtete 1876, daß der Kiebitz in der ganzen Mark Brandenburg häufig vertreten sei. Das schließt auch Vorkommen in Berlin ein.


Später teilte er mit, daß ihm als Brutplätze in Berlin die Judenwiese und das Gebiet der Spreeschleife zwischen Levetzow- und Gotzkowskybrücke (Hansaviertel) bekannt geworden seien. Die bauliche Entwicklung Berlins verdrängte die Vögel immer mehr an den Stadtrand.
     Eine lebensgefährliche Entwicklung, denn der Kiebitz bevorzugt feuchte, sumpfige Wiesen, unverbaute Flußufer, Moorgebiete, verlandete Seen und Pfuhle. Auf solchen Flächen beginnt der bis zu 30 Zentimeter große Zugvogel Ende Februar/Anfang März, nach der Rückkehr aus dem Winterquartier in den Mittelmeerländern und Nordafrika, seine akrobatischen Balzflüge. Wie Sprünge aussehende Flüge, zuckende Schwingungen seiner breiten Flügel, nach rechts und links taumelnde Bewegungen und plötzliche Sturzflüge bis kurz vor den Boden sind charakteristische Merkmale des Balztanzes der Kiebitzmännchen, wobei immer wieder das typische »Kiewitt-Kiewitt« erklingt. Am Boden hört man häufig ein »knui knui knuii«. Der Balztanz am Boden wird mit Knicksen und Dienern und breit gefächertem Schwanz vollführt. Aus der Entfernung und in der Luft wirkt der Kiebitz schwarzweiß. Genauer und näher betrachtet schillert seine dunkle Oberseite metallisch grün und violett, der Brustlatz ist blauschwarz - beim Weibchen mit weißen Federchen durchsetzt - die Unterseite beider ist weiß.
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Der weiße Schwanz wird von einer schwarzen breiten Endbinde abgeschlossen.
     Wenn man an die Berliner Umgebung mit ihren feuchten Flußlandschaften denkt, an die vielen Sümpfe, Moorgebiete, Seen und Pfuhle, an die Nebenarme der Flüsse im Berliner Urstromtal und auf den Hochflächen des Barnim und des Teltow, so kann man sich gut vorstellen, daß dieser Vogel hier viele Jahrhunderte heimisch war.
     Leider ist die Entwicklung Berlins von der Gründung an verbunden mit der Trockenlegung, Verfüllung und Bebauung vieler Feuchtgebiete. Das gilt in besonderem Maße für die Zeit um 1900. Grundwasserabsenkungen durch den Bau von Straßen, U-Bahnen, Wohngebäuden und Fabriken, die Trinkwassergewinnung, der Bau von Kanälen und die Bebauung der Fluß- und Seeufer ließen zudem so manchen Pfuhl und viele sumpfige Wiesen und Moore - quasi als Nebeneffekt - verschwinden. Der Kiebitz, seiner natürlichen Brutgebiete in der Stadt beraubt, zog sich auf die noch vorhandenen Feuchtgebiete am Stadtrand zurück. Als Berlin seine Abwasserprobleme mit dem Hobrechtschen Rieselfeldsystem zu lösen begann, entstanden auf den relativ unberührten Rieselflächen neue Lebensräume für diese Vogelart. In der Literatur wird die Jahrhundertwende als Zeit der Besiedlung der Rieselfelder durch den Kiebitz angenommen. Der Ornithologe Max Garling (1878-1949) stellte Brutpaare des Vogels auf Hellersdorfer und Blankenfelder Rieselanlagen fest.
Aus seinen Angaben geht aber auch hervor, daß es schon in den 30er und 40er Jahren eine rückläufige Tendenz gab. Auf den Hellersdorfer Rieselfeldern zählte man nach dem Zweiten Weltkrieg - Garlings Berichten zufolge - nur noch ein Brutpaar. Dennoch ergaben Untersuchungen in den 60er Jahren einen beachtlichen Bestand von 130 Paaren im Berliner Gebiet. So wurden im Naturschutzgebiet Gosener Wiesen und den dazugehörigen Wiesen 1967 zehn Brutpaare registriert, ein Paar im Erpetal, fünf auf den Münchehofener und sechs auf den Hellersdorfer Rieselfeldern. Auf dem Rieselfeldkomplex Nord-Ost, zwischen Falkenberg, Wartenberg und Ahrensfelde, wurden 1967 mindestens 48 Brutpaare festgestellt, wobei auf dem Wartenberger Rieselfeld die einzige kleine Brutkolonie der Kiebitzbestände Berlins zu finden war.

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Auf der ausgedehnten Rieselanlage Hobrechtsfelde zählte man im gleichen Jahr 20 Paare. Auf den Rieselfeldern zwischen Buch, Lindenhof und Lübars gab es 1967 40 Brutpaare. 3)
     Mit dieser Konzentration der Kiebitzbrutplätze auf die Rieselfelder Berlins war eine erneute Vertreibung praktisch vorprogrammiert. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg, verstärkt in den 50er und 60er Jahren danach erwies sich das Rieselfeldprinzip als nicht mehr ausreichend für die gewaltigen, stark belasteten Abwassermengen Berlins. Mit dem Bau der Großklärwerke Ruhleben, Schönerlinde, Falkenberg, Waßmannsdorf, Marienfelde, Münchedorf und Adlershof wurden die Rieselfelder stillgelegt. Und damit die neuen Brutplätze der Kiebitze weitestgehend vernichtet. (Anzumerken ist, daß inzwischen einige ehemalige Rieselflächen künstlich bewässert werden, um Grundwasseranreicherungen vorzunehmen und die Auswirkungen der Stillegung der Rieselflächen zu kompensieren.) Der Kiebitz mußte sich erneut neue Lebensräume suchen. Nun ist er oft auf den Ackerflächen im Norden Berlins anzutreffen, wo er auch zu brüten versucht. Die Bearbeitung der Felder ist jedoch ein großer Störfaktor des Brutgeschäftes und zerstört zudem häufig die Gelege. In den siebziger Jahren wurden noch erhebliche Vogelzüge im Frühjahr und im Herbst über dem Berliner Raum registriert, aber Brutpaare gab es im Westberliner Stadtgebiet nur noch zwei.
12 Paare brüteten noch im Bereich der Rieselfelder Westberlins. 4) In einem Bericht über die Vögel in Berlin (West) für den Zeitraum 1976-1989 wird festgestellt, daß der Kiebitz aus dem Stadtgebiet seit 1985 verschwunden ist. 5)
     Nun also ist er gekrönt: Vogel des Jahres 1996!
     Und ist Mahnung und Warnung. Jede Art, die uns verlorengeht, macht uns ärmer. Die Erhaltung der noch vorhandenen Feuchtgebiete, Rückbau der Uferbebauung vieler Seen und Fließe sowie die Wiederherstellung ehemaliger sumpfiger Wiesen wären Maßnahmen, die dem Kiebitz und vielen anderen bedrohten Arten neue Lebensräume schaffen könnten.

Quellen:
1 Der Kiebitz ist der Vogel des Jahres 1996. Märkische Oderzeitung vom 13. Oktober 1995, S. 1
2 Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 4
3 Hartmut und Winfried Dittberner: Der Brutbestand des Kiebitzes in Berlin, In: Milu, Bd. 2, 1965-1969, S. 443 ff.
4 Die Vögel in Berlin (West). Eine Übersicht. Ornithologischer Bericht für Berlin (West), 3/1978, Sonderheft
5 A. Bruch/H. Elvers/Chr. Pohl/D. Westphal/K. Witt: Die Vögel in Berlin (West). Ergänzungsbericht 1976-1989

Bildquelle: Autor

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/1996
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