84   Geschichte und Geschichten Interne Berichte  Nächstes Blatt
Gerhard Keiderling
»Es wird berichtet ...«

Ständiges Diskussionsthema:
Die Versorgung

Wenn die Ostberliner Frauen 1952 einkaufen gingen, standen ihnen drei Möglichkeiten offen: die privaten und Konsum-Lebensmittelgeschäfte, wo man seine Lebensmittelkarten einlöste, die HO-Geschäfte, wo man zu erhöhten Preisen zusätzliche Waren kaufen konnte, und in beschränktem Maße der »Freie Markt« ambulanter Händler bei Obst und Gemüse; den »Schwarzen Markt« gab es seit längerem nicht mehr. Der Nahrungsgrundbedarf wurde über die Lebensmittelkarten abgedeckt. Ab Ende 1949 erhielten alle Bürger eine einheitliche Lebensmittelkarte, für Schwerarbeiter gab es eine Zusatzkarte. Die Rationierung für Brot, Mehl, Hülsenfrüchte, Marmelade und Seife war 1950 aufgehoben worden. In vielen Haushalten reichten die Rationen nicht bis Monatsende. Man mußte in der seit Dezember 1948 bestehenden Staatlichen Handelsorganisation (HO) zusätzliche Einkäufe tätigen. Im Dezember 1951 gab es die 11., bislang umfassendste Preissenkung in der HO. So betrugen jetzt die Pfundpreise bei Butter 10,00 Mark (1948 65,00 M), bei Margarine 6,25 Mark (55,00 M), bei Fleisch 6,40 Mark (50,00 M) und bei Weizenmehl 0,66 Mark (10,00 M).


Bei Durchschnittslöhnen von 300 Mark waren die HO-Waren dennoch teuer. Das Gemeinschaftsessen in Betrieben, Einrichtungen und Schulen spielte daher eine große Rolle.
     Den besonderen Ärger der Ostberliner erregten die ständigen Versorgungsengpässe, die zumeist durch die Unfähigkeit der Planwirtschaft, Schlamperei der Verantwortlichen oder Gleichgültigkeit des Verkaufspersonals entstanden. Die bevorzugte Belieferung von Betriebsverkaufsstellen bzw. von Geschäften nahe der Sektorengrenze zu Westberlin aus politischen Gründen sorgte für weiteren Zündstoff. In den täglichen langen Warteschlangen vor Geschäften und in Kaufhäusern fanden die Mitarbeiter vom Amt für Information reichhaltiges Material für ihre Stimmungsberichte.

*

Zur Zeit werden auf dem Sektor der Versorgung folgende Fragen diskutiert: Warum gibt es in diesem Jahr kein Geflügel, besonders keine Gänse? In der HO Invalidenstraße wird diese Frage von den Lagerarbeitern wie folgt erklärt: Weil durch die Schnelldrehmethode1) das Material, welches für Maschinen verwandt wurde, verbrannt war und Polen daher die gelieferten Maschinen beanstandete und zurücksandte und aus diesem Grunde keine Gänse anliefert.

BlattanfangNächstes Blatt

   85   Geschichte und Geschichten Interne Berichte  Voriges BlattNächstes Blatt
Weitere Diskussionen bilden die Butterzuteilungen im Monat Dezember unter Berücksichtigung der Weihnachtsfeiertage. Die Diskussionen gehen darum, daß trotz der Feiertage für die Grundkarte auch im Dezember fast nur Margarine geliefert wird.
(Stimmungsbericht vom 7. Dezember 1951)

*

Weitere Diskussionen werden über die noch immer anhaltende Kartoffelknappheit geführt, besonders von den Menschen, die nicht in der Lage waren, auf Grund von Mangel an Einkellerungsmöglichkeiten, Kartoffeln für den Winter einzukellern. [...] Während für die reibungslose Versorgung der Bevölkerung täglich etwa 70 bis 80 Tonnen benötigt werden, wurden durch BHZ [Bäuerliche Handelszentrale, d. V.] und Konsum in den letzten Tagen (Datum vom 20. 1. 52) durchschnittlich nur 43 Tonnen geliefert. Dem Kleinhandel wurde Anweisung gegeben, gegenwärtig nur Mengen bis zu 5 kg abzugeben.
     Ein weiterer Gegenstand von Diskussionen und Ärgernissen bildet die spärliche Gemüseversorgung. Immer wieder wird zum Ausdruck gebracht, daß zur Zeit außer Kohlrüben, eventuell auch einmal Salzbohnen, der Bevölkerung keinerlei Gemüse zur Verfügung steht.
     Der Mangel an Seifenpulver ist noch immer nicht behoben und trägt zur Verärgerung der Hausfrauen bei.

Dabei wird besonders kritisiert, daß die HO, trotz der Verknappung von Seifenpulver, dasselbe nur an einzelnen Punkten wie Alexanderplatz, Potsdamer Platz und im ehemaligen Kaufhaus Held verkauft, wo es zum größten Teil von Westberlinern gekauft wird. In den kleinen Verkaufsstellen gibt es kein Seifenpulver, so daß die Bevölkerung des demokratischen Sektors nicht berücksichtigt wird.
(Stimmungsbericht vom 4. Februar 1952)

*

Gleichzeitig macht sich noch immer ein großer Mangel an Fleisch- und Wurstwaren sowie Butter in den HO-Verkaufsstellen bemerkbar, was zu Menschenansammlungen vor den einzelnen HO-Geschäften und zu starken Diskussionen führt.
     Besondere Diskussionen werden darüber zur Zeit in den Betrieben geführt, daß die Bevölkerung des demokratischen Sektors kaum in den Genuß dieser Waren kommt, weil der größte Teil der werktätigen Frauen nach Feierabend nur noch ausverkaufte Läden vorfindet. Es wird vorgeschlagen, diese verknappten Waren nur noch über die Betriebs-HO-Verkaufsstellen und Betriebs-Konsum-Verkaufsstellen zu leiten. [...]
     Auch über die Qualität des Petroleums wird noch immer Klage geführt. Es blakt, rußt und verursacht manchmal sogar Explosionen. Die Bevölkerung vertritt den Standpunkt, daß sie für ihr Geld auch eine gute Ware verlangen können. [...]

BlattanfangNächstes Blatt

   86   Geschichte und Geschichten Interne Berichte  Voriges BlattNächstes Blatt
     Von einer Hausversammlung im Bezirk Friedrichshain wurde von den Bewohnern erklärt, in diesem Jahr ist es entschieden schlechter als im vorigen Jahr, da gab es Eier und Geflügel in ausreichenden Mengen. Man sagt immer, es geht aufwärts, aber dieses Jahr gab es nur sehr wenig Eier und Geflügel und wenn, dann nur mit stundenlangem Anstehen.
(Stimmungsbericht vom 29. Februar 1952)

*

Ein allseitiger Wunsch ist, daß die Margarine bei der HO billiger werden soll. Viele Menschen kaufen die Margarine im Westsektor, obwohl ihnen die Qualität der HO-Margarine (die nach ihrer Meinung schlechter sein soll) genügen würde, wenn der Preis der gleiche wäre.
     Weiter wünschen die Berliner, daß es mehr Milch auf die Karten der größeren Kinder bzw. billigere Frischmilch oder bessere und billigere Trockenmilch in der HO gäbe. [...] Die Bevölkerung von Köpenick moniert, daß andere Bezirke mit guten Konsum-Fischen beliefert werden, während ihr fast ausschließlich grüne Heringe und Bücklinge angeboten werden. Ein allgemeiner Wunsch der Bevölkerung ist es, auf Fischmarken wieder Wurstwaren beziehen zu können.

Auch bei der HO macht das fehlende Einwickelpapier noch immer Sorgen und Ärger.
(Stimmungsbericht vom 17. März 1952)

*

Die Gemüseversorgung ist noch immer unzureichend. Wenn auch fast überall Mohrrüben angeboten werden, so verlangen die Hausfrauen doch Abwechselung. In den sich bildenden Käuferschlangen gab es Diskussionen, in denen die Verärgerung der Anstehenden darüber zum Ausdruck kam, daß die privaten Händler nicht mit Gemüse beliefert worden waren, daß ihre Läden leer waren, während die Anstehenden ihre Zeit mit Warten vertun mußten.
     Zwiebeln fehlen überall. Viel gefragt werden von der Bevölkerung Linsen, Erbsen, weiße Bohnen und getrocknete grüne Bohnen.
     Schlecht ausgewirkt hat sich das Fehlen von HO-Fleisch- und Wurstwaren in den HO-Spezialgeschäften und bei ihren privaten Vertragspartnern am Monatsende, als die Fleischmarken von der Bevölkerung bereits aufgebraucht waren. In der Umgebung dieser Geschäfte gab es heftige Diskussionen darüber, daß unsere Schwerarbeiter und Aktivisten auf die ihnen zustehende kräftige Kost verzichten müssen, während die Westberliner diese Waren aufkaufen.

BlattanfangNächstes Blatt

   87   Geschichte und Geschichten Interne Berichte  Voriges BlattArtikelanfang
Auch jetzt ist die Nachfrage seitens der Bevölkerung nach Fleisch- und Wurstwaren sehr groß, zumal das Osterfest bevorsteht und ein großer Teil seine Fleischmarken hierzu aufspart, da ja gerade für die Feiertage zusätzlich Fleisch verlangt wird.
(Stimmungsbericht vom 5. April l952)

*

Größere Diskussionen gibt es in der Bevölkerung über die Belieferung mit Fisch auf Fleischmarken. Immer wieder wird der Wunsch laut, daß Fische nunmehr frei bezogen werden können oder aber zumindest ein anderes Abgabenverhältnis festgelegt wird. So teilt die Abt. Handel und Versorgung des Bezirkes Lichtenberg folgendes Beispiel mit: Eine Familie bezieht für ihre Marken 960 g Flundern. Nachdem Köpfe, Schwänze und Flossen abgeschnitten und das Innere herausgenommen wurde, verbleiben von den 960 g nur noch 350 g, von denen nun noch die Gräten abgehen. Die Familie hätte demnach für 2,- DM 350 g Fische. Für dieses Geld hätte sie sich in der HO Fleisch kaufen können. Rentner und Werktätige mit geringerem Verdienst, die keine zusätzlichen Lebensmittel in der HO kaufen können, schneiden also unvorteilhaft dabei ab.
(Stimmungsbericht vom 3. Mai 1952)

*

Im Bezirk Pankow werden Beschwerden über den schlechten Zustand der zum Verkauf kommenden Butter laut.

Bei einer Rücksprache mit der BHZ wurde festgestellt, daß der Zustand der Butter bekannt war, und erklärt, daß es sich um Butter handele, die aus der Sowjet-Union kommt und zu lange in den Kühlhäusern lagerte. [...]
     Die Gemüseversorgung ist zur Zeit ungenügend, ebenfalls wird aus dem Bezirk Friedrichshain mitgeteilt, daß die Fischbelieferung auf Marken für den Monat Mai nur ca. 55 % betrug und die Fischmarken aus diesem Grunde um 8 Tage verlängert werden mußten. Die bei den Fischhändlern vorhandenen Salzheringe werden von der Bevölkerung abgelehnt.
(Stimmungsbericht vom 3. Juni 1952)

Anmerkung:
1 Der sowjetische Metallarbeiter Pawel Bykow stellte im Zuge der Kampagne »Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen« seine Schnelldrehmethode im Dezember 1950 im VEB Bergmann-Borsig und im VEB EAW Treptow vor.

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/1996
www.berlinische-monatsschrift.de