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Eberhard Fromm
Heinrich von Treitschke - vom Liberalen zum Ultra-Konservativen

»Es gibt wohl kaum einen deutschen Historiker, der so viel gelesen wurde und dessen Vorlesungen eine so große Anziehungskraft ausübten wie Heinrich von Treitschke«, heißt es in einer Skizze zu Treitschke von Georg Iggers aus dem Jahre 1971. Gemessen an dieser kaum übertriebenen starken und anhaltenden Wirkung ist die Literatur über Treitschke geradezu lächerlich gering. Das hat wohl verschiedene Gründe. Die Wissenschaft geht distanziert mit ihm um, weil er für sie mehr einen politischen Geschichtsschreiber als einen forschenden Historiker repräsentiert und weil sich viele seiner Kernauffassungen als verheerend für die weitere Entwicklung in Deutschland erwiesen haben. Und jene Richtung der Politik, die ihm so am Herzen lag, hat einen derart grausamen Abschluß gefunden, daß kein auf Erfolg bedachter Politiker der Gegenwart einen positiven Bezug zu Treitschke herzustellen wagt. Und doch rumoren das Geschichtsbild und die Politikauffassungen Treitschkes weiter, so daß Schweigen keineswegs die beste Lösung ist.


Deshalb geht es hier anläßlich des 100. Todestages Treitschkes nicht um irgendeinen Versuch von Ehrung, sondern darum, die Aufmerksamkeit auf eine der wichtigsten Quellen zu lenken, aus denen reaktionäre Ideen bis heute gespeist werden.

Der Apostel einer Gewaltpolitik

Heinrich Gotthard von Treitschke wurde am 15. September 1834 in Dresden in einer Offiziersfamilie geboren. Der Vater beendete seine militärische Laufbahn als General und Kommandant der Festung Königstein.
     Treitschke, der seit seinem achten Lebensjahr infolge einer schweren Erkrankung an einer zunehmenden Taubheit litt, wählte den akademischen Bildungsweg. Nach dem Studium der Geschichte, der Nationalökonomie und der Staatswissenschaften an den Universitäten in Bonn, Leipzig, Tübingen und Freiburg verteidigte er 1854 seine Dissertation »Über die Produktivität der Arbeit« und 1858 die Habilitation zum Thema »Die Gesellschaftswissenschaften«. Er lehrte an den Universitäten in Leipzig, Freiburg, Kiel und Heidelberg, bis 1874 seine Berufung an die Berliner Universität erfolgte.
     Treitschke hatte in diesen Jahren eine deutliche Wendung vom Liberalen und Bismarckgegner zum konservativen Bismarckanhänger vollzogen.

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In seinen frühen Artikeln in den »Preußischen Jahrbüchern«, deren Redakteur er 1866 wurde, umriß er mit großem Nachdruck die Ideale eines freien Staates und einer freien Persönlichkeit, so daß sein Freund aus den Leipziger Jahren, der Schriftsteller Gustav Freytag, eine besondere Verknüpfung von Ethos und Pathos bei Treitschke hervorhob. Seit Ende der 60er Jahre, vor allem aber mit der Reichsgründung 1871, wandelten sich die Positionen Treitschkes, bis er zum energischsten Wortführer des neuen deutschen Reiches wurde. »Es war nicht unberechtigt«, meint Georg Iggers in seiner Skizze über Treitschke, »daß das Ausland in ihm 1914 den Theoretiker des deutschen Imperialismus und den Apostel einer Gewaltpolitik sah.« Sowohl als Professor an der Berliner Universität als auch als Reichstagsabgeordneter, der er zwischen 1871 und 1884 war, wirkte er sehr direkt auf die herrschenden Kreise im Kaiserreich, auf die akademische Jugend und damit auf die Generationen ein, die die zukünftige deutsche Politik bestimmten.
     Nach dem Tode Leopold von Rankes 1886 wurde Treitschke dessen Nachfolger als »Historiograph des preußischen Staates«. 1895 erfolgte seine Aufnahme in die Berliner Akademie der Wissenschaften, ein Akt, gegen den sich nicht wenige Akademiker lange Zeit gewehrt hatten. Am 28. April 1896 starb Heinrich von Treitschke in Berlin.
Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Alten Kirchhof der St.-Matthäus-Gemeinde in der Großgörschenstraße 12-14 / Monumentenstraße (Schöneberg). 1906 erhielt eine Straße in Steglitz seinen Namen.

»... zum ersten Macht, zum zweiten Macht ...«

Treitschkes Denken kreist von Anfang an um Grundfragen der Politik, so daß man ihn wohl durchaus als einen Vorläufer der modernen Politikwissenschaft ansehen kann. Dabei treten in seinen Arbeiten - den Aufsätzen in den »Preußischen Jahrbüchern«, den verschiedenen Sammlungen seiner Reden und Aufsätze sowie seinem unvollendet gebliebenen Hauptwerk, der fünfbändigen »Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert« - einige Kerngedanken in verschiedenen Variationen, aber doch mit gleichbleibender Stoßrichtung auf. An der Spitze steht zweifellos die Betonung der Rolle der Macht im Politischen. Der Staat ist für ihn seinem Wesen nach »zum ersten Macht, zum zweiten Macht und zum dritten nochmals Macht«, und der Kern jeder Politik ist demnach Machtpolitik. Damit verbunden wird die Forderung nach einem starken Machtstaat, der sich nach innen und außen gleichermaßen durchsetzen kann - mit allen Mitteln, auch und gerade mit Gewalt.

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So ist es nicht verwunderlich, daß Treitschke außenpolitisch für Annexionen - wie im Falle von Elsaß und Lothringen -, für eine energische Kolonialpolitik und eine neue Weltgeltung Deutschlands - mit einem deutlichen »Feindbild« England - eintritt und den Krieg als sittlich gerechtfertigt verteidigt. Seine deutsch-nationalen Tiraden tragen militante und chauvinistische Züge. Theobald Ziegler mußte bereits 1916 in seiner Arbeit »Die geistigen und sozialen Strömungen im 19. und 20. Jahrhundert« die Folgen des »nationalen Machtbewußtseins« bei Treitschke erkennen: »Unter seinem Einfluß ist das patriotische Empfinden der Jugend bis zu einem uns Deutschen bis dahin fremden Höhegrad gestiegen; es ist nicht ohne seine Schuld viel >Rausch und Phrase< in dasselbe hineingekommen ...«
     Innenpolitisch bekämpft Treitschke alles, was den preußisch bestimmten deutschen Staat schwächen könnte, vor allem die im Vormarsch befindliche Sozialdemokratie und deren intellektuelle Unterstützer, die er in den Reihen der »Kathedersozialisten« ausmacht. Dabei wird wiederum sichtbar, wie konsequent er das Soziale dem Politischen unterordnet und damit eine Aristokratisierung aller Lebensbereiche begründen kann.
     Schließlich erlangt Treitschke traurige Berühmtheit und verheerende Wirkung mit seinem Bekenntnis zum Antisemitismus. Fast zeitgleich mit der Eröffnung des antisemitischen Feldzuges durch den Hofprediger Adolf Stoecker veröffentlicht Treitschke 1879 einen Artikel
»Unsere Ansichten« - dem weitere folgen sollten -, mit dem er seine Angriffe auf die Juden beginnt. Im dadurch ausgelösten Berliner Antisemitismus-Streit trat zwar eine Reihe namhafter Berliner Wissenschaftler wie die Historiker Mommsen und Droysen oder der Naturwissenschaftler Virchow öffentlich gegen Treitschke auf, doch die offiziellen Ehrungen - Historiograph des preußischen Staates, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Herausgeber der »Historischen Zeitschrift« - fallen in die Zeit, nachdem Treitschke das unverantwortliche, durch nichts zu entschuldigende Wort »Die Juden sind unser Unglück« geprägt hatte. Der Antisemitismus war also nicht nur Teil des Zeitgeistes - und wie Dreyfus zeigte, nicht allein in Deutschland -, er war offiziell zumindest toleriert, wenn nicht gar mehr.
     Nimmt man das schon zu seinen Lebzeiten umstrittene Werk Treitschkes sowie seine tatsächliche Wirkung und betrachtet beides aus der Sicht von heute, mit den Erfahrungen deutscher Geschichte nach dem Tode Treitschkes, dann kann man wohl nicht einfach von Fehlurteilen, historischen Irrtümern oder polemischen Einseitigkeiten sprechen - obwohl es das alles natürlich bei ihm gibt. Die Grundlinie seines Verständnisses deutscher Geschichte und die Konsequenzen, die er daraus für die Politik und die handelnden Menschen gezogen hat, waren und bleiben für das Leben des deutschen Volkes - wie auch aller anderen Völker - verderblich und lebensgefährlich.
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Denk-Anstößiges:

Wir wollen nicht die Zentralisation der Bildung, doch es scheint uns eine selbstverständliche Forderung, daß in der deutschen Hauptstadt die anerkannt beste Hochschule Deutschlands bestehe. Selbst in unserem dezentralisierten Lande muß die geistige Luft der Hauptstadt auf die Dauer folgenreicher werden für das Leben der Nation. Keine deutsche Hochschule ist so notwendig, so naturgemäß entstanden wie die Berliner; sie war durch den regen geistigen Verkehr der Stadt längst vorbereitet, bevor sie gegründet wurde. Nun drängt sich heute durch das aufblühende Berlin der mächtige Wettkampf wirtschaftlicher Arbeit; unsere Hauptstadt soll nicht zu einem New York werden, sie bedarf der tüchtigen geistigen Kräfte, um jener Welt des Erwerbes, dem Luxus und der frivolen Spötterei das Gleichgewicht zu halten ...
     Der höchste ästhetische Reiz Berlins liegt in dem Zauber einer kurzen und reichen Geschichte; von dem alten bescheidenen Markgrafenschlosse am Spreeufer bis zu dem Schauspielhause vertreten monumentale Bauten würdig jede große Epoche der Monarchie. Erst seit dem Tode Friedrich Wilhelms III. ist dem Staate kein schöner Prachtbau mehr gelungen ... Soll von den jüngsten zehn Jahren, den größten, die Preußen je gesehen, kein edles Kunstwerk der Nachwelt Kunde geben?
Aus: Die Aufgaben des neuen Cultusministers, 1872

 

Wer aber die Geschichte nicht meistern, sondern bescheiden von ihr lernen will, der beginne mit der Erkenntnis, daß die Natur alle ihre Geschöpfe ungleich bildet ... Die Kraft ringt mit der Kraft, wo der Kleine dem Großen im Wege steht, da wird er gebändigt. An diesen notwendigen Kämpfen haftet nicht mehr Unrecht, nicht mehr tragische Schuld als an jeder Tat unseres sündhaften Geschlechts. Daß der Starke den Schwachen bezwingt, ist die Vernunft jenes frühen Lebensalters der Menschheit, wie es die Vernunft des Kindes ist zu spielen und um den kommenden Tag nicht zu sorgen. Jene Hungerkriege, die wir noch heute unter den Negerstämmen erleben, sind innerhalb der wirtschaftlichen Zustände Inner-Afrikas ebenso notwendig, ebenso berechtigt, wie der heilige Krieg, den ein edles Kulturvolk zur Rettung der höchsten Güter seiner nationalen Gesittung führt. Hier wie dort wird um das Dasein gekämpft, hier um das sittliche, dort um das natürliche Leben ...
     Die bürgerliche Gesellschaft eines reichen Volkes ist immer eine Aristokratie, auch unter demokratischer Staatsverfassung. Oder, um ein sehr verhaßtes aber wahres Wort trocken auszusprechen - die Klassenherrschaft, richtiger: die Klassenordnung, ergibt sich ebenso notwendig aus der Natur der Gesellschaft, wie der Gegensatz von Regierenden und Regierten aus der Natur des Staates.

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     ... Die Persönlichkeit eines gereiften großen Volkes kommt nicht zur allseitigen Durchbildung ohne starke soziale Gegensätze ...
     Die Lehre von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zerreißt mit plumper Faust die vielgegliederte Einheit der Gesellschaft ... Bevor man den Massen von ihrer verletzten Menschenwürde redet, soll man ihnen ruhig sagen: zuerst zeiget Euch als Menschen! arbeitet, damit das Gesamtvermögen sich vermehre ...
Aus: Der Sozialismus und seine Gönner, 1874

Wir können uns nicht darüber täuschen, die Sozialdemokratie ist der Rute entwachsen, sie ist zu einer Schule des Verbrechens geworden. Wie einst der notwendige Rechtsbruch der Reformation die Orgien der Wiedertäufer erzeugte, so sind aus den furchtbaren Erschütterungen, welche den Anbruch der deutschen Einheit begleiteten, die Greuel der Sozialdemokratie hervorgegangen; und wir werden viele Jahre lang unserer ganzen sittlichen Kraft bedürfen um diesen Auswuchs der deutschen Revolution zu heilen, gründlicher zu heilen, als es die Söhne des sechzehnten Jahrhunderts vermochten ...
     Die Sozialdemokratie bildet einen Staat im Staate, sie gebietet über ein wohlgeschultes Beamtenheer von tausenden geschäftiger Agenten, sie erhebt regelmäßig Steuern, unterhält eigene Schulen und Bildungsanstalten, sie beherrscht die Gemüter einer völlig abhängigen, für keine andere Einwirkung mehr zugänglichen Masse durch das Machtgebot ihrer Zeitungen.

Es wird höchste Zeit, daß der Staat für längere Zeit die Vereine der Sozialdemokratie schließt, ihre Zeitungen verbietet, ihre Agenten aus den großen Mittelpunkten der Arbeiterbevölkerung ausweist. Diese Menschen trotzen auf die Gewalt der Fäuste und sie verstehen nur die Sprache der Gewalt ...
     Die Sozialdemokratie besteht zum größten Teil aus unreifen Burschen. Die jungen Arbeiter treten zumeist noch unverdorben in die sozialistischen Vereine; ihr Gemüt ist anfangs fast immer nur ein unbeschriebenes Blatt ... In diesen Schichten der Gesellschaft wird das Böse in der Tat erst geschaffen durch die Reden und Schriften der Agitatoren, und es wäre ein offener Gewinn für die Kultur, wenn ein strenges Verbot der sozialistischen Vereine und Schriften den ehrlichen und denkenden Freunden des Volks wieder den Zugang verschaffte zu dem Ohre der Massen, das ihnen heute fast ganz verschlossen ist.
Aus: Der Sozialismus und der Meuchelmord, 1878
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/1996
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