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Karl Seidel
Gewerkschaftshaus in der Wallstraße

Auf der nördlichen Seite der Wallstraße im Bezirk Mitte erstreckt sich von Nummer 61 bis 65 ein sechsstöckiges Bürogebäude, das auch noch einen Teil der Inselstraße und des Märkischen Ufers einnimmt. Im Vergleich zu heutigen Büropalästen wirkt der Bau eher unscheinbar, und doch hat er baugeschichtliche wie politische Bedeutung.
     Der Kernbau Wallstraße Nr. 64/65 und ein Teilabschnitt an der Inselstraße (Nr. 6) wurden 1922/23 nach Entwürfen des Architekten Max Taut (1884-1967), einem Bruder des bekannteren Bruno Taut, als Verwaltungsgebäude des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes errichtet. Der Bau wurde in Formen der »Neuen Sachlichkeit« ausgeführt, zu deren Vertretern Max Taut gehörte. Das Gewerkschaftshaus, einer der ersten größeren Bauten der Nachkriegszeit in Berlin, ist eine der ersten Stahlbetonrahmenkonstruktionen. Für die Entwicklung der modernen Architektur war von großer Bedeutung, daß die Struktur des Stahlbetons als bestimmendes Architekturelement eingesetzt und auf äußerliche Formtradition verzichtet wurde. Das Gebäude sollte sich durch Sachlichkeit und Klarheit auszeichnen.


Die Stahlkonstruktion wurde sichtbar gelassen. Da die U-Bahn das Gebäude unterquert und ein sehr schlechter Baugrund vorhanden war, mußte eine leichte Konstruktionsart angewendet werden. Die Felder zwischen den Stahlbetonrahmen sind nur Füllmauerwerk, z. T. aus Hohlsteinen.
     Die ursprüngliche Planung sah eine Fortführung des Gebäudes an der Inselstraße und am Märkischen Ufer mit einem Eckturm als Haupteingang vor. Fehlendes Geld verhinderte die Ausführung. Die Eckbebauung an Inselstraße und Märkischem Ufer erfolgte erst in den 50er Jahren nach dem Stil des Baues von 1922/23.
     Die ursprünglichen Häuser Wallstraße 62-65 waren von der Hoch- und Untergrundbahngesellschaft im Zusammenhang mit dem U-Bahn-Bau aufgekauft und ebenso wie die Häuser am Märkischen Ufer abgerissen worden.
     1930 bis 1932 erfolgte nach einem Entwurf des Architekten Walter Würzbach der Erweiterungsbau Wallstraße Nr. 61-63, der den Taut-Bau in östlicher Richtung verlängerte. Am Märkischen Ufer wurde ein in anderen Formen gehaltener Gebäudeteil hinzugefügt. Da der tragfähige Baugrund sechs Meter unter dem Gebäude lag, war eine Pfahlgründung erforderlich. Über dem U-Bahn-Tunnel mußte, wie bei dem Taut-Bau, eine komplizierte Abfangkonstruktion errichtet werden. Der Erweiterungsbau wurde als Stahlskelettbau ausgeführt.
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Wie die anderen Gewerkschaftshäuser wurde auch das Gewerkschaftshaus in der Wallstraße, damals Hauptsitz des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, am 2. Mai 1933 von der SA besetzt. Der Antifaschist Kurt Stillmann, der mit seinen Eltern damals in dieser Gegend wohnte, schreibt dazu: »Am 2. Mai 1933 erschienen mehrere große grüne Kommandowagen. Als ich vor die Tür trat, war die ganze Ecke bereits umstellt. Es wurden Papiere rausgetragen und Menschen dirigiert; ein Teil wurde verhaftet. Vater erkannte unter ihnen den ADGB-Vorsitzenden Leipart ... Das Haus wurde in kürzester Zeit >übernommen<.« Das Gewerkschaftshaus in der Wallstraße ging in das Eigentum der nationalsozialistischen »Deutschen Arbeitsfront« über, die im Laufe der Zeit das ganze Geviert, einschließlich des im Kriege zerstörten »Kaufhauses Neu-Kölln« gegenüber dem Märkischen Museum, mit Beschlag belegte.
     Nach 1945 übernahm der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) das Haus. Heute befinden sich die IG Bergbau und Energie, die Betriebskrankenkasse des Landes Berlin und zahlreiche andere Büros in dem Gebäude.

Bildquelle: Archiv LBV


Gewerkschaftshaus in der Wallstraße
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/1996
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